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Falsche Informationen, Kriegspropaganda und wie man sie erkennt

Marcus Bösch

/ 10 Minuten zu lesen

(© Adobe-Stock/DDimaXX )

August 2021. Nur noch wenige Wochen bis zur Bundestagswahl. Nach der Ankündigung der damals amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkels, sich mit der Wahl 2021 aus der Politik zurückzuziehen, ringen Armin Laschet und Olaf Scholz um die Kanzlerschaft. Informationen über die Wahlmodalitäten finden sich auf der Internetseite des Deutschen Bundestages. Wer mag, findet Informationen auch auf dem offiziellen YouTube-Kanal mit damals 71,3K Abonnierenden oder auf dem offiziellen Twitter-Account, dem über 12.000 Menschen folgen. Ebenfalls vorhanden ist damals ein inzwischen gelöschter TikTok-Account des Bundestages (@derbundestag). Über 14.000 Menschen folgen diesem Account. Die gezeigten Videoausschnitte aus Parlamentsreden wurden insgesamt über 130.000 mal geliket. Allerdings hat der Bundestag gar keinen TikTok-Account eingerichtet. Im Rahmen der Arbeit für eine Studie der Mozilla Foundation hat der Verfasser des vorliegenden Dossiers den fraglichen Account entdeckt und bei der Pressestelle nachgefragt. Bei der Pressestelle des Bundestages war kein TikTok-Account des Bundestages bekannt.

Gefälschte TikTok-Accounts von @derbundestag und @frank.walter.steinmeier (beide nicht mehr online) (© Screenshots TikTok)

Beide Accounts sind nicht echt

TikToks Community-Richtlinien verbieten, sich auf betrügerische Weise als eine andere Person oder Organisation auszugeben. Entsprechend der Richtlinien heißt es: „Nicht erlaubt ist: Das Posting als andere Person oder Organisation – das Vortäuschen der Identität einer anderen Person oder Organisation insbesondere durch die irreführende Verwendung des Namens, der biografischen Angaben oder des Profilbilds einer anderen Person oder Organisation.“ Es gibt Ausnahmen für Fan-, Kommentar- oder Parodie-Konten, „solange die Nutzer/-innen in den biographischen Profil-Angaben („Bio“) und im Nutzer/-innennamen angeben, dass es sich um ein Fan-, Kommentar- oder Parodie-Konto handelt und keine Verbindung zu dem betreffenden Subjekt besteht.“ Dies ist hier nicht der Fall. Bei dem vorliegenden Account @derbundestag handelt es sich nicht um ein Fan-, Kommentar- oder Parodie-Konto. Der Account wird verwendet, um politische Propaganda zu verbreiten. Mehrere Details verstärken die Illusion, es handle sich hier um einen offiziellen Account des Deutschen Bundestages. Zunächst die Beschreibung des Accounts: „Deutscher Bundestag / Parlamentarische Sommerpause bis 07.09.“ und ein Link zur offiziellen Website des Bundestages. Weiterhin sind die verhältnismäßig hohen Zahlen bei den Followers und Likes in Betracht zu ziehen. Zudem hat der Account mehr Follower als der offizielle Twitteraccount des Bundestages. Bei den meisten Videos, die der Account gepostet hat, handelt es sich um parlamentarische Reden. Bekannte Gesichter des aktuellen politischen Betriebs wie die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel oder die damalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Claudia Roth tauchen hier auf. Viele der Videoclips scheinen vom Parlamentsfernsehen zu stammen, ein öffentlicher Service des Bundestages, der Livestreams und On-Demand-Angebote zu parlamentarischen Debatten bereithält. Das Parlamentsfernsehen stellt sein gesamtes Bildmaterial kostenlos und rechtefrei Dritten zur Verfügung. Voraussetzung dafür ist, dass die Bilder für Produktionen im Bildungsbereich oder kostenfrei angebotene Informationssendungen verwandt werden. Die Analyse des Accounts zeigt, dass AfD-Politiker/-innen und deren Botschaften prominent gefeatured werden. Die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) besetzt nach der Bundestagswahl 2017 86 der 709 Sitze im deutschen Parlament. Von 77 Videos, die der Account @derbundestag zwischen dem 7. April und dem 10. August gepostet hat, haben 42 (55%) eine/n AfD-Politiker/-in als Hauptredner/in. Bei 18% der Videos findet sich ein/e Politiker/in der CDU, 10% beinhalten eine/n Politiker/-in der Partei Die Linke, 9% SPD, 5% FDP und 5% Bündnis 90/Die Grünen. Einige Videos zeigen mehrere Politiker/-innen. Einige Videos zeigen Politiker/-innen, die nicht der AfD angehören, aber auf Themen reagieren, die von Vertreter/-innen der AfD ausgehen. Nur zwölf Videos von 77 haben keinen direkten und klar identifizierbaren Zusammenhang zur AfD. Zum besseren Verständnis: Die AfD hält seit der Bundestagswahl 2017 12,6% der Sitze im Parlament. Wenn es sich hier um einen offiziellen Account des Deutschen Bundestages handeln würde, ginge man sicherlich von einer deutlich ausbalancierteren Verteilung der Redebeiträge aus. Wer den Account aufgesetzt hat und betreibt, bleibt unklar. TikTok löscht ihn nach der Veröffentlichung der Recherche. Es ist nicht der einzige Account im Vorfeld der Bundestagswahl, der unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Informationen verbreitet. Ergänzend zum Account @derbundestag wurden weitere gefälschte Nutzer/-innenkonten identifiziert. Einer dieser Accounts (@frank.walter.steinmeier), der am 26. Juli entdeckt wurde, gab vor, der Account des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zu sein. Mit mehr als 3.000 Followern und 72,3K Likes hatte der Account eine deutlich höhere Reichweite als andere einfach zu identifizierende Fake-Accounts (@frankwaltersteinmaier, @federalgermanpresident, @frankwaltersteinmeier88) mit sehr wenigen Followern. Der Account @frank.walter.steinmeier postete Videos, die das deutsche Militär verherrlichen und offenbar zum Teil von der Firma BTB stammen, die sich unter anderem auf das Filmen militärischer Veranstaltungen spezialisiert hat. TikTok hat diesen Account gelöscht. Es blieb aber unklar, wie lange der Account online war, wer ihn betrieben hat und welche Auswirkungen er auf deutsche TikTok-Nutzer/-innen hatte.

