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über die Tätigkeit der gemischten UNESCO-Kommission zur Verbesserung von Schulbüchern in der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland | APuZ 22/1978 | bpb.de

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APuZ 22/1978 Artikel 1 Die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen im Widerstreit über die Tätigkeit der gemischten UNESCO-Kommission zur Verbesserung von Schulbüchern in der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland Die Bundesrepublik Deutschland aus polnischer Sicht

über die Tätigkeit der gemischten UNESCO-Kommission zur Verbesserung von Schulbüchern in der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland

Wladyslaw Markiewicz

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Zusammenfassung

Die Veröffentlichung der gemeinsamen Empfehlungen der UNESCO-Kommission zur Verbesserung von Schulbüchern in der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland bilden in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen einen Präzedenzfall von großer Bedeutung. In der Bundesrepublik Deutschland wurden die „Empfehlungen" und die Einstellung ihnen gegenüber zu einem Element eines . spezifischen Spiels'; deshalb sind dort Umfang und Intensität der an den „Empfehlungen" geübten Kritik bedeutend größer als in Polen. Der Autor wendet sich gegen die Behauptung, daß dem Schulbuch gegenwärtig eine immer geringere Bedeutung zukomme. Er kritisiert die in der Presse und anderen öffentlichen Äußerungen stereotyp wiederholten Anschuldigungen gegenüber den Mitgliedern der gemeinsamen Schulbuch-Kommission. Sie bezweckten, in der öffentlichen Meinung das Vertrauen zu Menschen zu untergraben, die der großen Sache der Erziehung der Jugend in Polen und in der Bundesrepublik im Geiste der gegenseitigen Verständigung und Versöhnung dienten. Weiterhin wehrt der Autor die Vorwürfe ab, daß die Empfehlungen keine vollkommen ausführliche Darstellung der polnisch-deutschen Beziehungen enthielten und die letzten sechs „Empfehlungen", die die Zeitgeschichte betreffen, die geschichtliche Wahrheit bewußt fälschten. Es geht u. a. um den Molotow-Ribbentrop-Pakt und um die Darstellung des Problems der Bevölkerungsverschiebung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die der gemeinsamen Schulbuch-Kommission erteilte Unterstützung von führenden Politikern und die positive Einstellung zahlreicher Institutionen und Organisationen gegenüber den „Empfehlungen" geben Grund zu der Überzeugung, daß die Einführung der . „Empfehlungen" in die Praxis gelingen wird.

Es hätte — wie ich meine — keinen Zweck, in diesen Äußerungen an die Bedeutung der Tatsache zu erinnern, daß nach über vierjähriger mühsamer Arbeit von Experten aus der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland gemeinsame Empfehlungen der Schulbuchkommission veröffentlicht worden sind. Auch die Gegner der Empfehlungen verhehlen nicht, daß dies in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen ein Präzedenzfall ist, wobei sie diesen Präzedenzfall jedoch für schädlich und gefährlich halten. Ich möchte auf die Vorwürfe und kritischen Bemerkungen den „Empfehlungen" gegenüber näher eingehen, weil nach der erfolgreichen ersten Arbeitsetappe, das heißt nach der endgültigen Redaktion und Veröffentlichung der „Empfehlungen", die Einführung dieser -Emp in die Schulpraxis ein vorrangiges, fehlungen unaufschiebbares Problem wird. Alle Unklarheiten hinsichtlich des inhaltlichen Wertes und der politischen Bedeutung der „Empfehlungen" müssen sich, selbstverständlich, auf den Prozeß ihrer Verwirklichung im Schulsystem beider Länder hemmend auswirken.

