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Über die Welt zwischen heute und morgen | APuZ 18/1960 | bpb.de

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APuZ 18/1960 Über die Welt zwischen heute und morgen Der innenpolitische Druck auf Chruschtschows Außenpolitik

Über die Welt zwischen heute und morgen

GEORG STADTMÜLLER

Der nachstehende Beitrag gibt den Inhalt eines Vortrages wieder, den der Verfasser am 8. Dezember 1959 vor Professoren und Studenten der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität in Bonn, auf Einladung des COMITE INTERNATIONAL DTNFORMATION ET D‘ACTION SOZIALE/CIAS, gehalten hat.

Schlußfolgerungen nach einer Reise um die Welt von heute

Wenn das Thema dieses Vortrags formuliert worden ist „Die Welt zwischen heute und morgen“, so heißt das nicht, daß hier versucht werden sollte, konkrete Prophezeiungen anzustellen. Dies kann auch der Historiker nicht; und gerade der Historiker wird in dieser Hinsicht besonders vorsidtig sein. Der Historiker kann freilich ein anderes versuchen, er kann aus der exakten Beobachtung der geschichtlichen Abläufe der jüngsten Vergangenheit doch gewisse Entwicklungstendenzen ablesen, die es mit aller methodischen Vorsicht erlauben, einige begrenzte Aussagen über die weiteren Umwälzungen unserer Welt zu machen.

Um die Umwälzung unserer Welt in der Gegenwart zu verstehen, muß man sich die fundamentale Tatsache in das Gedächtnis zurückrufen, daß die Geschichte der Menschheit seit zwei Jahrhunderten in ein Entwicklungstempo eingetreten ist, das in früheren Zeitaltern keine Parallele hat. Die Entwicklung der Naturwissenschaften, ihre empirische Anwendung in der Technik, die Verwendung der Technik in der industriellen Revolution, die Begleiterscheinungen einer agrarischen Revolution, die die Ernährungsbasis um ein Vielfaches vergrößert hat, die ungeheuren Fortschritte der Medizin, die das menschliche Leben verlängert, viele Todesursachen ausgemerzt und die anderen Todesursachen zurückgedrängt oder hinausgeschoben haben — das alles insgesamt bedeutet eine stärkere und umstürzendere Umgestaltung der Alltagsformen unseres Lebens innerhalb der vergangenen zwei Jahrhunderte als in den drei oder vier Jahrtausenden zuvor. Alle früheren Lebensformen sind umgepflügt, viele sind untergepflügt worden.

Schon bei vordergründiger Betrachtung wird diese Umgestaltung aller Lebensverhältnisse, die Meisterung der Natur, die Erschließung neuer Lebensmöglichkeiten sichtbar in der sprunghaften Vermehrung der Erdbevölkerung. Um das Jahr 1885 war die Zahl der Erdbevölkerung halb so groß als heute, d. h. die Menschheit brauchte 600 000 oder 800 000 Jahre, um zunächst zur Zahl von 4 Milliarden anzusteigen, und sie hat dann dieselbe Vermehrung in zwei kurzen Menschenaltern nochmals durchlaufen. Zur Zeit beträgt die Zuwachsrate der Menschheit jährlich etwa 45 Millionen, d. h. täglich mehr als 100 000 Menschen, also etwa die Bevölkerung der Stadt Bonn in dem heutigen gewachsenen Umfang. Die Probleme, die damit im sozialen, administrativen, wirtschaftlichen, nicht zuletzt auch im moralischen Bereich gestellt sind, haben dem Staat und der Gesellschaft seit langem das Gesetz des Handelns aufgezwungen.

Nirgendwie kann man diese Probleme besser studieren als bei einer Reise um die Welt 1), bei der man gewissermaßen das ungeheure S t u f e n g e f ä 11 e des s o z i a 1 -ö k o n o m i s c h e n Wohlstandes und der technischen Perfektion abwandert. Von Amerika, von den Höhen amerikanischer technischer Perfektion zwei Stufen herabsteigend zu Japan, dem einzigen Beispiel einer asiatischen Industrienation, und dann nach Indien und in andere Länder, wo man das Gefühl hat, eine Vielzahl von Stockwerken weiter herabsteigen zu müssen, wo sich das Schauspiel von unlösbar scheinenden Problemen in allen Bereichen des Lebens bietet. Eine solche Reise ist heute kein Abenteuer mehr, sie ist eine sehr zivile Angelegenheit, und nur lächelnd erinnert man sich daran, daß es noch keine hundert Jahre her sind, da der französische Verfasser utopischer Romane, Jules Verne, von einer erdachten Zukunftsreise um den Erdball eine abenteuerliche und phantasievolle Beschreibung gab: „In achtzig Tagen um die Welt“. Heute kann man bequem in ebenso vielen Stunden den Erdball mit einem linienmäßigen Verkehrsflugzeug umreisen. Die Vereinigten Staaten von Amerika erscheinen dem Betrachter in ihrer Mächtigkeit der technischen Organisation, vor allem im Verkehrsbereich, in dem Reichtum der wirtschaftlichen Möglichkeiten, der überall ins Auge springt und in der ungeheuren Kapazität der Industrie wie ein mächtiger Entwurf in die Zukunft der Menschheit hinein. Vieles ist dort bereits vorweggenommen, was bei uns in Westeuropa im Kommen ist, vieles, was in den letzten zehn Jahren bei uns sich schrittweise verwirklicht hat, liegt dort bereits zehn oder fünfzehn Jahre zurück.

Idi möchte nur zwei Beispiele herausgreifen, die vielleicht das Ausmaß der dort auch heute noch gegebenen Möglichkeiten verdeutlicht.

Ich beabsichtigte eine kleinere Stadt in Texas zu besuchen, um an einem solchen Beispiel das dortige „Provinzleben" kennenzulernen. In Washington empfahl man mir Lubbock im äußersten nordwestlichen Winkel von Texas, schon in der Nähe des Randes der Cordilleren, und man fügte bei, dies sei eine „Provinzstadt" von 30 OOO bis 40 000 Einwohnern. Bei meinem Eintreffen entdeckte ich eine Stadt von nahezu 150 000 Einwohnern.

Lubbock entstand im Jahre 1891, dadurch daß zwei kleine Siedlungen, die einige Meilen voneinander entfernt waren, sich an der Stelle der jetzigen-Stadtmitte vereinigten. Die eigentliche Stadtgründung fällt freilich erst in das Jahr 1909. Die Stadt wuchs indem allgemeinen Rhythmus der Besiedlung des nordwestlichen Texas. Im Jahre 1930 zählte sie rund 21 000 Einwohner, 1940 rund 32 000 Einwohner. Dann begann sich der Bevölkerungszuwachs um ein vielfaches zu beschleunigen. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen dieses Aufstieges waren das Anwachsen des Baumwollanbaus — Lubbock ist heute der Mittelpunkt des größten Baumwollgebietes der Welt —, die Erzeugung von Baumwollöl, Petroleumvorkommen, Entkörnung von Baumwolle, Rindermastzucht, Fleisch-konservenindustrie, Molkereiindustrie. Dazu kam im II. Weltkrieg der mächtige Ausbau des nahegelegenen Luftwaffenstützpunktes Reese Air Force Base. So wuchs die Bevölkerung von Lubbock bis zum Jahre 1950 auf rund 72000 Einwohner an. Das Texas Technological College ist heute — trotz Beibehaltung seines bisherigen Namens — eine Volluniversität mit rund 9 000 Studierenden, die Stadt besitzt eine große Stadt-halle (Municipal Auditorium) mit 4 000 Plätzen, ein Theater, ein Symphonie-Orchester, ein Planetarium und ein Museum. Jetzt wächst diese Stadt jährlich um rund 10 000 Einwohner. Sie bedeckt etwa die doppelte Fläche wie die eine Million Einwohner zählende Stadt München, ist also mit der üblichen Raumverschwendung amerikanischer Städte angelegt. Die inDeutschland verbreitete Vorstellung, die nordamerikanischen Städte seien Wolkenkratzerstädte, ist unrichtig, nur die großen Geschäfts-zentren von begrenzter Ausdehnung bestehen aus Hochhäusern, im übrigen dehnen sich breit die eingeschossigen Häuser hin. Fast 70 v. H.

aller amerikanischen Familien besitzen ein eigenes Haus: erdgeschossig, im Bungalow-Stil, vielfach mit einem kleineren Vorgarten und mit einem großen rückwärtigen Garten, mit einer oder mehreren Garagen.

Da jedermann wenigstens e i n Auto, der ärmere eines älterer Bauart, besitzt, erübrigt sich eine öffentliche Verkehrsorganisation (public trans-

portation). Lubbock wurde als Stadt erst im Jahre 1909 von einem Unternehmer gegründet — einem „town builder“. Der town builder, der „Städtebauer“, war durchaus ein privater Unternehmer, der auf eigene Rechnung und eigenes Risiko durch den Wilden Westen zog zu jener Zeit, da er aufhörte wild zu sein, und der am geeignet erscheinenden Punkt einige öffentliche Gebäude erbaute und dann zusah, wie sich um diese öffentlichen Gebäude eine Geschäftssiedlung entwickelte.

Ein zweites Beispiel für den stürmischen Rhythmus der Stadtentwicklung in Nordamerika ist noch viel mächtiger: Los Angeles, heute das große Wirtschaftszentrum der pazifischen Westküste.

Im Jahre 1781 gründete dort — 16 Meilen von der Küste entfernt — der spanische Statthalter (Californien gehörte damals als Provinz zu dem spanischen Vizekönigreich Mexiko) eine kleine Siedlung. Noch zu der Zeit, da dieses ganze Gebiet (1848) an die USA kam, war Los Angeles eine kleine Stadt. Erst nach Herstellung der Eisenbahnverbindung mit dem Osten (Southern Pacific Railroad 1876) setzte die rasche Aufwärtsentwicklung ein. In den zwei Boom-Jahren 1885— 1887 wuchs die Stadtbevölkerung von 12 000 auf 50 000 Einwohner. Der Ausbruch einer schweren Krise 1887 unterbrach diesen stürmischen Aufschwung.