Damit handelt es sich bei den genannten Accounts klar um Desinformationsaccounts. Nach Fallis wird Desinformation als eine beabsichtigt falsch weitergegebene Information definiert, die die Funktion und das Ziel hat, irreführend zu sein (Täuschungsabsicht). Desinformationen verfolgen ein bestimmtes Ziel (z.B. Staatspropaganda) und bringen einen systematischen Nutzen für ihre Urheber/-innen mit sich (z.B. Verbreitung von Verschwörungstheorien (Fallis, 2015)) . Falschinformationen und Täuschungsversuche gibt es, seit Menschen zusammen Zeit verbringen. Trotzdem wird das Thema Desinformationen unter diesem Begriff erst seit 2017 in den Sozialwissenschaften umfassend erforscht (Freelon & Wells, 2020). In Abgrenzung zum Desinformationsbegriff definieren Wardle und Derakshan (2017 ) Misinformation (deutsch: Fehlinformationen) als irreführende und falsche Informationen, bei denen die Personen, die sie weitergeben, sich jedoch nicht darüber im Klaren sind, dass sie falsch oder irreführend sind. Es fehlt die Täuschungsabsicht. Auf TikTok – wie auf allen anderen Plattformen auch – finden sich zahllose Mis- und Desinformationen zu diversen Themen. Die Forschung in diesem Bereich befindet sich noch am Anfang, erste Untersuchungen gibt es unter anderem zu den Themen psychische Gesundheit , politische Wahlen und zur Verbreitung von falschen Informationen im Kontext Covid19 . Während der Pandemie stellten Shang et al. (2021) fest, dass die häufigsten Arten von Fehlinformationen auf TikTok Verschwörungstheorien, falsche Heilmittel und falsche Informationen über Covid-19-Tests waren. Diese Fehlinformationen wurden durch die Kerntechnik der Plattformen verstärkt, die es ermöglicht, Inhalte wiederzuverwenden und neu zu mischen, z. B. durch das "Duettieren" – das Einstellen des eigenen Videos Seite an Seite mit einem Video eines anderen Urhebers – oder das "Stitching" – die Möglichkeit, Szenen aus dem Video anderer auszuschneiden und sie in das eigene Video zu integrieren.

