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Politik in der Kirche? | APuZ 50/1968 | bpb.de

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APuZ 50/1968 Politik in der Kirche? Die besondere Bedeutung der historischen Wissenschaften für den Menschen unserer Zeit

Politik in der Kirche?

Eugen Gerstenmaier

Eine moderne Demokratie steht und fällt mit der Entscheidungsfähigkeit ihrer Bürger. Die breite politische Diskussion muß in der Demokratie schon deshalb gewollt werden, weil sie sich davon — bei einigem Optimismus — die Stärkung dieser Entscheidungsfähigkeit versprechen kann. Der demokratische Staat kann und wird auch deshalb — und nicht nur aus Respekt vor der Freiheit der Kirche — gar nichts gegen die politische Diskussion und auch nichts gegen das politische Engagement der Kirche einwenden. In rechtlicher Hinsicht wird er ihnen freilich auch keine andere Bedeutung zumessen als den Äußerungen anderer Gruppen im Staat. Ob Christen oder Atheisten, Katholiken oder Protestanten in unserem Staat das Wort zu politischen Fragen nehmen, ist insofern gleichgültig, als keine dieser Gruppen dabei irgendein Vorrecht auf Gehör oder Befolgung durch den Staat geltend machen kann. Daß es dennoch Unterschiede gibt, beruht 1. auf bestimmten Rechten, wie sie den Kirchen z. B. in Konkordaten und ähnlichen Verträgen zugesichert sind, 2. auf dem politischen Gewicht, das heißt vor allem auf der Zahl und Masse der stimmberechtigten Bürger, die hinter einer solchen Verlautbarung stehen, 3. auf ihrem sachlichen Wert für die politische Orientierung und Praxis.

Distanzgefühle vertiefen sich

Hugo Staudinger: Die besondere Bedeutung der historischen Wissenschaften für den Menschen unserer Zeit............................................................... S. 9

Aber wie es auch damit im einzelnen bestellt sein mag, vom Staat her gesehen ist die Freiheit der Kirche, sich auch politisch vernehmbar zu machen, unbestritten. Eine ganz andere Frage ist es, welchen Gebrauch die Kirchen von dieser Freiheit zum politischen Engagement machen wollen, ob, wo und wie sie es in ihrem Bereich zu ermutigen, zu begrenzen oder und zu verhindern wünschen welche Motive und Ziele sie dabei bestimmen. Nicht entscheidend, aber angebracht scheint mir die Überlegung, welche effektive Wirkung von einem politischen Engagement der Kirche oder kirchlicher Gruppen ausgehen wird. Erfahrungsgemäß ist das sehr verschieden. Im allgemeinen wird man jedoch gut daran tun, darüber kritisch und zurückhaltend zu denken. Dafür läßt sich eine Reihe von Gründen nennen, wie mangelnde Konkretion und Praktizierbarkeit, Häufigkeit und Kirchensprache, umstrittene Geltung auch innerhalb der Kirche und die oft mißbräuchliche Inanspruchnahme der Autorität der Kirche für die Bedürfnisse politisierender Gruppen und Grüppchen. Dazu aber kommt, daß die Distanz zwischen der Kirche und dem Staat auch dort stillschweiZuerst gend größer wird, wo es erkennbare Spannungen zwischen beiden gar nicht gibt. Die traditionellen Verbindungen und Beziehungen von Kirche und Staat lösen sich auch im Abendland unaufhaltsam. Die Distanzgefühle, die den Kirchen und ihrer Sache entgegenstehen, vertiefen sich in der fortschreitenden Säkularisierung. Fundamentale Grundsätze christlichen Glaubens und Denkens und die aus ihnen geborenen oder von ihnen mitgestalteten Ordnungen werden ignoriert oder offen bekämpft.