Die Bevölkerungszahl sank, hatte aber im Jahre 1890 wieder 50 000 Einwohner erreicht. Dann begann der mächtige, sich immer mehr beschleunigende Aufstieg, der in der Geschichte der Menschheit ohne vergleichbare Parallele ist. Dabei haben vor allem drei Gründe zusammengewirkt: die seit 1891 gemachten Erdölfunde, die Ausdehnung der wachsenden Stadt zur Küste (1909) und schließlich die Eröffnung des Panamakanals (1914), was dem Hafen von Los Angeles einen gewaltigen Aufschwung brachte. Nach dem ersten Weltkrieg setzte die sprunghafte Entwicklung zur Vielmillionenstadt ein: 1920 577 000 Einwohner 1930 1238 000 Einwohner 1940 1504 000 Einwohner 1950 1970 000 Einwohner 1956 2244 000 Einwohner.

Diese Zahlen bezeichnen die Bevölkerung der Stadtgemeinde Los Angeles. Die Gesamtzahl der Bevölkerung des zusammenhängend besiedelten Stadtgebietes von Los Angeles und der Nachbarstädte — die sogenannten „Greater Los Angeles Area“ — ist etwa doppelt so groß. Dieses Groß-Los Angeles ist heute zu der an bebautem Areal größten Stadt der Welt angewachsen, an Baufläche wesentlich größer als New York oder Tokio, mit einer Bevölkerung, die zwischen drei und sechs Millionen angegeben wird, je nachdem ob man nur die administrative Gemeinde Los Angeles ansetzt oder die Randstädte ringsherum, die administrativ noch selbständig sind, aber mit Los Angeles völlig zu einem einzigen riesigen Siedlungs-, Wirtschafts-und Verkehrsorganismus zusammengewachsen sind. Diese Stadt ist eine mit Häusern bebaute Landschaft mit einem Durchmesser — von Norden nach Süden -von 100 Kilometern. Man fährt also mit dem Auto auf den Schnell-wegen fast zwei Stunden. Eine Stadt mit drei Millionen Personenautos; eine Stadt, in der der Verkehr in den Stoßzeiten des Morgens und in den späten Nadimittagsstunden dadurch erleichtert wird, daß Polizei-hubschrauber in der Luft auf Sprechfunkweg den Autofahrern, die in die Geschäftszentren entweder herein-oder hinauswollen, Ratschläge geben, welche Straßen frei sind. Hier spürt man vielleicht mehr als in jeder anderen Stadt der Welt das ungeheure Tempo, mit dem die Erde sich wandelt. Die Motoren dieser stürmischen Vorwärtsbewegung sind Technik und Industrie: die Luftfahrtindustrie, die Erdölindustrie, das Zauberwort „electronics" in allen westlichen Staaten der USA — das wirkt hier zusammen. Dazu kommt die Filmindustrie, die in dem Vorort Hollywood konzentriert ist, und der nach dem II. Weltkrieg steigende Zustrom von Touristen.

Die Welt kennt viele Beispiele von Millionenstädten, die zu Beginn unseres Jahrhunderts noch Dörfer waren oder kleine Städte. Man denkt an die südamerikanischen Millionenstädte, an das marokkanische Casablanca, oder an das sowjetische Novosibirsk. Keine aber kann sich an raschem Rhythmus des Wachstums und an heutiger wirtschaftlicher Bedeutung mit Los Angeles vergleichen.

Zu dem Eindruck der Städte und der wirtschaftlichen, vor allem der industriellen Möglichkeiten, kommt in den Vereinigten Staaten der Eindruck einer Landwirtschaft, die souverän über mächtige Flächen verfügt und die diese Flächen mit Methoden der Mechanisierung bewirtschaftet, die den Unterschied zwischen mechanisierter Landwirtschaft und moderner Industrie nahezu verwischt haben. Wenn man einen Rindermastbetrieb für 800— 900 Stück Vieh sieht und dann erfährt, daß dieser Betrieb durch vier Männer bewirtschaftet wird — man fügte scherzhaft hinzu, daß die Rinder sich in Autonomie selbst verwalten und selbst füttern — dann wird man einen Begriff bekommen von dieser bis in die letzten Einzelheiten durchdachten, typisch amerikanischen Perfektion — das Fließbandsystem, übertragen auf die Viehzucht.

Viele Städte, vor allem im mittleren Westen, wo der wirtschaftliche Hintergrund natürlich die mechanisierte Landwirtschaft ist, haben wohlerwogene Durchmischung der verschiedenen Wirtschaftsgruppen. Leichte und schwere Industrie, Lebensmittelverarbeitung, Eisenbahnwerkstätten, Automobilzubringerindustrien, elektrische und elektronische Industrie, dann die eigentliche Landwirtschaft. „Depression proof“ ist hier das neue Lieblingswort, auf das die Amerikaner so stolz sind: „Depressionssicher“, „krisenfest“ werden diese Städte genannt.

Manches an diesen Erscheinungen, die man schon bei einem zweimonatigen Studienbesuch in den Vereinigten Staaten beobachten kann, sprengt in fast utopischer Weise europäische Maße. Ich war einige Tage in Detroit und ich habe mir diese Zeit genau geteilt. Ich war die halbe Zeit bei General Motors, in der größten Automobilindustrie der Welt — und wenn ich recht weiß, auch dem größten industriellen Einzel-unternehmen der Welt —, und die zweite Hälfte meines Aufenthaltes in der Automobilarbeiter-Gewerkschaft von Harry Reuther. Diese Gewerkschaft ist die Avantgarde der Tarif-, Lohn-und Sozialpolitik der amerikanischen Gewerkschaften. Das Erstaunlichste was ich an industrieller Organisation gesehen habe, wurde mir bei General Motors gezeigt. Man machte mir verschiedene Vorschläge, was ich sehen wollte. Ich entschloß mich für das Research Centre, das Forschungszentrum dieser Automobilindustrie.

Man fuhr mich 20 Kilometer hinaus und dort sah ich eine eigene Stadt in modernster Architektur, ebenso schön wie zweckmäßig gestaltet, mit schalldichten Laboratorien und schalldichten Büroräumen. Dort arbeiten 13 000 Menschen nur an der wissenschaftlichen Forschung und an der formalen künstlerischen Gestaltung der Karosserie. (Herstellung, Verwaltung, Vertrieb, Reklame usw. sind die Aufgaben anderer Abteilungen.) Natürlich besitzt dieses Forschungszentrum auch Parkplätze für 13 000 Autos, denn jeder Arbeiter kommt selbstverständlich mit dem eigenen Wagen.

Wenn man versucht, diese einzelnen Eindrücke aus der amerikanischen Industriegesellschaft auf das Wesentliche zu konzentrieren, so wird man feststellen, daß die Steigerung des Lebensstandards, die dort zu einem Reichtum in der Breite geführt hat, der über den beachtlichen westdeutschen Wohlstand noch beträchtlich hinausragt, Hand in Hand geht mit der außerordentlichen Erhöhung der Arbeitslöhne. Der Arbeitslohn ist außerordentlich hoch — „manpower is expensive“ hört man immer wieder. Die Höhe der Arbeitslöhne bedroht bereits die Exportmöglichkeiten, denn natürlich kann die amerikanische Industrie kaum oder nicht mehr auf asiatischen Märkten gegen den Wettbewerb der entsprechenden japanischen Industrie, die um vieles billiger arbeitet, aufkommen. Die Schrumpfung der Exportmöglichkeit erzwingt gewaltige Anstrengungen zur Ausweitung des inneren Marktes. Die Anreizung der Konsumwünsche durch eine uferlose Reklame ist ein Grundzug dieser hochtechnisierten Industriegesellschaft. Das advertising, die Reklame, treibt Blüten, über die die Amerikaner selbst Witze machen, oder über die sie bereits sehr bedenklich nachsinnen. Die unzähligen Rundfunkstationen und Fernsehsender sind private Geschäftsunternehmen. Sie leben von Reklame. In den Nachrichtendienst sind immer wieder commercials, also Reklametexte eingeblendet — in einer Weise, die dem Europäer zunächst befremdend vorkommt.

Die Steigerung der Arbeitslöhne hat freilich noch eine andere Folge von weltgeschichtlicher Bedeutung ausgelöst: den ungeheuren Zwang zur Automatisierung. Die Höhe der Löhne erzwingt die Automatisierung, zunächst bei den einfachen Geräten: Verkaufsautomaten in allen Bereichen des Lebens. Diese Entwicklung, die bei uns jetzt einsetzt bekundet sich z. B. in der Selbstbedienung, die längst die eigentliche Normalform des Verkaufes geworden ist. Die wenigen Gaststätten, die noch persönliche Bedienung durch Kellner haben, heben dies rühmend hervor (fable Service!) und haben entsprechend höhere Preise. Auch hier ist eine Entwicklungstendenz, die bei uns im Kommen ist, in Amerika schon durchgeführt.

Eine andere Signatur der begonnenen Zukunft ist eine Motorisierung, die um ein Vielfaches größer ist als in Westeuropa. In dem Boom-Jahr 1956 erzeugte die amerikanische Industrie 8 Millionen Personenkraftwagen, die fast restlos auf dem inneren Markt untergebracht wurden. Neben der Motorisierung besteht eine riesige zivile Luftflotte, während die Eisenbahn für den Personenverkehr keine große Rolle mehr spielt. Die Personenzüge — es fahren nur wenige — sind vielfach fast leer. Die Phase der Eisenbahn in der Verkehrsgeschichte ist gewissermaßen übersprungen worden. Man reist bei kleinen und mittleren Entfernungen mit dem eigenen Wagen oder mit dem Überlandbus; bei größeren Entfernungen mit einer der vielen privaten Fluglinien, die vielfach in taxiartiger und busartiger Dichte aufeinanderfolgen, mit einer außerordentlich großen Flugsicherheit. Wenn man bedenkt, daß täglich viele Hunderte von Maschinen in der Luft sind, so sind die wenigen gemeldeten Unfälle tatsächlich gering.

Ein anderes Kennzeichen der „begonnenen Zukunft“ ist das Leben aus der Fülle und im Zusammenhang damit — der unvorstellbare Raubbau. Die industrielle Technik hat das Füllhorn des allgemeinen Reichtums bereits über die Menschheit ausgebreitet.