Im Jahr 2022 hat der russische Angriffskrieg in der Ukraine TikTok in einen von vielen unerwarteten zentralen Ort für die Verbreitung von Fehlinformationen und Desinformationen verwandelt. Bereits in den ersten Stunden der Invasion wurde die Plattform mit einer verwirrenden Mischung aus Propagandavideos, falschen Augenzeugenberichten und Fehlinformationen geflutet. In den ersten drei Monaten nach dem Angriff am 24. Februar wurden Videos unter dem Hashtag #Ukraine 36,9 Milliarden Mal aufgerufen, wobei einzelne Videos bis zu 88 Millionen Mal angeklickt wurden. Der Algorithmus spülte interessierten Nutzer/-innen immer mehr Kriegsinhalte auf die „For You Page”. Zu sehen gab und gibt es hier unter anderem Videomaterial, das eigentlich aus Computerspielen oder völlig anderen Kontexten , wie beispielsweise einer Truppenübung aus dem Jahr 2016 , stammt.

Die Motivation, mit der Nutzer/-innen nachweislich Falschinformationen teilen, scheint unterschiedlich. Mit gefälschten Livestreams und der Möglichkeit so genannter Micro-Donations, also Zahlungsanweisungen via App, wurden zum Teil in betrügerischer Absicht Notlagen vorgetäuscht, um an Spenden zu gelangen. Andere verwendeten die auf der App beliebte Funktion, Audios anderer Nutzer/-innen mit neuem Videomaterial zu versehen, um vorzutäuschen, dass sie sich selbst im Kriegsgebiet befinden würden. Über die genauen Gründe kann hier nur spekuliert werden: Geltungssucht durch Likes und Anteilnahme, eine Überidentifikation mit Betroffenen oder einfach eine sträflich naive Nutzung bekannter Features der Plattform?

TikTok-Videos von @kcseny, @inyanprank, @yarra_m (zuletzt abgerufen am 23.06.2023) (© Externer Link: @kcseny, Externer Link: @inyanprank, Externer Link: @yarra_m)

Kriegspropaganda auf TikTok

Im Laufe des Konflikts erwies sich TikTok gleichsam als „die zuverlässigste Quelle, die wir haben” und als Epizentrum von Mis- und Desinformation. Neben zum Teil unwissend geteilten Falschinformationen nutzen auch die Konfliktparteien die App zur bewussten Streuung von Desinformationen. Seit Beginn des Krieges verstehen der ukrainische Präsident und sein Team es sehr gut, Informationen auf Social-Media-Kanälen, Content-Plattformen wie TikTok oder Messengerdiensten zu platzieren. Bei dem Krieg handelt es sich auch um einen Informationskrieg. So wird beispielsweise die Legende des sogenannten „Geists von Kiew“ lanciert. Bei dem Geist handelt es sich angeblich um den ukrainischen Piloten einer MiG-29, der 10 Flugzeuge der russischen Streitkräfte abgeschossen haben soll. Videos dazu werden viral geteilt. Auch der Inlandsgeheimdienst der Ukraine verbreitet die Meldung , bis die ukrainische Luftwaffe Anfang Mai 2022 mitteilt, es habe den Geist nie gegeben .

Russisch kontrollierte Medien fluten TikTok mit Desinformationen, berichtet das Institute for Strategic Dialogue. Auch nachdem TikTok den Upload neuer Videos aus Russland unterbunden hatte, posteten einige Accounts wie RIA Novosti und die Chefredakteurin von RT (Russia Today), Margarita Simonya, weiter, bevor die meisten Accounts Anfang Mai 2022 gesperrt wurden.