Das alles steht nicht nur der öffentlichen politischen Wirkung der Kirche im Wege, sondern auch ihrer Seelsorge. Aber es hat auch weitgehende Wirkungen auf die Kirche selbst, auf ihre Theologie, auf ihre Predigt, auf ihr Bibel-verständnis und auf ihr Verhältnis zu der Welt. Daß es sich dabei keineswegs nur um Erscheinungen im Bereich unserer eigenen Kirche handelt, haben die Weltkirchenkonfe3 renz von Uppsala in diesem Sommer gezeigt und jene „Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft", die 1966 in Genf stattfand, sch möchte nicht urteilen über den inneren Wert und Giehalt der aur alesen Konrerenzen angegebenen Stellungnahmen. Aber mir scheint, daß ihr Reflex in der internationalen Politik gering ist.

Leidet „das Eigentliche" der Kirche?

Wesentlich anders verhält sich die Sache, soweit ich es sehe, jedoch innerhalb der Kirche, zumindest innerhalb unserer deutschen evangelischen Kirche. Hier hat die politische Diskussion und Auseinandersetzung ganz unabhängig von ökumenischen Konfrenzen einen so breiten Raum eingenommen, daß die oft gehörte besorgte Frage verständlich wird, ob denn „das Eigentliche" der Kirche darunter nicht ernstlich leide. Mehr als es unsere Theologie und unsere Synoden tun, unterscheidet das Gemeindebewußtsein in unserer evangelischen Kirche noch zwischen den politischen Äußerungen der Kirche und ihrem Eigentlichen, nämlich der Verkündigung und der Seelsorge im traditionellen Sinn des Wortes.

Trotz der modischen Verpackung als „politische Diakonie" oder „politische Predigt" orientiert sich das Bewußtsein unserer Gemeinden im ganzen noch immer daran, daß es die Sache der Kirche sei, nicht Politik zu machen, sondern den Auftrag auszurichten, der ihr von Jesus durch die Hl. Schrift und die Tradition überliefert ist. Wenn ich recht sehe, wird dabei durchaus zugestanden, daß die Kirche ihren Auftrag zuweilen auch im Blick auf politische Tatbestände artikulieren und gegenüber der politischen Macht im Ernst geltend machen müsse. Daraus folgt, daß die politische Diskussion in der Kirche nicht nur eine öffentliche, staatliche Legitimität besitzt, sondern innerhalb gewisser Grenzen auch eine kirchliche.

Die Kirche ist nicht das Gewissen des Staates

Diese Grenzen der politischen Diskussion und des politischen Engagements der Kirche liegen nicht dort, wo ängstliche Gemüter sie immer wieder suchen, nämlich in den Gefahren, die sich für den äußeren Bestand der Kirche daraus ergeben können. Es wäre z. B. nicht nur legitim, sondern auch geboten gewesen, wenn unsere Kirche dem Juden-und dem anderen Mord einst ebenso laut und regelmäßig entgegengetreten wäre, wie sie für den „Führer" gebetet hat. Das wäre kirchlich legitim gewesen, auch wenn es den äußeren Bestand der Kirche mit Sicherheit ernstlich in Mitleidenschaft gezogen hätte. Ebenso ist es legitim, wenn sich unsere Kirche in den Fragen politisch engagiert, die für Freiheit und Menschenrecht und für die sittliche Orientierung eines Volkes von entscheidender Bedeutung sind. Ich bin mir klar darüber, daß es denkbar schwer ist, in diesem Bereich zu allgemeinen verbindlichen konkreten Aussagen und Grenzziehungen innerhalb der Kirche selbst zu kommen. Ich glaube jedoch, daß man folgendes sagen kann: 1. Das sogenannte politische Wächteramt der Kirche kann nicht darin bestehen, daß sie in Anspruch nimmt, das Gewissen des Volkes oder des Staates zu sein. Man kann über die gewissensbildende und gewissensschärfende Macht der Hl. Schrift nicht groß genug denken, und mit ihrer Verkündigung ist die Kirche eine auch das öffentliche Gewissen bildende Macht ersten Ranges. Aber die Kirche würde einen auch von der Autorität der Bibel nicht gedeckten unkritischen, ja überheblichen Anspruch geltend machen, wenn sie sich schlicht als das Gewissen des Staates oder der Öffentlichkeit verstünde. Es mag für manche Theologieschulen ein unvollziehbarer Gedanke sein, aber unsere Kirche muß anerkennen, daß auch der Nichtchrist ein wie auch immer gebildetes eigenes Gewissen und eine eigene Gottunmittelbarkeit besitzt. 2. Das schränkt die Unbedingtheit jedoch nicht ein, mit der die christliche Kirche unter Umständen auch öffentliche Zustände anzugreilen und sich selbst nach der biblischen Weisung zu verhalten hat: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen". Hier kann sich das politische Engagement der Kirche unabweisbar aus ihrem ureigenen Auftrag ergeben. Die Abweisung der Diskriminierung aller Autorität, die Zurückweisung der bewußten beleidigenden Provokation, des Rufmords und der sexuellen Verblödung — um nur einige aktuelle Beispiele zu nennen — machen die politische Diskussion auch in der Kirche unvermeidlich. Unsere Gemeinden können sich den darin beschlossenen Schwierigkeiten auch nicht dadurch entwinden, daß sie die Welt, zu der sie zu reden haben, für „mündig“ halten.