Ein Grundzug des amerikanischen Lebens, der gerade aus der Distanz des europäischen Betrachters auffällt, ist die unvorstellbare Freiheitlichkeit des einzelnen Staatsbürgers, die dem öffentlichen Leben ihr Gepräge verliehen hat. Daß der Einreisende nur bei der Einreise seinen Reisepaß vorzuzeigen braucht, daß er dann beliebig lange kreuz und quer durch das riesige Land reisen kann, ohne auch nur einmal von einem Polizisten angehalten und kontrolliert zu werden, ohne einmal in einem Hotel einen großen Anmeldezettel ausfüllen zu müssen oder gar die Nummer seines Reisepasses einzutragen oder diesen gar vorzeigen zu müssen — das ist erstaunlich. Es geht noch weiter: Es gibt in Amerika sogar keine polizeiliche Anmeldung. Man weigert sich zunächst, dies zu glauben, weil man sich fragt, wie dann Verwaltung und Polizei funktionieren können — trotzdem: es gibt keine polizeiliche Anmeldung. In humorvoller Weise hat mir ein gebürtiger Schweizer, der an einer Universität Germanistik doziert, erzählt, wie er vor einem Jahrzehnt aus seiner schweizerischen Heimat nach Amerika auswanderte, um zunächst ein Lektorat zu übernehmen. Er brachte seine polizeiliche Abmeldung mit und versuchte, nun eine Behörde zu finden, wo er seine polizeiliche Anmeldung vollziehen könne. Erst nach einiger Zeit ist ihm klar geworden, daß dies nicht möglich ist.

Mit jener Freiheitlichkeit hängen jene Charakterzüge des Amerikaners zusammen, die man doch wohl die menschlich imponierendsten nennen kann: Kameradschaftlichkeit, Gemeinschaftssinn und Nachbarschaftshilfe. Wenn man Hunderte von Amerikanern in Gesprächen gehört hat und niemals auch nur andeutungsweise eine Verleumdung und eine negative Andeutung über den menschlichen Nachbarn vernahm, so gerät man durchaus in Nachdenken darüber. Es ist natürlich anerzogene gesellschaftliche Form und Routine, wenn jeder fast von jedem behauptet, daß er ein „nice boy“ ist. Aber wenn alle es sich gegenseitig bezeugen, so erleichtert dies zum mindesten die äußere Form des Zusammenlebens außerordentlich. Auch die Nachbarschaftshilfe fällt doch sehr auf. Ich habe mitten in Texas einen gebürtigen Deutschen getroffen, der nah dem Kriege während der schweren Jahre auswanderte und amerikanischer Staatsbürger wurde. Er erzählte mir, daß, als er sich ein Haus kaufte, von allen vier Seiten die Nahbarn kamen, sih vorstellten und ihn fragten, ob sie ihm beim Einzug behilflih sein könnten. Er behauptete ferner, daß in den zehn Jahren, da er dort ansässig ist, sih kein Geriht mit einem Nachbarschaftsstreit prozeßförmig zu befassen hatte. Ohne Zweifel, gemessen an den entsprehenden oder niht entsprehenden europäishen und deutshen Tatsahen, eine eindrucksvolle Feststellung.

Viel trägt zu diesem Gemeinshaftssinn und zu dieser Freiheitlichkeit die andersartige Erziehungsform bei. Man brauht kein kritikloser Bewunderer dieser anderen Erziehungsform zu sein oder zu empfehlen, sie als Ganzes als Vorbild zu übernehmen. Der freiheitliche Grundzug dieser Erziehung, das geringe Vorhandensein und die noh geringe Handhabung der Autorität der Lehrperson hat auh ihre Shattenseiten, über Jie die Amerikaner heute allerorten klagen.

Als die Sowjets den Sputnik zum Himmel shossen, hat dies in den Vereinigten Staaten einen lange nahwirkenden Schock ausgelöst. Denn seitdem die Amerikaner die englishe Industriemaht überflügelt hatten — um das Jahr 1890 — und seitdem sie aus einer Schuldnernation zu den Gläubigern der Welt geworden sind — bekanntlih erst durch den Ersten Weltkrieg — konnten sie sich nicht vorstellen, daß eine andere Nation durch schwerpunktmäßige Konzentration aller Anstrengungen, auf einem bestimmten einzelnen Sondergebiet die amerikanische Technik überflügeln könnte. Die „Sputnik-Krise" hat sehr heilsam gewirkt. Seitdem hat die Diskussion über die Nachteile einer zu großen Freiheitlichkeit in der Erziehung begonnen und sie dauert noch an. Gewisse Kräfte, die auf der rechten Seite der weltanschaulichen Meinungsbildung stehen, wenden sich entschieden gegen die Übersteigerung der Freiheitlichkeit in den Erziehungsformen. Dazu gehören das katholische Viertel der gesamten Bevölkerung, aber auch die Mormonen, die Wehrmachtsteile, die den Schaden später zu tragen haben in den mangelhaft ausgebildeten und mangelhaft erzogenen jungen Leuten, kleinere Gruppen wie z. B. die „Moralische Aufrüstung“ und andere mehr. Die große Wochenschrift „Life“ hat vor zwei Jahren eine Artikelserie gebracht, die durch viele Nummern hindurch ging, in der der schulische Alltag eines 16 jährigen amerikanischen High School boy aus Chicago verglichen wird mit dem schulischen Alltag eines 16jährigen Schülers in Moskau. Dieser Vergleich, der natürlich mit journalistischer Vergröberung und Vereinfachung arbeitet, endet mit der völligen Verurteilung des amerikanischen freiheitlichen Systems und mit der slogan-artigen Schlußfolgerung „We have to stop this carneval" („Wir müssen mit diesem Unsinn Schluß machen“). Auch diese Bereitschaft, jederzeit an sich selber Kritik zu üben und dabei in der Kritik auch ein bißchen über das Ziel hinauszuschießen, ist ein echt amerikanischer Charakterzug. Man darf die positiven Wirkungen der freiheitlichen Erziehung darüber jedoch nicht übersehen; vor allem das, was über die Schule hinaus in den bürgerlichen Klubs geleistet wird, in den sogenannten „Civic Clubs“, die sich gewöhnlich auch eine gemeinnützige Aufgabe stellen. Der eine Klub unterhält ein Waisenhaus, der andere ein Armenhaus, oder sie machen Preisausschreiben „How to build citizeuship“, also wie man bürgerliche Gesinnung und bürgerschaftliche Verantwortung auf der Ebene der Erziehung bilden soll. Die besten Aufsätze über dieses Thema werden dann durch einen Preis ausgezeichnet.

Von dem Bilde einer solchen technisch perfektionierten Industriegesellschaft, die in ihren staatlichen Ordnungsformen aufs stärkste, ja man kann sagen, auf das Extremste durch das alte Kolonistenideal des freien Mannes bestimmt ist, von diesem Bilde nach Japan hinüberzuwechseln, dies bedeutet eine völlige Veränderung der äußeren und inneren Szenerie. Auf dem kleinen Raum von rund 382 OOO Quadratkilometern leben rund 90 Millionen Menschen, also etwa die halbe Bevölkerung der Vereinigten Staaten. Es ist ein Land von unerhörter landschaftlicher Schönheit, aber von geringen Bodenschätzen — darin etwa mit Italien zu vergleichen —, bewohnt von einem Volk, dessen Hauptgrundzüge Fleiß, Bedürfnislosigkeit, Distanz, Selbstdisziplin und Disziplin durchaus militärischer Art sind. Es ist eindrucksvoll, wenn man bei der Besichtigung der Tempel überall die Schulklassen sieht, die da in Reih“ und Glied kolonnenmäßig anmarschieren. Freiheitlichkeit in extremster Form in Amerika, straffste Disziplin in extremster Form in Japan! Dabei besitzt dieses Volk im Künstlerischen eine Feinheit der Gestaltungskraft, die auf der Erde wohl wenig ihresgleichen findet. Das alte Kunstgewerbe ist mit Recht berühmt, vor allem die Innenarchitektur, die künstlerische Ausstattung der Räume des inneren Hauses, das dann stufenweise und fast unsichtbar hinausgleitet zu den künstlerisch gestalteten Gärten; und sicherlich sind die japanischen Gärten die schönsten der Welt. Die andere Seite japanischer Eigenart ist die technische Begabung. Auf ihr beruht der erstaunliche industrielle Aufschwung des Landes nach dem II. Weltkrieg; darin kann Japan durchaus mit den wirtschaftlichen Leistungen Westdeutschlands verglichen werden. Diese technische Begabung trat zunächst vor allem als Imitation und Rezeption in Erscheinung. Ohne Zweifel sind die Japaner Genies der Nachahmung und des Nachbauens, aber doch nicht nur. Sie haben in der optischen Industrie und in der chemischen Industrie zunächst nachgeahmt, aber sie produzieren heute auf diesen Gebieten und in der elektronischen Industrie durchaus eigene Leistungen, die erstaunlich sind.

Es seien hier als Beispiele drei Schwerpunkte dieser technischen Leistungsfähigkeit des heutigen Japan hervorgehoben: 1.) Man hat mir von europäischer Seite in Japan versichert, daß die japanischen Transistorgeräte (Kleinstradios) heute die besten und preiswertesten der Welt sind. 2.) Die Japaner haben mit Hilfe neuer Serienbauverfahren ihre Werftindustrie so vorangetrieben, daß sie im letzten Jahr die britische Schiffsbauindustrie, die seit Jahrhunderten konkurrenzlos die erste auf der Welt war, überflügelt haben, wenn auch nur um ein weniges. 3.) Dieses Japan, das sehr wenig Erze hat, produziert heute aus eingeführten Erzen rund 15 Millionen Tonnen Stahl, das ist etwa die Stahlproduktion Frankreichs.

Hinter der technischen und industriellen Leistungsfähigkeit bleibt der durchschnittliche Lebensstandard der Bevölkerung weit zurück. Der Lebensstandard dieser einzigen asiatischen Industrienation, die den anderen Nationen Asiens als bewundernswertes Vorbild des Fortschritts erscheint, liegt um ein vielfaches unter dem amerikanischen. Hier wird schon das ungeheure Problem sichtbar, das heute drohend vor uns steht, das auch ein europäisches und ein deutsches Problem wird, daß eben die Bevölkerung dieses Erdballs, der mit explosiver Geschwindigkeit durch den Siegeszug der Technik und der Industrie zu einem kommunizierenden Ganzen zusammenwächst, in völlig verschiedenen Niveauebenen der technischen Ausstattung und des wirtschaftlichen Lebensstandards lebt. Diese Niveauunterschiede sind so ungeheuerlich, daß sie die Gefahr politischer Explosion in sich bergen und natürlich der sowjetischen Durchdringungspolitik bequeme Ansatzmöglichkeiten geben.