Neben der Kontrolle der russischen Medien umfasst der Informationskrieg des Kreml auch andere Spielarten der Desinformation. So gibt es beispielsweise koordinierte Aktionen unter Einbindung von russischen Creator/-innen, wie unter anderem Vice berichtet. Über 180 russische Influencer/-innen auf TikTok sind an einer konzertierten Propagandakampagne mit der Überschrift „Russian Lives Matter“ beteiligt, berichtet die amerikanische Nichtregierungsorganisation Media Matters . Die Influencer/-innen nutzen auf der App beliebte Songs, um beispielsweise eine Choreografie zu performen, die im Zeigen eines aus zwei Händen geformten Buchstabens „Z“ mündet. Dieser steht für die russische Invasion und soll mittels TikTok ganz offenbar Eingang in die Popkultur und Lebensrealität einer jüngeren Zielgruppe finden und von dieser nachgeahmt werden . Zudem gibt es Videos, in denen russische Influencer/-innen Botschaften verkünden, die in weiten Teilen Wort für Wort deckungsgleich mit der Regierungspropaganda sind und offenbar vorher via Telegram-Channel verteilt wurden . Über den Erfolg dieser Kampagnen kann man zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren. Aber allein die Tatsache, dass TikTok mit diesem Aufwand bespielt wurde und wird, zeigt die Relevanz, die die Plattform inzwischen auch im politischen Kontext hat.
Auch anderthalb Jahre nach der Invasion 2022 finden sich auf TikTok zahllose Kriegsvideos und falsche Informationen. Da die Plattform es nicht schafft, hier Einhalt zu gebieten, ist es dringend empfohlen, mit Grundkenntnissen der Plattform Mis- und Desinformationen zu erkennen. Eine erste Hilfe bietet hier der TikTok Content Check der Amadeu Antonio Stiftung . Denn die Botschaft eines TikTok-Videos ergibt sich nicht selten erst durch das Zusammenspiel vieler unterschiedlicher Kommunikationsebenen, wie Sprache, Mimik, Gestik, Filter, Sounds, etc. Der Content Check basiert auf einer genaueren Untersuchung der einzelnen Bestandteile eines Videos. So lässt sich zum Beispiel durch das Antippen des verwendeten Sounds schnell und einfach herausfinden, ob es sich hier um einen Originalsound handelt oder ob der verwendete Sound bereits in dutzenden oder gar hunderten oder tausenden Videos benutzt wurde. Während dies vollkommen üblich ist, wenn Nutzer/-innen auf der Plattform eine Tanz-Challenge performen, deutet die Verwendung eines Sounds bei dem beispielsweise Schüsse oder andere Kriegsgeräusche zu hören sind, auf beabsichtigt oder unbeabsichtigt angefertigte und verbreitete Falschinformationen hin. Auch eine Kontextanalyse des Accounts der ein Video veröffentlicht hat, bringt rasch Erkenntnisse. Vorsicht ist geboten, wenn ein Account erst unmittelbar nach beispielsweise einem Terroranschlag oder ähnlichem aufgesetzt wurde. So sind Accounts ukrainischer junger Menschen, die über ihren Kriegsalltag posten, deutlich glaubwürdiger, wenn sich nachverfolgen lässt, dass die Personen auch schon von der Invasion gepostet haben und das Gesamtbild der Videos kohärent erscheint. Natürlich lässt sich mit diesem Kurzcheck ein Account nicht abschließend verifizieren, er schärft aber das Bewusstsein für einen kritischen Umgang mit der App und Informationen im Allgemeinen. So sollten Fragen wie: „Was sehe ich hier eigentlich? Kann ich diese Informationen überprüfen? Wer hat das mit welchem Interesse gepostet?“ zum täglichen Nachrichtenkonsum dazugehören. Vor allem wenn er auf einer Plattform stattfindet auf der jede und jeder mit einem Smartphone beliebige Informationen posten kann.

Für alle, die tiefer in die Recherche und Verifizierung auf TikTok einsteigen wollen, empfiehlt es sich, auf der Website von Bellingcat weiterzulesen. Die in Niederlanden ansässige Gruppe für investigativen Journalismus, die sich auf Faktenprüfung und Open-Source-Informationen (OSINT) spezialisiert hat, hat hier Externer Link: https://www.bellingcat.com/resources/2020/05/25/investigate-tiktok-like-a-pro/ und hier umfassend über die Recherche auf TikTok geschrieben.

Weitere Inhalte

Marcus Bösch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HAW Hamburg und forscht zu TikTok, politischer Kommunikation und Desinformation. Er veröffentlicht den wöchentlichen Newsletter Externer Link: Understanding TikTok.