Einleitung
Die Sozialpartnerschaft spielt in Deutschland eine herausragende Rolle. Auf den unterschiedlichsten Ebenen findet das gestaltende Miteinander zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften mit dem Ziel statt, Interessengegensätze durch Konsenspolitik zu lösen. Zum Beispiel auf betrieblicher Ebene, wo eine Beteiligung der Arbeitnehmer in betrieblichen Angelegenheiten über die von ihnen gewählten Betriebsräte stattfindet. Auf Unternehmensebene sind ab einer bestimmten Unternehmensgröße Arbeitnehmer in den Aufsichtsorganen vertreten. Daneben arbeiten die Sozialpartner auf unterschiedlichsten regionalen Ebenen, auf Bundesebene, aber auch in Europa ständig zusammen - in Form gemeinsamer Positionierungen, Initiativen, Aktionen oder des sozialen Dialogs. Sie widmen sich den grundlegenden Orientierungsfragen der Menschen und beteiligen sich an Werte- und Systemdebatten.
Gegenstand der Betrachtungen soll im Folgenden eine besondere Form der Sozialpartnerschaft sein: die Tarifpartnerschaft. Deren zentrale Bedeutung kommt bereits darin zum Ausdruck, dass sie mit der Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes dem besonderen Schutz der Verfassung unterstellt wurde.
Tarifpartnerschaft als maßgebliche Ordnungsgröße
Die Tarifautonomie in Deutschland ist eine Erfolgsstory und hat sich zu einer tragenden Säule der Sozialen Marktwirtschaft entwickelt. Arbeitgeber beziehungsweise Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sind wie niemand sonst in der Lage, die wirtschaftliche Situation ihrer Branche oder ihres Unternehmens einzuschätzen und für beide Seiten tragbare Regelungen zu treffen. Die staatsferne Gestaltung verhindert, dass es zum Wegfall von Arbeitsplätzen kommt, weil Unternehmen bestimmte Arbeitsbedingungen nicht verkraften können. Gleichzeitig ist die angemessene Beteiligung der Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Erfolg gewährleistet. Beides wird durch das Kräftegleichgewicht zwischen den Tarifpartnern sichergestellt. Fast 73.000 gültige Tarifverträge sind ein Beleg für ein differenziertes System von Arbeitsbeziehungen, das die unternehmerische Effizienz und die soziale Teilhabe der Arbeitnehmer in Einklang bringt.
Verbandstarifverträge gibt es inzwischen für mehr als 300 verschiedene Wirtschaftsbereiche und wegen regionaler Untergliederungen für mehr als 1.100 Tarifbereiche. Fast 10.000 Unternehmen wenden Firmentarifverträge an. Tarifverträge sind damit nach wie vor die prägende Ordnungsgröße der Arbeitsbeziehungen in Deutschland. In insgesamt 62 Prozent aller Betriebe mit 81 Prozent der Beschäftigten finden Tarifverträge unmittelbar oder mittelbar durch arbeitsvertragliche Bezugnahme auf den Tarifvertrag Anwendung.
Veränderte Bedingungen
So beeindruckend diese Zahlen auch sind: Ein Vergleich mit der Vergangenheit zeigt, dass insbesondere seit Mitte der 1990er Jahre die Tarifbindung zurückgegangen ist. Erst in den vergangenen Jahren haben sich die Zahlen stabilisiert. Gleiches gilt für den Organisationsgrad der Koalitionen. Vor allem die Gewerkschaften mussten erhebliche Mitgliederverluste hinnehmen. Hatten sie im wiedervereinigten Deutschland noch mehr als zehn Millionen Mitglieder, sind zwanzig Jahre später mit gut sechs Millionen noch etwas mehr als die Hälfte übrig. Damit liegt der Organisationsgrad, gemessen an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, bei etwas mehr als 20 Prozent.
Aber auch der Druck auf die Arbeitgeberverbände hat zugenommen. Durch die von vielen Verbänden geschaffene Möglichkeit, auch ohne Tarifbindung Mitglied werden beziehungsweise bleiben zu können (sogenannte OT-Mitgliedschaft), konnten viele Unternehmen zumindest weiter an den jeweiligen Verband gebunden werden. Die Freiheit, sich nicht in einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband zu organisieren, gehört aber auch zur Tarifautonomie. Gleichwohl stellt sich die Frage, warum von Unternehmen die Entscheidung zum Teil auch gegen und nicht für die unmittelbare Tarifbindung getroffen wird. Aus Arbeitgebersicht lassen sich einige immer wiederkehrende Kritikpunkte hervorheben, die dabei eine Rolle spielen dürften.
Ein Vorwurf lautet, der Tarifvertrag sei zu teuer. Dazu ist allerdings festzustellen, dass die Tarifabschlüsse insbesondere in den vergangenen Jahren in den meisten Branchen moderat waren. Nicht umsonst wird von der Bundesregierung, dem Sachverständigenrat und den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten
Neben den Kosten ist es mangelnde Flexibilität, die von Kritikern vor allem dem Flächentarifvertrag angekreidet wird. Dieser werde den Bedürfnissen der einzelnen Betriebe nicht in ausreichendem Maße gerecht. Dafür mag es sicherlich Belege geben. So mancher Tarifvertrag ist noch nicht im notwendigen Umfang an die veränderten wirtschaftlichen Realitäten angepasst, verlangt vielleicht sogar noch den sprichwörtlichen Heizer auf der E-Lok. Aber in Sachen Flexibilität und Differenzierung wurden in vielen Branchen erhebliche Fortschritte erzielt. Betrieblich gestaltbare Einmalzahlungen, Öffnungsklauseln für abweichende betriebliche Lösungen und Ergänzungsvereinbarungen sind heute in vielen Bereichen selbstverständlich.