Was heißt das sowohl im Blick auf die zehn Gebote wie auf die noch immer wachsenden Mißverständnisse dieser Welt mit sich selber? Die Botschaft Jesu und das Gebot Gottes gelten auch dem Mündigen, gerade ihm!

Sich nicht vom eigentlichen Thema abbringen lassen

3. Es ist indessen die Pflicht der Kirche Jesu Christi, darüber zu wachen, daß sie gerade dort, wo sie sich auch politisch engagieren muß, bei ihrem eigenen Thema bleibt. Eine Kirche, die sich der Gefahr der politischen Überfremdung nicht in klarem Bewußtsein entzieht, macht sich der Selbstverfremdung schuldig. In der Sprache der Bibel: sie wird ihrem Herrn und seinem Auftrag untreu. Es geht also bei unserer Frage nicht darum, ob ein bißchen mehr oder weniger politische Diskussion in unserer Kirche statthaft sei, sondern es geht darum, ob die Kirche auch in ihrem politischen Engagement bei dem bleibt, was ihr allein — ihr allein und nicht dem Staat, den politischen Parteien, Interessenverbänden oder idealen Organisationen — in dieser Welt aufgetragen ist. Das Reformationsfest ist kein Anlaß für die Heroisierung der Reformatoren oder einer großen Phase der deutschen, ja der Weltgeschichte. Wohl aber ist es der Appell an die Kirche, entweder sich unter keinen Umständen von ihrem eigentlichen Thema und Auftrag abbringen zu lassen oder dazu zurückzukehren.

Worin besteht er? Was ist das Thema der Kirche? Nichts charakterisiert unsere kirchliche Lage — und in gewisser Hinsicht auch die politische und theologische Diskussion der Gegenwart — so sehr wie die nicht mehr zu überdeckenden Gegensätze, die sich in der Antwort auf diese Frage kundtun. Hier beginnt die Herausforderung im eigentlichsten und gefährlichsten Sinn des Wortes, der sich die Kirchen, insbesondere die evangelischen Kirchen Deutschlands und der Vereinigten Staaten von Amerika mehr und mehr gegenübersehen. Diese Herausforderung kommt nicht von außen. Zwar ist es wahr, daß sich gewisse Zeiterscheinungen wie z. B. die außer-parlamentarische Opposition gelegentlich auch in der Kirche bemerkbar machen. Indessen sind solche und noch viel weitergehende Angriffe auf die Kirche in diesem Jahrhundert nichts Neues.

Gefahr von der „Theologie der Revolution"

Anders verhält es sich jedoch mit jener Herausforderung, die im Namen der radikalen Entmythologisierung oder einer Theologie der Revolution erfolgt. In beiden ist keineswegs nur das traditionelle Gemeindebewußtsein unserer Kirche herausgefordert, sondern die Autorität der Bibel selbst.