In der Bundesrepublik Deutschland wurden die „Empfehlungen" und die Einstellung ihnen gegenüber zu einem Element eines spezifischen politischen Spiels; deshalb sind dort Umfang und Intensität der an den „Empfehlungen" geübten Kritik bedeutend größer als in Polen. Die polnische Öffentlichkeit hat die Ausarbeitung der „Empfehlungen" eindeutig als großen Erfolg der Politik der Normalisierung der Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland angesehen, die Fachkritik hält den „Empfehlungen" lediglich kleine Mängel vor, deren sich die Verfasser übrigens größtenteils bewußt sind. Die meisten gegen die „Empfehlungen" gerichteten Einwände und Vorwürfe wiederholen sich immer wieder, obwohl Sprecher der Schulbuchkommission in zahlreichen öffentlichen Äußerungen darauf geantwortet und Unklarheiten erläutert haben. Es bleibt nichts anderes übrig, als zu den von unseren Opponenten vorgebrachten Einwänden wiederholt Punkt für Punkt Stellung zu nehmen, in der Hoffnung, daß es uns vielleicht diesmal gelingt, sie zu überzeugen.

Sowohl in der Volksrepublik Polen als auch in der Bundesrepublik Deutschland neigen einige Pädagogen und Laien dazu, die Bedeutung der „Empfehlungen" herabzusetzen, indem sie behaupten, daß dem Lehrbuch gegenwärtig im Erziehungsprozeß und in der Schulausbildung eine immer geringere Bedeutung zukomme. Als Antwort auf diese skeptischen Bemerkungen sollte man — wie ich meine — folgende Argumente anführen: 1. Wie Erfahrungen derjenigen Länder zeigen, in denen versucht worden ist, auf das Lehrbuch als Hauptwerkzeug des Schulunterrichts zu verzichten und es durch sogenannte audiovisuelle Medien zu ersetzen, ist diese Innovation mißlungen. Auf längere Sicht halten nämlich weder Lehrer noch Schüler die psychische Belastung aus, der sie durch die ermüdende Einwirkung der visuellen Technik ausgesetzt sind, wenn diese übermäßig Tag für Tag und fast in jeder Unterrichtsstunde eingesetzt wird. Im Zusammenhang damit haben im Juli 1976 auf der internationalen Konferenz über multilaterale Zusammenarbeit bei der Säuberung der Lehrbücher von nationalistischen Einflüssen im Ostkolleg der Bundeszentrale für politische Bildung in Köln Vertreter aus neun Ländern es für notwendig erachtet, daß das Lehrbuch seine ursprüngliche Bedeutung wiedergewinnt. 2. In vernünftigem Ausmaß angewendete audiovisuelle Medien in der Schulund außerschulischen Didaktik schränken die Rolle des Lehrbuches durchaus nicht ein, sondern erhöhen im Grunde genommen seine Bedeutung. Bei näherer Betrachtung stellt es sich nämlich heraus, daß sowohl von Rundfunk und Fernsehen als auch von Lexika und Wörterbüchern vermitteltes Wissen meistens eine typische Vermittlung von Lehrbuchwissen darstellt. 3. In den auf den einzelnen Tagungen der Schulbuchkommission gefaßten Beschlüssen wurde mehrfach betont, daß, obwohl die Be-B Zeichnung der Kommission dies nicht direkt ausdrückt, sich die von der Kommission ausgearbeiteten Empfehlungen nicht nur auf Schulbücher beziehen, sondern auf alle Lehrmittel, die von Lehrern und Schülern in Anspruch genommen werden.