Mein Weg von Japan über Hongkong nach Südostasien und über Indien und den Vorderen Orient nach Deutschland zurück, führte durch Gebiete, die man vor einigen Jahren noch die unterentwickelten Länder (uuderdeveloped couutries) nannte, die wir heute mit einem weniger abschätzigen Ausdruck die „Entwicklungsländer" nennen. Es sind Länder, die großenteils bis zum II. Weltkrieg und danach unter europäischer Kolonialverwaltung gelebt haben und die sich dann in verschiedenen Formen davon emanzipierten. Die britische Politik war geschmeidig und elastisch genug, zum rechten Zeitpunkt diese Gebiete in die politische Selbständigkeit zu entlassen: Indien, Pakistan, Ceylon, Burma, jetzt auch die malayische Föderation; und diese Entwicklung geht jetzt auf dem afrikanischen Boden weiter. Die französische Politik versuchte zunächst zu halten, was kaum mehr zu halten war, und so ist es nach einem blutigen und kostspieligen Kolonialfeldzug doch zum Verlust Vietnams gekommen: Das nördliche Vietnam fiel an die Kommunisten, Südvietnam behauptete sich als eigener Staat.

In Deutschland und in anderen europäischen Ländern wird heute viel über den Kolonialismus und vor allem gegen den Kolonialismus geschrieben. Eine nüchterne historisch-politische Betrachtung wird nicht gut in diese Deklamationen einstimmen können. Solchen Behauptungen mangelt die Nüchternheit des Denkens, aber auch das Augenmaß für die politische Wirklichkeit. Wir brauchen die negativen Erscheinungen in der Geschichte europäischer Kolonialherrschaft nicht abzustreiten. Wenn man freilich den Blick auf das Ganze der Geschichte der europäischen Kolonialverwaltung richtet, so wird man feststellen müssen, daß das, was die sog. „Entwicklungsländer“ heute geworden sind, im wesentlichen ein Ergebnis der Kolonialverwaltung ist, einer Verwaltung, die sich heute überlebt hat und die in vernünftiger und elastischer Weise aufzugeben, eine staatsmännische Aufgabe unserer Zeit ist. Diese Aufgabe, die bisherigen Kolonialvölker schrittweise in die Selbstverwaltung zu entlassen, ist freilich zu einem großen Teil schon gelöst.

Aber hinter dem Abzug der Kolonialverwaltung erheben sich die eigentlichen Probleme erst, das spürt man überall in diesen Räumen.'Wenn der Mensch, der Jahrtausende hindurch ohne zu murren und zu rebellieren in den festen Bindungen feudaler Grundherrschaft gelebt hat, sich in der Berührung mit der westlichen Industriegesellschaft einmal bewußt, geworden ist, daß es auch anders sein kann, so entsteht eine ungeduldige Unzufriedenheit von explosiver Wucht, die keine Zeit hat und sich keine Zeit mehr läßt, eine hektische Ungeduld, die die Dinge von heute auf morgen umgestalten, ja umstülpen will. In dieser hektischen Ungeduld liegt die große weltpolitische Gefahr. Die Vorstellung, daß man unter Überspringung jener Zwischenphasen, die die europäische Industriegeschichte seit dem 18. Jahrhundert, ja in gewisser Weise schon seit dem 17. Jahrhundert durchlaufen hat, eine moderne Industriegesellschaft aufbauen könne, ist überaus gefährlich. Es fehlt den Entwicklungsländern dort in allen Bereichen des Lebens bis in die Volksbildung hinunter die „Infrastruktur“: Schulwesen, Verkehrswesen, Heranbildung von Technikern und Beamten. So bringt die ruckartige revolutionäre Umgestaltung der alten Gesellschaftsstrukturen natürlich die Gefahr der gesellschaftlichen, stammesmäßigen, moralischen und religiösen Entwurzelung.

Die Versuche vom Westen her, mit der Demokratie, wie sie der Westen versteht und wie sie in der großen angelsächsischen Welt sich seit Jahrhunderten bewährt hat, die drängenden Probleme der „Entwicklungsländer“ zu lösen, das Modell der westlichen Demokratie also zu übertragen auf Welten mit andersartigen Voraussetzungen, mußte und muß zunächst zu schwersten Störungserscheinungen führen. Das, was der Historiker bereits beobachten kann bei den seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in Südosteuropa nach und nach entstandenen Balkanstaaten, wiederholt sich in anderer Akzentsetzung und in anderen Phasen auch in den „Entwicklungsländern“. Die großen geschichtlichen Voraussetzungen gewachsener Demokratie fehlen hier, so wie sie vor hundert Jahren in Serbien und Rumänien fehlten: eine breite Bürgerschaft, eine allgemeine Volksbildung, ein gewachsener Beamtenstand mit Loyalität und dem Ethos der Unbestechlichkeit, um nur die wichtigsten dieser Voraussetzungen zu nennen. So wird der Versuch, mit der Demokratie im westlichen Sinne zu arbeiten, problematisch und er wird auch dementsprechend empfunden, um so mehr, wenn von einzelnen Vertretern der alten feudalen Oberschicht dieses demokratische Modell natürlich auch mißbraucht wird. Sehr naheliegend, sehr billig ist die Versuchung, aus dieser Situation sich dadurch zu retten, daß die Armee, die junge Armee unter ehrgeizigen Führern, die Macht in die Hand nimmt, um wenigstens die äußere Ordnung des Lebens zu stabilisieren. Der autoritäre Notausstieg aus einer Demokratie, die der hektischen Ungeduld der großen politischen Glückseligkeitserwartung nicht rasch genug zu entsprechen vermag, zeichnet sich in vielen dieser Staaten ab. Natürlich ist das heimliche Ideal aller dieser Länder Amerika, da aber dieses Ideal zu hoch und zu fern liegt, hat das sowjetische Modell eine außerordentlich große Anziehungskraft. Überall in dem Raume der „Entwicklungsländer“ kann man dies feststellen.

Die „Entwicklungsländer" kennen diese modernsten Möglichkeiten der Technik durch die Zehntausende ihrer Studierenden, die an europäische, vor allem aber an amerikanische und in jüngster Zeit auch an sowjetische Hochschulen gehen. Es ist nicht so, als ob in den Ländern Asiens Ingenieure fehlen. Man hat mir an mehreren Stellen in Indien von wohlinformierter Seite berichtet, daß es bereits zuviele Ingenieure gäbe, d. h. die Ausbildung der Ingenieure schreite schneller voran als die Entwicklung der Industrie und der Technik nachkommt. Es ist also einfacher, Ingenieure auszubilden als die Industrialisierung in breiter Front voranzutreiben.

In dieser Situation, da die „Entwicklungsländer“ ebenfalls danach streben, man möchte sagen „gieren“, daß Industrie und Technik das Füllhorn des Reichtums über sie ausgießen, so wie es über Europa und Amerika ausgegossen worden ist, bietet sich neben Amerika und Westeuropa die Sowjetunion als Modell an. Es ist eigenartig in diesen Ländern zu beobachten, welch krasses, ja groteskes Mißverhältnis besteht zwischen den tatsächlichen Möglichkeiten der Sowjetunion, helfend mitwirken zu können, und der ungeheuren Meinung, die in den breiten Volksmassen über die angeblichen Möglichkeiten der Sowjetunion angetroffen wird. Ein historisch-politisches Denkproblem erster Ordnung tut sich hier auf. Wir wissen ja, und diese Tatsache ist als solche unbestreitbar, daß die Sowjetunion bei all ihren gewaltigen technischen und industriellen Fortschritten zur Zeit rund 40 bis 42 v. H.der Erzeugung der Vereinigten Staaten hervorbringt (im Sozialprodukt ausgedrückt). Das ist ungeheuer viel, aber es ist doch noch nicht die Hälfte der amerikanischen Erzeugung. Wenn wir dem Sozialprodukt der Sowjetunion das Sozialprodukt der anderen kommunistischen Länder — Chinas sqwie der Satellitenstaaten in Ostmitteleuropa und Ostasien — hinzufügen und andererseits dem Sozialprodukt der USA das Sozialprodukt Kanadas und der westeuropäischen Länder, so ergibt sich ein Verhältnis von rund : 1 oder 3, 2 : 1, d. h. die im Sozialprodukt ausgedrückte Gesamtsumme der idustriellen und agrarischen Erzeugung des westlichen Blödes ist wenigstens dreimal so stark wie die entsprechende Erzeugung des sowjetischen Blocks. 3)

Auf einer Reise um die Welt, die nicht unmittelbar durch das Gebiet des sowjetischen Blocks führt — durch die Sowjetunion zu reisen, ist ja immer noch eine recht schwierige Angelegenheit —, sieht man äußerlich nichts von der sowjetischen Macht der Sowjetunion. Kein Mensch spricht russisch, mit der russischen Sprache kann man nicht um die Welt reisen. Man sieht keine sowjetischen Schiffe. Was man aber doch spürt, das ist eine fast legendäre Vorstellung, die in einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung der „Entwicklungsländer“ vorhanden ist über die Möglichkeiten der Sowjetunion und über die sowjetische Wirklichkeit, die von der sowjetischen Propaganda mit leuchtenden Farben gemalt wird. Zwischen den tatsächlichen technisch-wirtschaftlichen Möglichkeiten der Sowjetunion und ihrem weltpolitischen Einfluß — vor allem in den „Entwicklungsländern“ — besteht ein merkwürdiges Mißverhältnis. Dies ist eine allgegenwärtige Tatsache rings um den Erdball.

Wie ist dieses Mißverhältnis zu erklären?

Es ist einerseits zu erklären aus der zielsicheren Politik eines Systems, das nie durch Kritik aus den eigenen Reihen oder gar durch die Anmeldung von Wünchen breiter Bevölkerungskreise gestört werden kann, das von einer geschlossenen Regierungsgruppe geführt wird, die durch Ausschaltung innerer Kritik eine entschlossene Politik auf lange Sicht machen kann. Diese Politik auf lange Sicht arbeitet mit den seit Lenin bekannten und durch ihn vielfältig formulierten konspirativen Methoden, indem sie mit Vorliebe bei dem Eindringen in nicht-sowjetische Länder ahnungslose Nicht-Kommunisten vorschickt. Ich erinnere an die bekannte Methodik der gleitenden Machtübernahme, die wir nach den Februarverträgen von 1947 in allen Satellitenstaaten Ost-Mitteleuropas in monotoner Gleichphasigkeit abrollen sahen. Überall war die Ausgangsbasis die, daß eine „Volksfrontregierung" zustande kam, in der die Kommunisten, so wie einst Hitler am 30. Januar 1933, sich das Innenministerium und damit die Polizeiexekutive vorbehielten. Von dieser exekutiven Ausgangsposition aus wurden dann die nichtkommunistischen Partner, einer nach dem anderen, gleichgeschaltet und beseitigt.