Zum Auftakt der Weltkirchenkonferenz von Uppsala in diesem Sommer hat z. B.der amerikanische Theologe Braaten den interessanten Versuch gemacht, eine programmatische „Theologie der Revolution" zu entwerfen. Sie beginnt natürlich mit einer scharfen Kritik an dem bisherigen unrevolutionären Verhalten der christlichen Kirchen. Sie vertieft diese Kritik durch eine Polemik gegen die Lehre der lutherischen Reformation, daß z. B. die Berg-predigt kein politisches Rezept sei, sondern ein Hinweis darauf, wie die Leute in der Nachfolge Jesu miteinander umgehen sollten. Die Theologie der Revolution verwirft diese Lehre von den „zwei Reichen Gottes" und preist Thomas Münzer gegen Martin Luther. Sie proklamiert dementsprechend den „Übergang zur dynamischen Aktion". Dabei dürfe auch die Anwendung von Gewalt nicht ausgeschlossen werden.

Ich würde das alles nicht des Aufhebens für wert halten, wenn diese Theologie der Revolution sich darauf beschränken würde, das christliche Gewissen des Einzelnen anzusprechen und in Aktion zu bringen. Aber diese Theologie der Revolution will mehr. Sie möchte die Kirche als ganze und solche in die revolutionäre Aktion führen. Es soll eine „permanente Revolution" werden. Der Christ besitze eine „messianische Lizenz" dafür, „jenseits der Normen des Gesetzes zu handeln". Und dies alles zu dem großen Zweck und Ziel, diese Welt zum Reiche Gottes zu verwandeln. Dieser Theologie scheint es völlig gleichgültig zu sein, daß die Bibel etwas fundamental anderes über die Zukunft dieser Welt und das Wesen des Reiches Gottes sagt. „Es vergehe die Welt, es komme die Gnade". Das ist die Stimme der Bibel. Wer aus dieser fragwürdigen Welt einen perfekten Weltwohlfahrtsstaat machen will, kann es ja versuchen. Aber es ist nicht einzusehen, weshalb dazu die Botschaft Jesu vom Reiche Gottes ebenso mißdeutet werden muß wie die sogenannte „Theologie nach dem Tode Gottes" den Gott mißdeutet, zu dem Jesus beten lehrte „Unser Vater im Himmel". Nichts gegen die Menschlichkeit! Aber sein Gottesverständnis darauf zu reduzieren, kann niemandem zugemutet werden, der sich an der Bibel orientiert.

Was diese Theologie der Revolution in politischer Hinsicht bietet, ist daneben verhältnismäßig belanglos. Permanente Revolution? Was heißt denn das überhaupt? Und bedarf es wirklich erst einer „Theologie der Revolution", um zu Bewußtsein zu bringen, daß die Politik heute nicht mehr im Rahmen und nach den Wertordnungen des überlebten souveränen Nationalstaats ausgerichtet werden darf? Oder braucht man erst eine „Theologie der Revolution", um der Kirche zu Bewußtsein zu bringen, daß sie in dieser Welt eine mit Liebe zu erfüllende dienende Aufgabe hat? Braucht die Welt erst revolutionäre Theologen, um sie auf Ideen wie die einer Weltwirtschaftsordnung und eines Weltwirtschaftsrechtes zu bringen? Wird es eine Theologie der Revolution schaffen, den wankenden Glauben an die nahezu automatische Annäherung zwischen Ost und West wieder zu festigen?

Biblisch unmögliche Versuche zur politischen Mobilmachung der Kirche

Die evangelische Studentengemeinde in Bochum hat in einem Inserat darauf hingewiesen, daß die Stelle des Studentenpfarrers zum 1. Oktober 1968 vakant sei. Als „wichtige Bereiche" für seine Tätigkeit nannte sie in ihrem Inserat „außerparlamentarische Opposition, außersydonale Opposition, Gruppen-arbeit in den Gemeinden, theoretische Arbeit über Revolution und dritte Welt". Von so altmodischen Dingen wie der Bibel — oder gar dem Vaterland — ist natürlich nicht mehr die Rede.