Sehr unangenehm sind die in der Presse und anderen öffentlichen Äußerungen starrsinnig wiederholten Anschuldigungen gegenüber den Mitgliedern der gemeinsamen Schulbuchkommission. Sie bezwecken, in der öffentlichen Meinung das Vertrauen zu Menschen zu untergraben, die, von edlen Beweggründen geleitet, beschlossen haben, uneigennützig ihr Wissen und ihre Zeit der großen Sache der Erziehung der Jugend in Polen und der Bundesrepublik im Geiste der gegenseitigen Verständigung und Versöhnung zu widmen. über das politische Antlitz der polnischen Expertengruppe haben Teile der bundesrepublikanischen Presse geschrieben, daß sie von dem kommunistischen Regime sorgfältig unter Parteiaktivisten, darunter auch Mitgliedern des Zentralkomitees, ausgewählt worden sei. Erklärungen dieser Art sind deshalb so tükkisch, weil sie faktisch an den in der Zeit des Kalten Krieges kompromittierten blinden Antikommunismus anknüpfen, indem sie suggerieren, ein Kommunist — wenn auch Gelehrter — könne kein objektiver und ehrlicher Mensch sein und müsse blind die Aufträge seiner Machthaber ausführen. Ein polnischer Kommunist könne sich von Natur aus nicht aus freiem Willen für eine echte Verständigung mit dem deutschen Volk einsetzen. Daß es dabei darum ging, in der öffentlichen Meinung der Bundesrepublik Deutschland die eben genannten Ressentiments hervorzurufen, bezeugt die Tatsache, daß diejenigen Personen, welche die polnische Expertengruppe als politisch monolith dargestellt haben, sich nicht die geringste Mühe gemacht haben, diese Denunziation empirisch zu überprüfen, obwohl sie dies leicht hätten tun können. So ist zum Beispiel die Zusammensetzung des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei fast in der gesamten polnischen Presse veröffentlicht worden. Auch die Parteimitgliedschaft ist kein Geheimnis, und von der ideologischen und weltanschaulichen Orientierung der polnischen Experten zeugen ihre Veröffentlichungen. Der pluralistische Charakter des polnischen Teiles der gemeinsamen Schulbuchkommission lag also auf der Hand, und es bedurfte wirklich eines großen Maßes an bösem Willen, dies nicht wahrnehmen zu wollen. Soweit ich orientiert bin, hat — dennoch — keiner der Verkünder dieser „Enthüllungen" seine Behauptungen dementiert; deshalb besteht der begründete Verdacht, daß Versuche einer politischen Dämonisierung der polnischen Experten in der Bundesrepublik Deutschland — leider — weiterhin fortgesetzt werden.

Wenn in dieser Situation die polnischen Mitglieder der Kommission eines Trostes bedürften, so könnte es der Umstand sein, daß ihre deutschen Kollegen von den eigenen Landsleuten noch schlimmer behandelt worden sind. Es wird ihnen nämlich das Fehlen sowohl politischer Repräsentanz als auch fachlicher Kompetenz vorgeworfen. Diese ungerechten und nicht der Realität entsprechenden „Vorwürfe" wurden von objektiven Beobachtern wiederholt dementiert: sie werden aber immer noch hartnäckig wiederholt.

Mit Bedauern muß ich feststellen, daß auch in Polen eines der Mitglieder der deutschen Expertengruppe von einigen Journalisten ungerecht beurteilt wurde. Ich denke aber, daß es uns gelungen ist, ihm Satisfaktion zu verschaffen, indem wir in unserer Presse den Artikel veröffentlichen ließen, der die Ursache für die ungerechte Kritik gebildet hatte.