Der zweite Grund für dieses Mißverhältnis besteht darin, daß die sowjetische Kommandowirtschaft, die ja ganz anders strukturiert ist als die freie Unternehmer-Marktwirtschaft westlicher Länder, ohne Rücksicht auf kaufmännische Rentabilität und kaufmännisches Kalkül Schwerpunkte vordringlicher Priorität bilden kann. In einer totalitären Kommandowirtschaft sowjetischer Art ist es möglich, Tausende von Ingenieuren über Nacht an ein neues „vordringliches" Projekt abzukommandieren. Aufwendungen an Geld, Zeit, Menschen und an technischer Ausstattung spielen keine Rolle, wenn es gilt, ein Projekt voranzutreiben, das aus militärischen, außenpolitischen oder propagandistischen Erwägungen vordringlich ist. Wie anders müssen solche Probleme behandelt werden in einer parlamentarischen Demokratie, wo zunächst das Parlament von der Notwendigkeit überzeugt werden muß, wo darüber hinaus auch die öffentliche Meinung des Wahlvolkes, vor allem natürlich in Wahljahren, gewonnen, überzeugt, überredet werden muß. Die vereinzelten Schwerpunktleistungen sowjetischer Technik, mit denen sie die Amerikaner überrundet — oder nur vorübergehend überrundet — hatten (z. B. Sputnik und Düsenflugzeug Tupolev), sind auf diese Weise zu erklären. Der dritte Grund, den wir heranziehen müssen, um das Mißverhältnis zwischen den tatsächlichen Möglichkeiten und der Reputation der Sowjetunion in den „Entwicklungsländern" zu erklären, ist eine unermüdliche, pausenlose und außerordentlich verfeinerte Propaganda, die nach Möglichkeit niemals als kommunistisch offen in Erscheinung tritt und mit den bekannten Lieblingsworten der sowjetischen Formelsprache sich als „fortschrittlich“, „friedensliebend“, „demokratisch" usw. bezeichnet. „Progressive Books", „International Progressive Books“, kann man in allen großen Städten Südostasiens und Japans an bestimmten Buchhandlungen lesen. Diese „fortschrittlichen Bücher", die dort zu einem Spottpreis bei guter Ausstattung angeboten werden, sind Übersetzungen von Marx, Engels und Lenin in die betreffenden Landessprachen — in Indien in einem Dutzend Sprachen. Natürlich handelt es sich immer um wohlberechnete Auswahlausgaben.

Der ideale Nährboden für diese sowjetische Propaganda von heute ist die völlige Unkenntnis der russischen Geschichte und der sowjeti-schen Wirklichkeit. An den Hochschulen der „Entwicklungsländer" gibt es nirgends einen Lehrstuhl, der sich mit russischen oder sowjetischen Dingen zu befassen hätte. Erst jetzt beginnt man da und dort, ein Lektorat für den Unterricht in der russischen Sprache zu schaffen. In Japan ist man schon einen Schritt weiter. Dort gibt es bereits an zahlreichen Universitäten die Möglichkeit, die russische Sprache zu erler-nen, dahinter hebt sich die Bestrebung ab, Slawistik im wissenschaftlichen Sinne zu betreiben. An der Universität Saporo, auf der Nordinsel Hokkaido, soll ein erSter slawistischer Lehrstuhl errichtet werden; dies ist ein Anfang. In Indien und Afrika geschieht auf dieser Ebene noch nichts.

Bei einer Reise durch die „Entwicklungsländer“ begegnet man überall dieser erschreckenden Unkenntnis der sowjetischen Wirklichkeit. Dieses Nichtwissen reicht bis in die Gipfelregion des akademischen und des politischen Lebens hinein. Ich habe viele Dutzende von Gesprächen in diesen Ländern gehabt, vor allem natürlich mit Professoren, aber auch mit Wirtschaftlern, Parlamentariern, Ministern und Diplomaten; wenn ich bekannte Tatsachen aus der russischen Geschichte und aus der sowjetischen Wirklichkeit von heute erwähnte, so hatte ich das Gefühl für gewöhnlich, daß man diese Tatsachen zunächst nicht glauben will — so unbekannt sind diese Dinge. Daß Rußland nach dem Sieg über Napoleon schon einmal die Höhe der Weltmachtstellung meteorartig erklommen hatte und vier Jahrzehnte hindurch in ganz Mitteleuropa als „Gendarm“ der Reaktion die führende Rolle gespielt hat, das Osmanische Reich in vasallitärer Abhängigkeit gehalten, den nördlichen Pazifik unter vorherrschendem Einfluß gehabt hat mit militärischen Stützpunkten in Kalifornien und auf den Hawaii-Inseln, das ist unserem Geschichtsbewußtsein bereits wieder größtenteils entschwunden; wir können Indern und Japanern keinen Vorwurf machen, wenn sie es nicht wissen. Krasser aber wird es, wenn die Propagandaslogans der heutigen sowjetischen Propaganda über das Tempo der Industrialisierung völlig kritiklos hingenommen werden. Das alte russische Kaiserreich hat, wie Lenin in seinem rund 700 Seiten starken nationalökonomischen Werk über die „Entwicklung des Kapitalismus in Rußland“ das er 1895 bis 1897 schrieb, nachgewiesen hat, bereits zu jener Zeit eine beträchtliche Industrie gehabt. Zwischen 1890 und 1900 ist die Zahl der Industriearbeiter von 1, 5 auf 3 Millionen angewachsen. Im Jahre 1913, im letzten Vorkriegsjahr, hat das russische Kaiserreich 5 Millionen Tonnen Stahl produziert, das war mehr als die Stahlerzeugung Österreich-Ungarns; für die damalige Zeit eine riesige Summe, wenn sie auch noch weit hinter Deutschland und Frankreich zurückblieb. Als Export trat diese beträchtliche Produktion, die mit westlichem Kapital und vor allem mit polnischen Ingenieuren arbeitete, nicht in Erscheinung, weil sie von dem riesigen Binnenmarkt aufgesogen wurde. Es ist aufschlußreich, daß dieses nationalökonomische Frühwerk Lenins von der sowjetischen Propaganda in den Ländern Asiens nicht in einheimischen Über-setzungen vertrieben wird. Dieses Werk ist der heutigen kommunistischen Propaganda unangenehm, weil es auf der Grundlage eines ausgebreiteten statistischen Tatsachenmaterials den Nachweis erbringt, daß die Industrialisierung des russischen Kaiserreiches schon damals (1) mächtig vorangeschritten war, denn dieser Nachweis widerspricht ja der Lieblingsthese der kommunistischen Propaganda, daß Rußland bis zur bolschewistischen Machtergreifung (1917) ein rückständiges Bauernland war, und daß erst mit den Methoden der sowjetischen Kommandowirtschaft in Rekordzeit aus diesem rückständigen Bauernland eine moderne Industriemacht geworden sei. Diese Schrift Lenins wird begreiflicherweise in den Buchhandlungen der „Progressive Books“ nicht verbreitet. Hier ist Lenin ein gewichtiger Kronzeuge gegen die sowjetische Propaganda.

Auch über die Zahlen des Bevölkerungswachstums besteht völlige Unkenntnis; daß das amerikanische Bevölkerungswachstum zur Zeit um einiges stärker ist als das sowjetische, wer weiß das schon in Asien! Wer weiß überhaupt etwas von den Einzelheiten der Alltagswirklichkeit, wer weiß etwas davon, daß die Grundprobleme der Verwirklichung — der Möglichkeit der Verwirklichung — des Alt-Marx'schen Programms bei uns in Westeuropa, vor allem in Deutschland, bereits im Zeitalter des Revisionismus von 1890 ab in gewaltigen geistigen Feldschlachten durchgekämpft wurden.

Ich begnüge mich hier mit wenigen Beispielen, um diese totale Nicht-kenntnis der russischen und sowjetischen Wirklichkeit festzustellen. Hier liegt die einleuchtende und überzeugende Erklärung dafür, daß die zielstrebig, konsequent und umfassend angelegte und gesteuerte sowjetische Propaganda, die im Vordergrund sich vor allem nichtsahnender Nicht-Kommunisten bedient, in so breitem Umfange Anklang findet. In den „Entwicklungsländern" fehlt die unmittelbare erlebte Erfahrung, die Deutschland mit dem Kommunismus gemacht hat. Die ganze Erfahrung, die 8 Millionen Deutsche als Soldaten auf dem Boden der Sowjetunion gemacht haben, wo sie den Realisierungsversuch des kommunistischen Paradieses mit eigenen Augen sahen und jene anderen mehr als 10 Millionen Deutschen, die das barbarische Schicksal der Heimatvertreibung zu Recht auf den Machtanspruch Moskaus zurückführen — diese Erfahrungen sind auf Deutschland beschränkt. Die Völker Asiens und Afrikas haben sie nicht gemacht. Sie haben auch nicht die geistige Erfahrung jener begeisterten Altkommunisten durchlaufen und durchleiden müssen, die sich an der kommunistischen Ideologie berauscht haben, nach der Sowjetunion hinübergingen und dann ernüchtert und schaudernd zurückgekehrt sind, alle jene Menschen wie Artur Köstler, Susanne und Wolfgang Leonhardt, die Verfasser jener „Literatur der Enttäuschten und Mißbrauchten", die insgesamt eine schreckliche Chronik der sowjetischen Wirklichkeit darstellt.