Ich verstehe es, wenn Leute, die sich täglich mühsam und nüchtern damit herumschlagen, den Frieden zu sichern und das Leben auf dieser Welt erträglich zu machen, solchen Tönen und einer solchen Theologie kühl gegenüberstehen. Und welcher Zeitgenosse konnte darin auch nur einigermaßen so etwas wie die Fakkel einer Avantgarde sehen? Ein theologischer Kritiker hat mit Recht gesagt, das sei allenfalls ein „Schlußlicht".

Mit der Abweisung solcher biblisch unmöglichen Versuche, die politische Mobilmachung der Kirche zu bewirken, soll die kritische Selbstprüfung unserer Kirche indessen gewiß nicht verhindert werden. Es soli auch nicht in Frage gestellt werden, daß gerade die gar nicht politisierende Kirche des Evangeliums auch der Politik etwas zu sagen hat. Denn dieser Kirche ist nicht nur das Wort des Evangeliums von der Vergebung anvertraut, sondern ebenso das Wort vom Gesetz, von den Geboten und Ordnungen Gottes. Die Kirche schuldet der Welt diese ihre ganze Botschaft.

Ob dafür freilich der Stil und die Methode der sogenannten politischen Predigt verheißungsvoll sind, steht auf einem anderen Blatt. Man kann bezweifeln, daß es einer besonderen politischen Predigt bedarf. Die kirchliche Verkündigung hat der Politik ohnehin schon genug zu sagen. Ich versuche, das an einigen Beispielen aus den drei Grundstücken der kirchlichen Verkündigung — dem Gesetz, der Versöhnung und der Weltvollendung — darzustellen.

Rangordnung sittlicher Werte muß die Politik bestimmen

1. Jede Politik, die mehr sein soll als zielloser Opportunismus, bedarf einer inneren, einer geistigen und sittlichen Orientierung. Die deutsche Politik der Nachkriesgzeit muß zum Beispiel wissen, warum sie der hergebrachten deutschen Souveränitätspolitik mit ihrer Mit-telstellung zwischen Ost und West absagte und warum sie sich statt dessen der europäischen Integration und dem atlantischen Bündnis zuwandte. Die Antwort, daß dies aus Angst vor dem russischen Kommunismus geschehen sei, ist bestenfalls halbrichtig. Die ganze Wahrheit steckt erst in der Einsicht, daß das alte Europa einer neuen Form seines staatlichen und wirtschaftlichen Zusammenlebens bedarf, und dies um der Freiheit wie um des Friedens willen. Für uns Deutsche ergab sich daraus die Notwendigkeit, unsere Politik von einer ernstlich durchdachten Rangordnung sittlicher Werte bestimmen zu lassen. In ihr muß die Freiheit den ersten, der Friede den zweiten und unsere nationale Einheit den dritten Platz einnehmen

Ich lasse dahingestellt, ob eine solche grundsätzliche Entscheidung von der Verkündigung der Kirche übernommen werden soll. Aber ich halte es, wie gesagt, für unerläßlich, daß der Christ, der zu politischen Entscheidungen aufgerufen ist, sich dergestalt zu orientieren und zu verantworten vermag. Was die Kirche dafür tun kann, das sollte, ja das muß sie tun. Was die Kirche jedoch sicher nicht darf, ist: aus dem grundlegenden Unterschied zwischen dem totalitären Zwangsstaat und dem freiheitlichen Rechtsstaat einen in der letzten Konsequenz nicht mehr entscheidenden, sondern allenfalls nur noch graduellen Unterschied zu machen.