Versuche, in politischer, fachlicher und moralischer Hinsicht die gemeinsame Schulbuch-kommission zu diskreditieren, bilden eine Voraussetzung zur Formulierung der These, daß eine solche Kommission nicht in der Lage war, objektiven und wissenschaftlichen Kriterien entsprechende Empfehlungen auszuarbeiten. Wenn man also diese „Empfehlungen" als verbindlich ansehen wollte, würde man den in den Schulbüchern ausgedrückten Sachverhalt in Wirklichkeit verschlechtern, was der Normalisierung der Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland nicht dienlich wäre, sondern, im Gegenteil, dieser Normalisierung Schaden zufügen würde. Die angeblichen Befürworter der reinen Wahrheit machen den Verfassern der „Empfehlungen" folgende Vorwürfe: a) Es wird behauptet, die Empfehlungen enthielten keine vollkommen ausführliche Darstellung der Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen oder auch der Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland. Die Unbegründetheit dieses Vorwurfs, der von Naivität beziehungsweise von schlecht verborgenem bösem Willen der Kritiker zeugt, beruht darauf, daß jedes Lehrbuch — auch ein Universitätslehrbuch — in seinem Wesen eine vereinfachte, unvollständige Darstellung bietet und sich dadurch von einer wissenschaftlichen Monographie unterscheidet. Außerdem müs-sen die an Schulbuchautoren und Lehrer adressierten „Empfehlungen" notwendigerweise thesenartig verfaßt sein; es wird nämlich — vielleicht zu optimistisch — vorausgesetzt, daß die Betreffenden bereits über ein bestimmtes Quantum an Wissen über das Lehrfach verfügen, auf das diese „Empfehlungen" zutreffen. In Wirklichkeit informieren die Empfehlungen in ihrer kondensierten Form umfangreicher und eingehender über die Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen als ein bisheriges Geschichtslehrbuch. Außerdem waren sich die Verfasser der „Empfehlungen" bewußt, daß manche Probleme zu lakonisch und oberflächlich behandelt worden sind, und sprechen sich in der Schlußakte der Schulbuchkonferenzen für die Veranstaltung wissenschaftlicher Seminare zu bestimmten Themen aus. Zwei wissenschaftliche Konferenzen dieser Art — über den Deutschen Orden und die antifaschistische Widerstandsbewegung in Polen und Deutschland — haben, wie bekannt, bereits stattgefunden; weitere Konferenzen werden kontinuierlich organisiert. Die Materialien dieser Konferenzen sollen zur Ergänzung der „Empfehlungen" dienen. b) Als die einzelnen Ergänzungen zur älteren Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen veröffentlicht wurden und der Schwerpunkt der Arbeit der Kommission sich auf die Zeitgeschichte hinbewegte, vergaßen die Kritiker der „Empfehlungen" oft ihre früheren Einwände und begannen, ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf die Festlegungen zur Zeitgeschichte zu konzentrieren. Den letzten sechs „Empfehlungen" wird direkt vorgeworfen, die geschichtliche Wahrheit bewußt zu fälschen, weil die deutschen Experten dem „Diktat polnischer Marxisten" nachgegeben hätten. Ein Beweis für diese Fälschung sei vor allem die Tatsache, daß in den „Empfehlungen" bestimmte Ereignisse nicht berücksichtigt worden seien, die auf die gegenseitigen Beziehungen zwischen Polen und dem Dritten Reich zweifellos einen Einfluß ausgeübt hätten, obwohl eine der beiden Seiten dabei nicht als Partner aufgetreten sei. Es handelt sich hierbei in erster Linie um den Ribbentrop-Molotow-Pakt und die sogenannte vierte Teilung Polens. Wir haben wiederholt erklärt, daß eines der Grundprinzipien unserer gemeinsamen Arbeit das der Beachtung der Bila-teralität ist. Der Ribbentrop-Molotow-Pakt war eine deutsch-sowjetische Angelegenheit, und ihre Einschätzung für den Schulbuchgebrauch sollte von Experten aus der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland vorgenommen werden. Es ist charakteristisch, daß die Kritiker, die bemerkt haben, daß die Frage des Ribbentrop-Molotow-Paktes in den „Empfehlungen" nicht berücksichtigt worden ist, niemals Zweifel hegten, daß in Überein-stimmung mit dem Prinzip der Bilateralität in den „Empfehlungen" auch das Münchener Abkommen nicht berücksichtigt worden ist. Die Verfasser der „Empfehlungen" waren sich von Anfang an darüber im klaren, daß sich sowohl die Schulbuchautoren als auch die Lehrer nicht sklavenhaft an die „Empfehlungen" halten würden und nicht darüber hinaus gehen würden, was in den Empfehlungen expressis verbis enthalten ist. Wir verheimlichen nicht, daß wir nicht daran interessiert sind, dem polnischen Schüler eine solche Interpretation der Beziehungen zwischen dem Dritten Reich und der UdSSR zu vermitteln, die dem polnisch-sowjetischen Bündnis Schaden zufügen würde. Andererseits bringen wir dem Umstand Verständnis entgegen, daß zum Beispiel die Schüler der Bundesrepublik nicht an drastische Einzelheiten der Behandlung deutscher Kriegsgefangener in französischen Lagern erinnert werden. c) Der zweite von den Gegnern der „Empfehlungen" am häufigsten geäußerte Vorwurf, der beweisen soll, daß in ihnen geschichtliche Wahrheit entstellt wird, ist die angeblich falsche Darstellung des Problems der Bevölkerungsverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Fortwährend redet man uns als Verfassern der „Empfehlungen" ein, wir hätten das Wort „Vertreibung" durch die euphemistische Bezeichnung „Transfer" ersetzt, um dadurch die Tragödie der zum Verlassen ihrer Heimat gezwungenen Menschen zu verschleiern. Die Empfehlung Nr. 22 aufmerksam und vollständig — und nicht in besonders ausgewählten Fragmenten, wie das unsere Kritiker tun — durchzulesen, genügt, um sich davon zu überzeugen, daß die uns unterstellten Absichten einfach erfunden sind.