In den „Entwicklungsländern", wo die russische Geschichte ebenso wenig bekannt ist wie die heutige sowjetische Wirklichkeit, kann das sowjetische Modell mit seinem Weltbeglückungs-und Ordnungsanspruch natürlich faszinierend wirken. Faszinieren kann in der geschichtlichen Wirklichkeit immer nur der ideologische Entwurf, jener Entwurf, der noch nicht in die Bewährungsprobe der realen politischen Verwirklichung eingetreten ist. Weltbeglückung, allgemeine Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit, auf wissenschaftlichem Gebiet der pathetische Glaube an den Fortschritt der Menschheit und der Anspruch, Natur und Geschichte mit den Methoden und Kategorien des dialektischen und historischen Materialismus lückenlos im geschlossenen System erklären zu können — es kann nicht ausbleiben, daß solche klangvollen, das Höchste verheißende Losungen auf Völker wirken, die infolge des Bruches der eigenen geistigen Überlieferung zunächst der Faszination des sowjetischen Modellanspruchs eigene seelische Gegenkräfte nicht mehr und noch nicht wieder entgegenzusetzen haben. Dazu kommt die geschickt und pausenlos akzentuierte Manifestation der eigenen Siegesgewißheit. Aus kritischer Kenntnis der innersowjetischen Wirklichkeit wissen wir allzu gut, daß diese laute Bekundung der eigenen Siegesgewißheit weithin nur dazu dient, um die inneren Zweifel an dieser Siegesgewißheit zu übertönen. Dies wissen wir. Dies weiß nicht der Mann in Assam, Bihor oder Korea.

Die praktische politische Schlußfolgerung aus diesem Sachverhalt lautet, daß man der sowjetischen Propaganda die Kenntnis der Tatsachen entgegensetzen muß; denn von der Ignoranz der Tatsachen lebt die sowjetische Propaganda. Diese große Aufgabe übersteigt die Möglichkeiten einer einzelnen europäischen Nation. Sie könnte nur durch eine Koordinierung und Arbeitsteilung auf diesem Feld bewältigt wer-Was bisher an Hand von Reiseeindrücken geschildert wurde, ist die Welt von heute. Es soll aber auch der — behutsame und vorsichtige — Versuch gemacht werden, etwas über die Welt zwischen heute und morgen auszusagen. Sicherlich können wir als unvermeidliche Weiterentwicklung der nächsten Zukunft voraussagen, daß die Welt von heute mit ihrem ungeheuren Stufengefälle der technischen Perfektion und des wirtschaftlichen Wohlstandes einen inneren Ausgleich erfahren wird. Dieser unvermeidliche Ausgleich bahnt sich vor unseren Augen an; dafür bedarf es keiner Voraussage. Es bleibt jedoch die Frage, in welchen Formen sich dieser Ausgleich vollziehen wird, ob in explosiver Weise mit entsetzlichen Opfern an Menschen und Gütern oder in evolutionärer und friedlicher Weise. Vieles von den heutigen amerikanischen Lebensformen wird sicherlich als Begleiterscheinung des technisch-industriellen Siegeszuges sich über den ganzen Erdball verbreiten. In dieser Hinsicht berührt’ sich auf der Vorderbühne der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung das, was in Nordamerika bereits seit einem Jahrzehnt Wirklichkeit ist, mit dem, was in Westeuropa im Durchdringen ist, und mit dem, was sich auch in der Sowjetunion bereits als werdend abzeichnet. Dahinter erhebt sich die weitere Frage, wie eine Welt, die in ihren technischen und wirtschaftlichen Organisationsformen vereinheitlicht sein wird, das neue Gehäuse der weitgehend gleichförmigen neuen Lebensformen mit inneren Wertvorstellungen auszufüllen vermag.

Das Zusammenwachsen des Erdballs bedeutet Schicksalsverflochtenheit, aber es bedeutet auch Angleichung der äußeren Lebensformen und der hinter ihnen verborgenen, aber wirksamen Werte und Wertungen.

Die Amerikaner haben einen sehr prägnanten Ausdruck, um den die Gegenwart so beherrschenden Vorgang der raschen Zusammenschrumpfung der Welt zu einem einheitlichen Ganzen zu bezeichnen: „The jet shrunk worldu. Man muß es etwa so übersetzen: „Die durch die Düsen-verkehrsmittel zusammengeschrumpfte Welt“. Diese Welt, die vor unseren Augen während der letzten Jahrzehnte rasch zu einem Ganzen zusammengeschrumpft ist, wird heute — und sicherlich vor allem morgen — bestimmt durch drei Fortschritte der technischen Naturbeherrschung und Naturauswertung. Man denkt zunächst vor allem an die Atomenergie, die es möglich macht, eine neue in unbegrenzter Fülle vorhandene Kraftquelle für die Menschheit zu erschließen. Aber daneben sollte man die beiden anderen Dinge nicht vergessen: die elektronische Technik und die Kunststoffchemie.

Im Grunde genommen eröffnet die elektronischeTechnik die unheimlichsten Möglichkeiten. Wir denken immer bei der atomaren Energie an das Gefährliche, an das Zerstörerische, an die Möglichkeit, daß diese ungeheure Kraft nicht zum Aufbau sondern zur Vernichtung der Menschheit mißbraucht werden könnte. Unheimlicher sind sicherlich die Möglichkeiten, die sich im Bereich der Elektronik abzeichnen. Ermöglicht doch die elektronische Technik nicht nur das rechnende Gehirn des Menschen zu ersetzen, sondern auch das formale Denken des Menschen und die Sinneswahrnehmung. Die Maschine, die früher von den Menschen in der Produktion überwacht werden mußte, überwacht sich nunmehr selbst. Welch einen gespenstigen Anblick bieten diese riesigen Fabrikhallen amerikanischer Industrien, die fast menschenleer sind, wo die Maschinen in gleichmäßiger Bewegung sind, nur da und dort ein einzelner, den Gang der Maschine beobachtender Mensch, der wie in einer Maschinenwüste verloren zu sein scheint.

Und schließlich noch der dritte Fortschritt der jüngsten Technik: die Kunststoffchemie. Sie wirkt sich vor allem aus im Alltag, in der Gestaltung unserer alltäglichen Lebensformen. In gewisser . Weise ist bereits die künstliche Erzeugung des Aluminiums und die Umgestaltung unserer bautechnischen Möglichkeiten durch den Kunst-soff Beton ein Vorspiel zur heutigen Kunststoffchemie gewesen. Die Triumphe der Kunststoffchemie im eigentlichen Sinne des Wortes sind freilich überaus jung und sie sind dabei, alles umzugestalten. Ich habe in dem Disney-Land, in diesem Märchenland, das für Kinder, aber auch für Erwachsene, von dem amerikanischen Zeichner Walt Disney südlich von Los Angeles aufgebaut worden ist, in der Abteilung „Future Laud“ (Zukunftsland), wo die neuesten technischen Dinge immer ausgestellt werden, ein Haus aus Plastik gesehen. Das ganze Haus besteht im wesentlichen aus einem nylonartigen Stoff, ist auf einer Drehsäule montiert, so daß durch eine Drudeknopfapparatur das Gebäude jeweils gedreht werden kann, wie man also Sonne, Schatten, Wind nach Belieben haben will. Das Nylonhaus ist auch im Inneren mit unvorstellbarem Komfort bis in die letzten Einzelheiten ausgestattet. Man fragt sich natürlich, ob hier der Aufwand noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem Nutzeffekt im Alltag des Lebens steht. Es ist ein bißchen Spielerei dabei, aber in dieser Spielerei bezeugt sich die schöpferische Allmacht des technischen Menschen, auf die er so stolz ist — in Europa, in Amerika, in der Sowjetunion.

Bei dem werdenden Ausgleich der Lebensformen rings um den Erdball zeichnen sich drei große Zukunftsfragen ab: 1. Die erste Frage, die vordergründig am sichtbarsten in Erscheinung tritt, ist die Frage der in neuer Weise verstandenen sozialen Gerechtigkeit. Das Wort „Gerechtigkeit“ hat in der Zusammen-fügung mit dem Adjektiv „sozial“ seit zwei Menschenaltern einen ganz neuen Inhalt angenommen. Die Wörter haben ihre eigene Geschichte, und in der Bedeutungsverschiebung der Wörter spiegeln sich die Verschiebungen, die in dem funktionalen Zusammenhang der Dinge vor sich gehen. „Gerechtigkeit“ ist in unserem heutigen Sprachgebrauch nicht mehr das, was wir vor hundert Jahren darunter verstanden. Einst meinte man damit die rechtliche Sicherung des Einzelmenschen, heute versteht man darunter fast schon überwiegend die wirtschaftliche Sicherung des einzelnen und der Gesellschaft. Unter Gerechtigkeit, versteht man nunmehr die Gleichheit der „Chance“. Die „Egalität“, die einst nur für den Rechtsbereich gefordert worden war, gilt nun als Anspruch auch für den Bereich der Wirtschaft — im „Prozeß“ der Wirtschaft. Durch diesen Anspruch auf wirtschaftliche Sicherung wird dem Staat eine ungeheure Last an neuen Aufgaben aufgebürdet. Dies ist ein unerhört folgenschwerer Schritt für die Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft.

Die Forderungen, die in dem Gesamtbegriff einer neuen „sozialen Gerechtigkeit“ im heutigen Sprachverständnis enthalten sind, gehen geschichtlich zurück auf das Reformprogramm der christlichen Sozialreform einerseits und auf das Revolutionsprogramm der sozialistischen Bewegung andererseits. Jenes im 19. Jahrhundert proklamierte Anliegen ist heute großenteils verwirklicht oder in Verwirklichung begriffen. Fast nirgendwo wird es heute grundsätzlich bestritten; wo man es praktisch sabotiert und sich ihm entgegenstellt wie in einzelnen noch feudal beherrschten Reliktgebieten der „Entwicklungsländer“, da geschieht dies mit innerer Unsicherheit und ohne ein überzeugendes Gegenprogramm. Das Ideal der neuen „sozialen Gerechtigkeit" wird auch dort als so übermächtig empfunden, daß man es nicht mehr offen wagt, sich in aller Form grundsätzlich dagegen auszusprechen. Man heuchelt wenigstens das neue Ideal der neuen Zeit. Und gerade darin bekundet sich wohl am stärksten die Übermacht des Ideals, zu dem sich ein neues weltgeschichtliches Zeitalter bekennt. 2) Die zweite große Frage, deren Beantwortung in unverkennbarer Spannung zur Beantwortung der ersten Frage steht, ist die Frage nach der Rechtsordnung des neuen menschheitsgeschichtlichen Zeitalters — die Frage, wie Recht und Freiheit des Einzelmenschen in der modernen technisch-industriellen Massengesellschaft gesichert werden können.