Gewiß, die Kirche Jesu Christi weiß, daß der Mensch im Westen wie im Osten ein Sünder ist. Diese Tatsache besagt zwar, daß wir im Osten wie im Westen der Gnade Gottes bedürfen, aber sie besagt keinen Augenblick, daß wir die Verknechtung von Millionen zur Freiheit geschaffener Menschen aus freien Stücken hinnehmen oder auch noch selber riskieren dürften. Gleichsetzungen dieser Art darf sich die Kirche um der Wahrheit willen nicht schuldig machen, gleichgültig ob es gerade in die Politik paßt oder nicht. Denn was die Kirche der Politik zu sagen hat, muß sie ihres kirchlichen Auftrages wegen sagen, und nicht, um dem oder jenem, dieser oder jener Partei einen Gefallen zu tun. Und wer seine Kirche liebt, der darf auch umgekehrt nicht die Kirche zur Dienerin von Parteien oder anderen Machtgruppen machen wollen. Das sollten auch die nicht anstreben, die als treue Glieder ihrer Kirche auch ihr politisches Tun christlich verantworten möchten.

Ich bin mir klar, daß ein solcher Satz dazu dienen könnte, die von manchen Pfarrern unserer Kirche schon allzu ängstlich geübte Zurückhaltung noch zu bestärken. Mancher hält es für seine Pflicht, jedes auf klares Urteil weisende Wort im Zusammenhang mit der Politik zu vermeiden und auch seine eigene politische Mitarbeit als Staatsbürger auf ein Minimum zu reduzieren. Nun darf man nicht vom Pfarrer erwarten, daß er für oder gegen die NATO predigt. Aber daß er den Anspruch auf Freiheit und Rechtssicherheit in Schutz nimmt, das ist er nicht etwa einer politischen Partei oder dem nationalen Interesse seines Volkes schuldig, sondern dem Gott, der das Recht will und nicht das Unrecht. Die Kirche von heute muß deshalb selbstverständlich den totalitären Zwangsstaat ablehnen. Soll sie davon nichts sagen, nur weil sie darin mit politischen Parteien und Machtgruppen übereinstimmt? Oder: Die Kirche von heute muß den Mut haben, für die legitime Autorität in der Familie, in der Schule, im Staat offen und klar einzutreten. Das ist sie nicht dem Establishment, sondern Gottes Gebot und Ordnung schuldig. Sollte sie das nicht tun, aus Furcht vor den Verfechtern einer mißverstandenen Freiheit, die auch die Autorität der Bibel verlachen? 2. Die Reformationskirchen sehen mit Recht in dem Glauben an die vergebende Gnade Gottes das Zentrum kirchlicher Verkündigung. Diesem Glauben kommt nicht nur eine entscheidende persönliche Bedeutung für den Einzelnen, sondern auch eine politische Bedeutung zu. Menschen, die an die Kraft und die Realität der Vergebung glauben, haben ein anderes, ein produktiveres Verhältnis zur Geschichte und zu den politischen Möglichkeiten. Wenn es überhaupt eine innere Bewältigung unserer eigenen Geschichte für uns selber gibt, dann ganz gewiß nicht im Zeichen des gedankenlosen Vergessens, sondern der christlichen Vergebung. Der Glaube an ihre Kraft und Möglichkeit vermag über Enttäuschungen hinweg auch die Außenpolitik unseres Staates bereit und offen zu halten für die Verständigung und Versöhnung — selbst mit dem einstweilen ganz anders gestimmten Osten.

Aufgaben des Christen in der Politik

3. Der Glaube an die Realität der Vergebung und der christliche Ausblick auf die Vollendung der Welt im Reiche Gottes setzen Proportionen und Horizonte, unter denen der Krampf und die lächerliche Eitelkeit, die dem politischen Alltag eben auch innewohnen, zur beschämenden Bagatelle werden. Wer in der Politik den Kampf um die Macht nicht ernst nimmt, der ist nicht ein besonders guter Christ oder ein bedeutender Geist, sondern er ist nur ein Dilettant. Aber wenn ein Christ um des Besitzes der Macht willen bereit ist, alles zu tun, wenn ihm der plane Opportunismus höchste Weisheit ist, dann lebt er im Abfall, auch wenn er einer christlichen Partei angehört und Gründe hat, die sich hören lassen.