Gerade durch Anpassungen in Sachen Kosten und Flexibilität haben die Tarifpartner unter den besonderen Herausforderungen der Wirtschaftskrise gezeigt, wie durch verantwortungsvolles Handeln Unternehmen und Beschäftigung gesichert werden können. Mit betrieblichen Bündnissen, in den meisten Fällen von den Gewerkschaften getragen, oder anderen Formen der Abweichung vom Flächentarifvertrag konnten Betriebe entlastet werden, die mit dramatischen Auftragseinbrüchen zu kämpfen hatten. Auch auf der Ebene des Flächentarifvertrags wurden Betriebe im Interesse von Beschäftigung entlastet.
Entwicklung in der Rechtsprechung
Anlass zur Sorge geben aktuelle Entwicklungen im Tarifrecht, dem rechtlichen Rahmen der Tarifpartnerschaft. Höchstrichterliche Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) rütteln an den Grundfesten der Tarifautonomie. Der Gesetzgeber selbst war im Tarifrecht zurückhaltend und hat sich auf wenige Regelungen im Tarifvertragsgesetz beschränkt.
Der Erfolg der Tarifautonomie beruht maßgeblich auf dem sozialen Frieden, der den Betrieben durch den Flächentarifvertrag garantiert wird. Arbeitgeber haben während der Laufzeit eines Tarifvertrags die Sicherheit, grundsätzlich keinen Arbeitskämpfen ausgesetzt zu werden. Durch die Rechtsprechung des BAG gerät diese Friedenspflicht in Gefahr. Mit der Anerkennung sogenannter Unterstützungsstreiks zur Durchsetzung fremder Tarifziele kann ein Arbeitgeber selbst dann bestreikt werden, wenn er gar nicht verhandelt und damit die Forderung der streikenden Gewerkschaft auch gar nicht erfüllen kann.
Schließlich ist die vom 4. Senat des BAG angestrebte Abkehr vom jahrzehntelang anerkannten Grundsatz, dass in einem Betrieb immer nur ein Tarifvertrag Anwendung finden kann, für die Praxis von weitreichenden Folgen.
Vor diesem Hintergrund muss sich der Gesetzgeber fragen lassen, ob er seiner Verantwortung gerecht wird, wenn er die Ausgestaltung des Tarif- und Arbeitskampfrechts in weiten Teilen den Gerichten überlässt. Die Tarifpartner und die Tarifautonomie brauchen einen verlässlichen Ordnungsrahmen. Um englische Verhältnisse der 1970er Jahre zu verhindern, ist es in einem ersten Schritt notwendig, den Grundsatz der Tarifeinheit, wie er jahrzehntelang von der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt worden ist, im Tarifvertragsgesetz zu verankern.
Tarifpartnerschaft im Wandel der Politik
Seit Jahren wird die Tarifautonomie von Teilen der Politik in Frage gestellt. Immer wieder werden gesetzliche Mindestlöhne und damit ein Eingriff in die tarifautonome Gestaltung der Arbeitsbeziehungen gefordert. Anders als andere Länder mit gesetzlichen Mindestlöhnen verfügt Deutschland aber über ein funktionierendes, historisch gewachsenes Tarifsystem, welches durch einen solchen Schritt gefährdet würde. Denn jede staatliche Lohnfestsetzung ist ein empfindlicher Eingriff in das Verhandlungsgleichgewicht der Tarifpartner und führt zu Ergebnissen, die nicht dem notwendigen Ausgleich entsprechen.
Gesetzliche Mindestlöhne orientieren sich nicht an der Produktivität der Arbeitsplätze und könnten dazu führen, dass diese im Bereich einfacher Tätigkeiten wegfallen. Gesetzliche Mindestlöhne würden zudem zum Spielball parteipolitischer Debatten und zum Wahlkampfthema. Populismus würde an die Stelle von Augenmaß, Verlässlichkeit und Kompetenz treten. Ein gesetzlicher Mindestlohn würde sogar Tarifverträge außer Kraft setzen, die unter dem entsprechenden Niveau liegen. Die Tarifpartner haben aber vernünftige Gründe, in bestimmten Fällen Einstiegslöhne zu vereinbaren, die selbst unter den von den Gewerkschaften geforderten 7,50 Euro liegen. Nur so können sie sicherstellen, dass Berufsanfänger, Langzeitarbeitslose und gering Qualifizierte eine Chance auf Einstieg in Arbeit haben.
Auch betrieblichen Bündnissen zur Rettung eines Unternehmens stehen gesetzliche Mindestlöhne entgegen. Denn sie verbieten ein Abweichen selbst dann, wenn das Unternehmen vor der Pleite steht und ein solches Bündnis Rettung bringen kann. In jedem Fall schwächt die staatliche Lohnfindung die Tarifpartner. Sie demotiviert Menschen, sich in Arbeitgeberverbänden oder Gewerkschaften zu engagieren, wenn die Löhne vom Staat geregelt würden.
Das ausdrückliche Bekenntnis der christlich-liberalen Regierungskoalition zum Vorrang der Tarifautonomie vor staatlicher Lohnfestsetzung muss auch gesetzgeberisch umgesetzt werden. Denn zum Ende der abgelaufenen Legislaturperiode wurde mit der Abschaffung des Vorrangs tarifvertraglicher Regelungen im Entsende- und im Mindestarbeitsbedingungengesetz die Ermächtigung geschaffen, Tarifverträge durch staatliche Lohnfestsetzung außer Kraft zu setzen. Verordnete Mindestlöhne sollten jedoch die Ausnahme bleiben und dürfen Tarifverträge nicht verdrängen. Es muss Sache der Tarifvertragsparteien bleiben, die Arbeitsbedingungen ihrer Branche zu regeln.