Die technisch-industrielle Revolution, die seit mehr als anderthalb Jahrhunderten alle Bereiche des Lebens unaufhaltsam umpflügt, hat auch die Gewichte der staatlichen Ordnung verschoben. Die geschichtliche Uraufgabe des Staates war es seit jeher gewesen, Rechtsform der Gemeinschaft zu sein. Wir können uns in der Geschichte vom Staat alles wegdenken — außer der Rechtsform. Wenn er sich auf die Au -gäbe beschränkt Recht zu setzen, Recht zu sprechen, die Friedensord-nung zu wahren, dann ist er noch Staat. Wenn wir uns aber diese Uraufgabe wegdenken, dann hört er auf Staat zu sein.

Die technisch-industrielle Revolution hat durch ihre sozialen Folgeerscheinungen dem Staate ganz neue, bis dahin unbekannte Aufgaben zugemutet. Die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen, die im Arbeits-„Prozeß" stehen, bedroht von der wirtschaftlichen Bindung her die Freiheit des einzelnen. Die Zusammenballung von Menschenmassen, die in hochspezialisierter Arbeitsteilung im Produktions-„Prozeß“ Zusammenwirken, engt, von den Wirklichkeiten der Technik und der Wirtschaft her, den freien Entfaltungsraum der einzelmenschlichen Persönlichkeit ein. Es besteht die Gefahr, daß dieser faktischen Einengung auch die politisch-rechtliche folgt, und der Einengung die Vernichtung. Die alte abendländische Vorstellung — und dies ist eine der großen weltgeschichtlichen Leistungen des Abendlandes und nur des Abendlandes —, daß der Staat gezwungen ist gewisse verfassungsrechtlich umschriebene staatsfreie Eigenbezirke zu achten, die dem Zugriff seiner Machthaber entzogen sind, ist heute aufs stärkste bedroht. In der Sowjetunion wird sie im Grundsatz verneint. Bei uns wird sie durch die technisch-wirtschaftliche Entwicklung eingeengt.

Seit einem Jahrhundert mußte der Staat mehr und mehr neue Aufgaben hinzunehmen. Fs waren vor allem die soziale Vorsorge für den „sozialschwachen“ Staatsbürger und die in mancherlei Formen erfolgende Einflußnahme auf die Wirtschaft. Die Aufgaben bestehen auch in der freien unternehmerischen Marktwirtschaft, und es besteht die Gefahr, daß in dieser Überkrustung der eigentlichen Staatsaufgabe mit neuen, geschichtlich hinzugekommenen Staatsaufgaben, die eigentliche und ursprüngliche Aufgabe des Staates verloren geht. In dieser richtigen Auffassung des Staates, in der urbildlichen Auffassung des Staates als rechtsförmige Ordnung, die auch die Eigenrechte der menschlichen Persönlichkeit zu gewährleisten hat, liegt die grundsätzliche Anerkennung der Würde des Menschen und der menschlichen Gemeinschaften — und hier und nur hier — nicht im Wirtschaftlichen und nicht im Technischen — liegt auch der fundamentale Unterschied zwischen der freiheitlichen Welt des Westens und der sowjetischen Welt des Ostens. Man könnte es sich theoretisch denken, daß in einigen Jahrzehnten die sowjetische Produktion die amerikanische eingeholt habe. (Die meisten Nationalökonomen schließen diese Möglichkeit für die nächsten zwei Jahrzehnte völlig aus.) Durch technische Spitzenleistungen und durch industrielle Produktionserfolge läßt sich jedoch in keiner Weise die Frage entscheiden, welche der beiden Gesellschafts-und Staatsformen die „bessere“ ist. Diese Frage läßt sich nicht durch ein Denken in den sozialökonomischen Kategorien der Funktionalität auf der vordergründigen Ebene der politischen Zweckmäßigkeit und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beantworten, sondern sie fordert zunächst die grundsätzliche Beantwortung der Vorfrage, nach Wesen und Bestimmung des Menschen. Jene öffentliche Ordnung, die dem Wesen und der Bestimmung des Menschen gemäßer ist, ist menschenwürdiger und daher „besser“. — Diese Einsicht leitet bereits über zur dritten Schicksalsfrage der nächsten Zukunft. 3. Die dritte Frage ist die philosophisch-religiöse Wahrheitsfrage. Sie ist im Vordergrund des äußeren Ereignis-ganges weniger sichtbar, sie ist nicht handfest greifbar und dem Alltagsmenschen in seinen vordergründigen Nöten des Kampfes ums Dasein entschwindet sie leicht aus dem Blick. Wer aber als Historiker gehalten ist durch seinen Beruf ganze Jahrzehnte und vielleicht Jahrhunderte vergleichend zu überblicken, dem fällt als unverkennbares Kennzeichen unserer eigenen Gegenwart, verglichen mit der Zeit um 1900, die Tatsache auf, daß die philosophisch-religiöse Wahrheitsfrage heute in unserem allgemeinen Bewußtsein, d. h. vor allem in der Gipfelregion des Denkens, von einem ungleich größeren Gewicht ist als zu jener Zeit. In der Geschichtsauffassung um 1900 feierte eine sozial-ökonomische Betrachtung Triumphe, die sich nur wenig vom Materialismus unterschied. Eine historische Kritik, die stolz war auf das detaillierte und spezialisierte methodische Instrumentarium, daß sie sich geschaffen hatte, verstieg sich nahezu zu dem Grundsatz, daß eine Überlieferung so lange als unecht oder als unglaubwürdig zu gelten habe, bis der Gegenbeweis erbracht worden ist, womit wir als Historiker uns in weiten Bereichen der Weltgeschichte den Boden der Über-lieferung unter den Füßen wegziehen. Im Gebiet der historischen Theologie wirkte sich dieser methodische Grundsatz als Zersetzung der überlieferten Glaubenssubstanz aus. Von solchen Extremen des Skeptizismus ist das Pendel der wissenschaftlichen Zeitmeinungen mittlerweile wieder zur Mitte zurückgeschwungen. Heute wird es wahrscheinlich keinen namhaften Theologen mehr geben, der, ohne seinen Ruf als Wissenschaftler zu gefährden, ein Buch schreiben könnte wie Adolf Harnack „Das Wesen des Christentums“ (1900), worin das Wesen des „Christentums" reduziert wurde auf die Gotteskindschaft des Menschen und auf eine allgemeine Humanitätsethik. Der Historiker von heute — ob er an Christus glaubt oder nicht — sieht sich wieder zur Feststellung der Tatsache veranlaßt, daß das „Christentum“ oder genauer gesagt die Verkündigung des Jesus von Nazareth mehr war und mehr forderte, als was die wissenschaftliche Generation Harnacks darunter verstehen wollte.

Hier, an solchen Punkten spüren wir, wie sich in diesem halben Jahrhundert die geistesgeschichtlichen Gewichte verlagert haben, wie die ganze spirituelle Fragestellung und Blickstellung des denkenden Menschen sich Schritt um Schritt verschoben hat. Die philosophisch-religiöse Wahrheitsfrage meldet sich heute wieder mit ungeheurer Wucht. Sie kann aus dem geistigen Ringen der Gegenwart um Weg, Ziel und Sinn der Menschheit nicht weggedacht werden.

Im Vordergrund wird man dabei vor allem denken an die Auseinandersetzung mit dem Materialismus, mit dem staatseinheitlichen und staatseinheitlich erzwungenen Weltanschauungssystem der Sowjetunion. Dabei handelt es sich bei diesem System doch nur um einen plumpen und seit 50 Jahren stehengebliebenen Versuch, der aus seiner doktrinären Bindung an die „Klassiker“ Marx und Engels heraus es ja ablehnen muß, die in der Zwischenzeit hinzugewachsenen geschichtlichen Erfahrungen zur Kenntnis zu nehmen — während in dieser Zwischenzeit die geschichtliche Erfahrung unserer westlichen Welt mächtig weitergeschritten ist.

Stärker als diese vordergründig wichtige, überaus wichtige und gefährliche Auseinandersetzung mit dem Materialismus ist die andere, sich im Hintergrund abzeichnende Auseinandersetzung mit den ungeheuren philosophisch-religiösen Überlieferungsmassen der Hochkulturen Fernasiens — Chinas und seiner Randkulturen, vor allem aber der vielsprachigen Welt Indiens. Chinesen und Inder’, die beiden Riesen-nationen Fernasiens, stehen ja seit zwei Jahrtausenden in einem merkwürdigen geistesgeschichtlichen Ergänzungsverhältnis. Man hat beide immer wieder mit den Römern und den Griechen verglichen, wobei die Chinesen mit den Römern, die Inder mit den Hellenen verglichen werden. Daran ist sicherlich das eine richtig, daß die Chinesen vor allem in den Bereichen der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung, der Rechtswissenschaft und der Geschichtsschreibung — daneben übrigens auch in der Malerei und im Roman — Großes und Bleibendes geleistet haben. Der indische Geist hingegen war auf einer ganz anderen Ebene unerhört fruchtbar: im Religiösen und Philosophischen — daneben freilich auch in der Dichtung, in der Mathematik und in der Sprachwissenschaft.

Die überquellende Fülle philosophischer und religiöser Systeme, die der spekulative Geist Indiens seit mehr als drei Jahrtausenden hervorgebracht hat, hat dieses hintergründige Land zum eigentlichen Quellboden der religiösen Ideen für die Völker und Kulturen der ASIA MAIOR gemacht. Diese religiöse Dynamik wird — wie alle Lebensformen auf unserem Erdball — durch die technisch-industrielle Revolution umgepflügt werden, aber sie wird nicht untergepflügt werden, sondern sie wird ihre geistige Mächtigkeit bewahren, wenn auch in abgewandelten Formen. Daher haben viele Kenner der fernöstlichen Religionsgeschichte — wie Rene Grousset, Louis Vallee-Poussin, Helmut von Glasenapp, Günter Schulemann, Thomas Ohm — unter Hinweis auf diese rätselhaft starke religiöse Prägekraft Indiens öfters die Voraussage gewagt, daß der indische Geist diese seine menschheitsgeschichtliche Rolle wohl auch in Zukunft weiter spielen werde. Wenn wir uns die Menschheit der nahen Zukunft vorstellen, die nicht nur in der Organisation der technisch-wirtschaftlichen Lebensbewältigung, sondern auch in den geistigen Anschauungen zu einer Einheit zusammenwächst, so erscheint es als unvermeidlich, daß die christliche Welterklärung, d. h.der vom Standort des christlichen Offenbarungsglaubens aus mit Zuhilfenahme der Philosophie unternommene Versuch, Natur und Geschichte als Werk und Äußerung eines persönlichen Schöpfergottes zu erklären, vor allem auf die Fülle der indischen Systeme mit ihrem grundsätzlich andersartigen Versuch der Welterklärung stoßen wird. Dieser philosophisch-religiöse Zusammenprall zeichnet sich als ein Grundthema der künftigen gesamtmenschheitlichen Geistesgeschichte ab. Aber diese Auseinandersetzung wird eine langrhythmische, wohl Jahrhunderte umspannende geistesgeschichtliche Bewegung darstellen, während die Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Materialismus nach Jahrzehnten abzumessen ist.