Ein Christ in der Politik darf allerdings auch kein Schrebergärtner der Gewissenskultur sein. Wer nur das Kunstwerk seiner eigenen Selbstvollendung kennt, der sollte sich weder auf die Kirche berufen noch mit der Politik befassen. Auf der anderen Seite gibt es Entscheidungen, die über das Maß des individuell Tragbaren gehen können. Ich denke zum Beispiel an den 20. Juli 1944. Von entgegengesetzter Art aber und heute viel aktueller ist der feile Opportunismus, der um des Macht-besitzes willen zur Verführung vieler wird. Es gibt Situationen, in denen ein Christ auch dann, wenn er im hohen politischen Amte steht, auf jede Gefahr hin schließlich nur noch sagen kann: Das tue ich nicht, das ist mir diese Welt nicht wert!

Ich glaube, daß es eine Aufgabe der Kirche ist, eine solche letzte innere Distanz zu den Dingen dieser Welt auch in der Politik zu unterstützen. Das entspräche jedenfalls jener Gelassenheit, die ein Wesensmerkmal der Christenheit seit den Tagen der Urkirche ist. In unserer Zeit könnte die Kirche damit zugleich einen Beitrag leisten für den Gleichmut, ohne den die Unbill und auch die nicht seltene Gemeinheit des politischen Kampfes kaum zu ertragen sind. Sie könnte damit auch einen Beitrag für die Entkrampfung unseres politischen Lebens leisten. Und sie könnte alles in allem daran mitarbeiten, dem unvermeidlichen Kampf um die Macht jene Humanität zu geben, ohne die sich eine Demokratie auf die Dauer nicht behaupten kann.

Das sind nur einige Hinweise darauf, daß die Kirche der Politik einiges Wesentliche zu sagen hat und daß sie das tun kann, ohne Gefahr zu laufen, darüber im Drahtverhau der politischen Sachund Fachdiskussion hoffnungslos steckenzubleiben.

Vor einigen Jahren hatte ich einmal öffentlich Antwort zu geben auf die Frage, was denn die Kirche der Politik zu sagen habe. Ich sprach manches aus, was ich heute wiederum gesagt habe. Man könnte jedoch auch einmal darüber reden, was denn die Politik der Kirche zu sagen hat. Ich möchte dazu heute nur einen einzigen Satz beitragen. Wenn die Politik recht beraten ist, dann kann sie die ganze weite Kirche Jesu Christi nur bitten zu bleiben, was sie mit ihrer Botschaft und Bestimmung ist: der einzige wahre Trost dieser Welt.

Fussnoten

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Eugen Gerstenmaier, Prof. D. Dr., Präsident des Deutschen Bundestages, Oberkonsistorialrat. Geboren 25. August 1906 in Kirchheim/Teck. Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Promotion an der Universität Rostock. 1935/37 Habilitation in Rostock und Berlin. 1938 Entziehung der Dozentur. Wiss. Hilfsarbeiter im Kirchlichen Außenamt der Deutschen Evangelischen Kirche. Mitglied des Kreisauer Kreises. Nach dem 20. Juli 1944 Zuchthaus. 1945/51 Leiter des Hilfswerks der EKiD. Mitglied des Deutschen Bundestages seit 1949, Präsident des Deutschen Bundestages seit 1954. Veröffentlichungen u. a.: Die Kirche und die Schöpfung, Berlin 1938; Reden und Aufsätze, Bd. I Stuttgart 1956, Bd. II 1962; Die NATO-Reform im Sicherheitssystem der freien Welt, Bonn 1964; Neuer Nationalismus? Zur Wandlung des deutschen Nationalbewußtseins, Stuttgart 1965; Konrad Adenauer — Ehrung und Gedenken, Stuttgart 1967.