Als die Diskussion um die Einführung der „Empfehlungen" in die Schulpraxis beider Länder auf die Tagesordnung rückte, wurde die Frage nach dem Charakter der „Empfehlungen" und in gleichem Maße auch ihrer Verbindlichkeit erhoben. Es gab u. a. Versuche, den Begriff „zalecenie" („Empfehlung") selbst zu interpretieren, was sogar innerhalb der gemeinsamen Kommission Mißverständnisse hervorgerufen hat. So wurde zum Beispiel in manchen öffentlichen Äußerungen betont, daß „zalecenie" („Empfehlung") nicht den Begriffen „przekaz" („Anweisung") oder „polecenie" (Auftrag") entspricht, auch nicht dem der „zarzdzenie („Anordnung") und ganz bestimmt nicht dem des „Befehls"; und wer weiß, ob nicht sogar die Bezeichnung „Richtlinien" (wytyczne kierunkowe) inhaltlich dem Begriff „Empfehlung" (zalecenie) entspricht. Die manchmal etwas sophistischen Überlegungen mancher unserer deutschen Kollegen über den Sinn des Begriffs „Empfehlung" wurden von einem Teil der öffentlichen Meinung in Polen als Versuch verstanden, die Bedeutung der „Empfehlungen" zu minimieren und ihre verbindliche Kraft weitgehend einzuschränken. Meiner Ansicht nach ist es überflüssig, für das Wort „zalecenie" („Empfehlung") Ersatz-oder Ergänzungsbezeichnungen zu suchen; es genügt vollkommen, wenn wir uns an die Implikation halten, die das Wort in beiden Sprachen enthält. Und zwar: wenn jemandem im Zusammenhang mit seinem bisherigen Handeln etwas empfohlen (zalecac) wird, so wird er damit darauf aufmerksam gemacht, daß sein Handeln nicht richtig oder sogar schädlich war und daß er dieses Handeln unterlassen sollte. Gleichzeitig schlägt man ihm vor, sich zu anderem Handeln zu entschließen, das wünschenswerter und günstiger ist und zum erstrebten Ziele führt. Das Wort „zalecenie"

(„Empfehlung") enthält also sowohl rationale Implikationen wie auch eine moralische Wertung. Die Experten können wegen ihrer ehrenamtlichen Stellung lediglich empfehlen; oder — wenn schon jemand dringend einen Ersatz-begriff finden will — sie können „rekomman-

dieren", aber sie können nicht verfügen oder befehlen. Die Verfügungsgewalt unterliegt der Kompetenz der Exekutivorgane — im Falle von Schulbüchern sind es in der Bundesrepublik Deutschland die Landesregierungen, in der Volksrepublik Polen das Ministerium für Bildung und Erziehung. Eben diese Organe können „verfügen" oder „anordnen", daß die Verleger, Schulbuchautoren und Lehrer diese „Empfehlungen" respektieren. Sie können auch — wie das bereits einige Landesregierungen getan haben — die „Empfehlungen" ablehnen, indem sie den Standpunkt vertreten, daß der gegenseitige Sachverhalt zufriedenstellend ist, jedenfalls besser als nach einer eventuellen Verwirklichung der „Empfehlungen". Es ist verständlich, daß die Gegner einer Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland diesen Standpunkt vertreten, aber in diesem Fall sollten sie es nicht als Beleidigung auffassen, wenn man sie als Revanchisten bezeichnet. Dagegen muß man die Elastizität des Gewissens derjenigen Gegner der „Empfehlungen" bewundern, die diese „Empfehlungen" ablehnen und gleichzeitig der Meinung sind, daß die aktuelle Lage eben im Namen der Versöhnung beider Völker verbessert werden sollte. Dieser Standpunkt entbehrt jeglicher Logik und Grundsätzlichkeit.