Es kann nicht ausbleiben, daß in dieser künftigen Auseinandersetzung auch der Islam dem Christentum naherückt. Das gemeinsame Bekenntnis zum Monotheismus eint beide in der Ablehnung des Materialismus. Auch hat die Übernahme europäischer Lebensformen, der immer enger werdende wirtschaftliche Austausch und der Einfluß der modernen westlichen Wissenschaft — vor allem der vergleichenden Religionsforschung — manche Scheidewand niedergerissen. Aber das eigentliche philosophisch-theologische Gespräch hat doch erst begonnen (am stärksten wohl im Libanon).

Wie wird der Alltag des Menschen in naher Zukunft aussehen? Vielleicht hat auch in dieser Hinsicht Nordamerika die Zukunft bereits vorweggenommen. Dort hat das gesteigerte Tempo der beruflichen Erwerbstätigkeit bereits zu einer Zweiteilung des Lebens geführt. Erwerbsberuf und Vergnügen — job and entertainment — das sind die beiden Kapitel des individuellen Lebens. Man arbeitet im ersten Teil des Tages hart, schnell, intensiv, um viel Geld zu verdienen und dann im zweiten Teil des Tages und am Schluß der Woche — am „Wochenende“ — verwendet man das Geld im Bereich des entertainwent, der Unterhaltung und Zerstreuung dazu, um sich Lebensgenuß zu kaufen. Dieser praktische Materialismus ist zunächst offensichtlich eine Begleiterscheinung der technischen Meisterung ungeheurer Produktionsmöglichkeiten.

Eine andere Begleiterscheinung ist das Hervordrängen der Bereiche sinnhafter Wahrnehmung, man möchte sagen: die Produktion von sinnhaft wahrnehmbaren Reizen, vor allem das Hervordrängen des Visuellen. Die Überfülle von illustrierten Zeitungen mit Millionen-auflagen ist nicht nur eine deutsche, europäische und amerikanische Erscheinung: ebenso die Zerstreuung statt der Sammlung, die Reizüberfütterung, die Mobilität eines Menschen, der nun nicht mehr verwurzelt ist mit seiner angestammten Heimat und seinem erwählten „Beruf“, der Heimat und Beruf wechselt, wenn ein besserer Job winkt. Daß der Beruf nicht mehr als Berufung und Verpflichtung empfunden wird, ist ein Schritt mehr auf dem Wege zur Entwurzelung. Die neuen Lebensformen machen den Menschen und alle Zusammenhänge des Lebens „mobil“. Nicht nur die Dinge, sondern selbst die Menschen werden vertauschbar, sie werden nach Gewicht, Zahl und Maß vertretbar („res quae pondere numero mensurave constant“).

Dieses Eindringen des „Fungibilitäts“ -Denkens in die menschliche Gesellschaft ist eine ungeheure Gefahr. Sie führt im Pädagogischen dazu, daß als das ausschließliche Ziel der Erziehung die Ertüchtigung zu einem Erwerbsberuf proklamiert wird. Sicherlich ist dies ein legitimes Ziel, ein außerordentlich wichtiges Ziel. Wenn freilich die Ertüchtigung zu einem Erwerbsberuf als das einzige Ziel der Erziehung erklärt wird, so ist dies die Kapitulation des Erziehers vor einer nur noch schwer zu bewältigenden Wirklichkeit, der Verzicht auf eine positive und schöpferische Bewältigung der eigentlichen Aufgabe, die ihm gestellt ist: die Bildung des Menschen.

Unter den unbestreitbaren Notwendigkeiten des wirtschaftlichen Erwerbsberufes, denen wir alle nicht ausweichen können, darf nicht das Zielbild wahrer Menschenbildung aus dem Auge verloren werden. Sonst geht auch verloren das Wissen um die unverwechselbare und unvertretbare Einmaligkeit jedes einzelnen Menschen, jene Auffassung von dem individuellen, innerseelischen Reichtum und der personalen Würde des Menschen, die in der sowjetisch-materialistischen Auffassung keinen legitimen Platz haben kann. In dem System des historischen Materialismus ist der Mensch — streng philosophisch gesehen — nicht Person sondern nur Partikel in dem Strom eines Geschichts-„Prozesses“.dem streng naturgesetzliche Determiniertheit zugesprochen wird. Dem Einzelmenschen kommen daher nur jene Rechte zu, die sich aus seiner Funktion in der Gesellschaft ergeben.

Wer von einer solchen Reise um die Welt nach Deutschland zurückkehrt, freut sich zunächst darüber, daß er wieder in Deutschland ist. Man wird dankbar für all die Dinge, die man nicht zu schätzen wußte, solange man nur in Deutschland gelebt hat. Tausend Unzulänglichkeiten in Ländern, die nicht über eine gleiche Geordnetheit des öffentlichen und privaten Lebens verfügen, wurden während der Abwesenheit schmerzlich empfunden. Man sieht von draußen auch Deutschland und die deutsche Politik anders, man wird bereitwilliger, die positiven Dinge zu sehen. Von innen her, aus der mikroskopischen Nähe der Einzelbeobachtung, neigt man stets dazu, die Unzulänglichkeiten und Mängel genau zu erkennen und dagegen möglichst zu protestieren.

Aus der Ferne wirkt die deutsche Aufbauleistung imponierend. Rund um die Welt trifft man die Bewunderung dieser Aufbau-leistung. Man spricht in Superlativen davon: von der stetigen Außenpolitik, von dem wirtschaftspolitischen Aufbau, um vor allem diese beiden Tatsachen zu nennen. Man erkennt auch, daß in diesem geteilten Deutschland, in dem Problem seiner Wiedervereinigung und insbesondere in dem neuralgischen Punkte Berlin die weltpolitische Drehscheibe der West-Ost-Spannung ruht. Deutschland hat in d Weltpolitik ein außerordentliches Gewicht bekommen. Diec bedeutet allerdings nicht, daß es „unabhängige" Politik machen könne — dies wäre eine gefährliche Illusion. Alle solche Gedanken müssen in das Reich schöner und angenehmer Wunschvorstellungen verwiesen werden. Die politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge sind he te so verflochten, schon von der wirtschaftlichen Arbeitsteilung her — vom Import und Export —, daß z. B. die Optionsmöglichkeit der Bismarckschen Außenpolitik nicht mehr besteht. Sie besteht schon gar nicht für die Bundesrepublik und sie würde auch für ein wiedervereinigtes Deutschland nicht mehr in der alten Weise bestehen. Die weltpolitischen Gewichte haben sich zu sehr von der europäischen Mitte wegverlegt. Von dieser Reise um die Welt bin ich auch mit der Überzeugung zurückgekommen, daß unser altes Europa eine neue große Aufgabe haben kann, wenn es gelingt die werdende europäische Föderation enger zu gestalten und zu einer koordinierten, in den Grundfragen einheitlichen Außenpolitik zu gelangen. Dies ist sicherlich die eigentliche Schicksalsfrage. Im wirtschaftlichen Sektor schreitet die Entwicklung rasch voran, im wesentlichen zum Teil rascher, als dies zunächst geplant war. Schon heute beginnt die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) als ein Block, als eine wirkliche Gemeinschaft, in Erscheinung zu treten. Die Dinge, die sich hier abzeichnen, liegen in der Luft. Ein einzelnes Beispiel möchte ich hier herausgreifen: Wenn man in zahlreichen Flughäfen quer durch Asien sieht, wie alle europäischen Luftverkehrslinien ihre eigenen Verkaufsbüros, ihre eigenen Bodenorganisationen, ihre eigenen Werkstätten haben, da drängt sich angesichts dieses Nebeneinanders der Gedanke auf, daß dies ein wirtschaftlicher Unsinn ist, daß hier die Bildung einer Gemeinschaft notwendig ist. Mittlerweile ist bereits ein großer Schritt in dieser Richtung getan worden: Die Luftverkehrsgesellschaften der Bundesrepublik, Frankreichs, Italiens und Belgiens haben sich zu einem „air pool“

zusammengeschlossen, der schon demnächst im Verkehrsnetz der Welt als ein einheitliches LInternehmen in Erscheinung treten wird. Wenn es der europäischen Gemeinschaft gelingt, zu einer einheitlichen Außenpolitik zu kommen, dann wird auch die Fragestellung gegenstandslos sein, ob der Westen noch eine Zukunft hat, dann würden auch solche das Selbstvertrauen der westlichen Gemeinschaft — ungewollt und unbewußt — aushöhlende Buchtitel bei uns unmöglich werden, in denen es z. B. heißt: „Erbe und Vermächtnis Europas“. (Nach gutem deutschen Sprachgebrauch kann nur von einem Toten, einem Sterbenden oder einem dem Sterben nahen Menschen ausgesagt werden, daß er „Erbe und Vermächtnis“ hinterläßt!) Vielleicht würde man sich dann bald in Moskau die ernste Frage vorlegen, ob und wie lange der Kommunismus noch eine Zukunft habe.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Nadi einer Reise um die Welt auf der Linie: M ü n c h e n—LondonNew York—Washington—New Orleans—Houston—Lubbock—El Paso del Norte—Tucson—L os Angele s—San Francisco—Salt Lake City — Omaha—Chicago—Detroit—P hiladelphi a—Boston—Seattle—Anchorage —Shemya—T o k y o—Kyoto—H o n g k o n g—Bangkok—Calcutta—D e 1 h i —Teheran—Beyrouth—M ü n c h e n.

  2. Collier’s Encyclopedia 12 (New York 1958) S. 561 s. y. Lubbock.

  3. über das Potential der beiden großen Mächte und über die sowjetischen Bemühungen um das „Einholen und Überholen“ vgl. jetzt vor allem die beiden folgenden Untersuchungen:

  4. Lenin, V. J.: Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland. Die Entstehung des inneren Marktes für die Großindustrie. Wien und Berlin 1929.

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