Mit der Vorstellung der Skala kritischer Einwände und Vorwürfe, die gegen die „Empfehlungen" und ihre Verfasser mit der deutlichen Tendenz gerichtet werden, den Normalisierungsprozeß zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland zif erschweren, möchte ich nicht den Eindruck erwecken, als hielte ich die Frage im Hinblick auf die Einführung der „Empfehlungen" in die Praxis für hoffnungslos. Im Gegenteil, die der gemeinsamen Schulbuchkommission von führenden Politikern erteilte Unterstützung, die positive Einstellung zahlreicher Institutionen und Organisationen gegenüber den „Empfehlungen" — besonders der Lehrerverbände, bedeutender Schulbuchverleger und zahlreicher Journalisten von Presse, Rundfunk und Fernsehen — geben Grund für die Hoffnung und sogar die Überzeugung, daß unsere Arbeit die gewünschten Früchte trägt. Ich denke dabei an die Worte von Bundeskanzler Helmut Schmidt bei seinem letzten Besuch in Warschau (ich zitiere aus dem Gedächtnis): „Noch unlängst erforderte die Äußerung der Idee der Normalisierung zwischen unseren Ländern Mut — heute erfordert die Fortsetzung dieses Prozesses vor allem Geduld."

Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, als würde die Annahme der „Empfehlungen" durch die Schulbehörden in der Volksrepublik Polen und in der Bundesrepublik Deutschland zur völligen Vereinheitlichung des Weltbildes im Bewußtsein der Jugend beider Länder führen. In einer Situation, in der in beiden Ländern entgegengesetzte und miteinander konkurrierende sozial-ökonomische und politisch-gesellschaftliche Systeme bestehen, ist das einfach nicht möglich. Aber eben deshalb, weil es in niemandes Interesse liegt, die objektiven Gegensätze in einen offenen Antagonismus in Form eines „Kalten" oder gar „Heißen" Krieges umzugestalten, bildet eine objektive und ausgewogene Auswahl von Fakten sowie deren Interpretation ohne Vorurteile eine notwendige Voraussetzung für ein besseres gegenseitiges Kennenlernen der Völker und das gegenseitige Verständnis ihrer Probleme sowie der Besonderheiten ihrer Entwicklung. Die „Empfehlungen" bilden also einen wichtigen Schritt auf dem Wege zur Festigung der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland und die einzig mögliche Alternative, vor der die Menschheit gegenwärtig steht: die der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftssysteme.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Wladyslaw Markiewicz, geb. 1920 in Ostrowo, ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers Mauthausen-Gusen (1941— 1945), studierte Soziologie an der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen, promovierte 1959, habilitierte sich 1961; seit 1966 Professor und Direktor der Westinstituts in Posen; seit 1971 Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften; seit 1972 Professor der Warschauer Universität und wissenschaftlicher Sekretär der I. Abteilung für Gesellschaftswissenschaften der PAdW; Chefredakteur der soziologischen Zeitschrift „Studia Socjologicne" und von „Polish Western Affairs"; seit 1972 Vizepräsident und Mitglied des Präsidiums der Polnischen UNESCO-Kommission; seit 1974 Delegierter der Internationalen Soziologischen Gesesellschaft (ISA) im Internationalen Sozialwissenschaftlichen Rat (ISSC) der UNESCO; seit 1972 Vorsitzender des polnischen Teiles der gemeinsamen polnisch-bundesrepublikanischen Schulbuch-Kommission. Veröffentlichungen von ca. 300 wissenschaftlichen Arbeiten aus dem Bereich der Industrie-, Nationalitäts-und Politischen Soziologie sowie der Zeitgeschichte, u. a. eine Monographie unter dem Titel „Gesellschaft und Soziologie in der Bundesrepublik Deutschland" (1966).