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Zum Flüchtlingsproblem in kriegerischen Konflikten | APuZ 8/1981 | bpb.de

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APuZ 8/1981 Artikel 1 Zum Flüchtlingsproblem in kriegerischen Konflikten Ausweg — in die Sackgasse? Stellungnahme zum Beitrag von Hans-Jürgen Schilling Weibliche Soldaten für die Bundeswehr? Zur öffentlichen Diskussion eines Personal-Problems

Zum Flüchtlingsproblem in kriegerischen Konflikten

Hans-Jürgen Schilling

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im Interesse einer ausgewogenen Entwicklung der Gesamtverteidigung muß eine Wende des öffentlichen Bewußtseins in Fragen des Zivilschutzes befürwortet werden. Begrenzte Kriegshandlungen in Mitteleuropa erscheinen möglich, und die jetzigen Vorkehrungen zum Schutz der Zivilbevölkerung reichen nicht aus. Ein wichtiger Teilaspekt des Zivil-schutzes ist das Aufenthaltsproblem, insbesondere die Frage, wie unkontrollierte Flüchtlingsbewegungen verhindert werden können. Die bis jetzt geltenden Konzeptionen (StayPut-Policy) wecken zum einen grundsätzliche Zweifel hinsichtlich ihrer Durchführbarkeit, zum anderen fehlt es an überzeugenden planerischen und administrativen Vorbereitungen, um sie zu verwirklichen. Ihre Unterstützung durch die Errichtung von Schutzbauten stößt aufgrund der Finanzprobleme der öffentlichen Hand auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Aber selbst die Existenz einer ausreichenden Zahl von Bunkern würde das Fluchtproblem nicht aus der Welt schaffen. Der Verfasser schlägt vor, ein System unverteidigter Orte in der Bundesrepublik zu schaffen, die im Spannungs-oder Verteidigungsfall die Bevölkerung des Umlandes aufnehmen und für die Dauer von wenigen Wochen versorgen könnten. Auf der Grundlage des Kriegs-bildes einer konventionellen Auseinandersetzung von kurzer Dauer, in der es allenfalls zu punktuellen taktischen Nuklearschlägen kommen würde, soll dieses Modell der Zivilbevölkerung insgesamt eine Chance einräumen, gegen Waffenwirkung geschützt zu werden, ohne wehrwirtschaftliche Sachzwänge und die militärischen Interessen der Konfliktgegner zu verletzen. Der Beitrag versucht ferner für den Zivilschutz die Erkenntnis nutzbar zu machen, daß die Besonderheiten moderner Rüstungstechnik sowie taktische Überlegungen Angreifer wie Verteidiger zwingen, den Kampf um größere Städte möglichst zu vermeiden. Die Einrichtung unverteidigter Orte steht auch im Einklang mit der Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts.

Dringend not tut heute eine Wende des öffentlichen Bewußtseins in Fragen des Bevölkerungsschutzes,“ mahnt Carl-Friedrich von Weizsäcker, und er fährt fort: „Es handelt sich darum, seit Jahrzehnten Versäumtes rasch, maßvoll, entschlossen und ohne Panik nachzuholen ... Begrenzte Kriegshandlungen in unserem Lande sind möglich, und ob es, vielleicht in wenigen Jahren, zu ihnen kommt, hängt nicht allein von uns ab... Die Meinung, der Friede sei schon gesichert, war immer ein Irrtum. Die Meinung, jeder mögliche Krieg sei übergroß, daß es keinen Schutz gegen ihn gäbe, ist ebenfalls irrig. Es macht einen Unterschied, ob wir für den Schutz etwas tun oder nicht."

Diese Einsicht gilt ganz besonders für einen wichtigen Teilaspekt des Zivilschutzes, für die Regelung des Aufenthaltes der Zivilbevölkerung. Hier eine Lösung zu besitzen oder nicht, kann den Unterschied zwischen tausendfachem Tod oder Leben und zwischen dem Untergang des Staatswesens oder seinem Fortbestand bedeuten.

Welcher Krieg erscheint möglich und welche Schäden drohen durch ihn einzutreten, denen mit Zivilschutz wirksam zu begegnen wäre?

Die Bundesrepublik würde keinen Zivilschutz benötigen, wenn sie unter dem Eindruck eines übermächtigen Angriffs auf bewaffnete Gegenwehr verzichtete und kapitulierte. Dies ist nicht die Absicht der deutschen Politik.

Das andere Extrem wäre die totale Zerstörung der Bundesrepublik durch Kernwaffen mit Megatonnen Sprengkraft und radioaktiver Nachwirkung. Die Mittelstreckenraketen, die gegen Westeuropa in Stellung gebracht sind, reichen dazu aus. Hiergegen kann die Bundesrepublik kein technisch, finanziell und politisch denkbarer Bunkerbau schützen. Vor diesem Schicksal bewahrt nur die Angst der Supermächte, die eine weltweite Apokalypse vermeiden wollen, nicht aber europäischer Zivilschutz.

Es gibt aber unterhalb der strategischen Atomschwelle ein breites Spektrum von Kampfhandlungen kurzer Zeitdauer mit begrenztem, wenn auch intensivem Waffeneinsatz. Carl-Friedrich von Weizsäcker rechnet für die achtziger Jahre im Fall eines begrenzten Krieges in Europa mit einem konventionellen Angriffsbeginn eines möglichen Gegners, dem der Westen binnen weniger Tage mit taktischen Nuklearschlägen begegnen müßte.

Nur ein solcher begrenzter Konflikt besitzt in Mitteleuropa eine gewisse politische Plausibilität. Die mit ihm verbundenen Schadenserwartungen lassen sich wie folgt umreißen:

— Die unmittelbare Waffenwirkung an Menschen und Sachen, — möglicher radioaktiver Niederschlag, — örtlicher oder gebietsweiser Zusammenbruch der Versorgung, — eventuelle Schockreaktion der Bevölkerung mit Massenflucht und Zusammenbruch der Verteidigung, — feindliche Besetzung von Teilen des Landes. Zivilschutzmaßnahmen können diese Schäden nicht ausschließen, sondern nur zum Teil begrenzen. Dies gilt auch für Planungen, die den Aufenthalt der Zivilbevölkerung betreffen.

Die derzeitige Konzeption der Aufenthaltsregelung für die Zivilbevölkerung ist von schlichter Einfachheit. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich im Rahmen des Bündnisses verpflichtet, alles in ihrer Macht Liegende zu tun, damit ihre Bevölkerung in einer Krise und im Krieg an ihrem Aufenthaltsort bleibt. Dieses Konzept ist bekannt unter dem Namen der Stay Put Policy. Die rechtlichen Grundlagen dafür finden sich im § 12 des Gesetzes über den erweiterten Katastrophenschutz. Danach kann der Hauptverwaltungsbeamte der kreisfreien Städte und Landkreise zum Schutz vor Gefahren und Schäden, die der Zivilbevölkerung durch Angriffswaffen drohen, oder für Zwecke der Verteidigung anordnen, daß der gewöhnliche Aufenthaltsort nur mit Erlaubnis verlassen werden darf. Die Einhaltung der getroffenen Bestimmungen soll mit den allgemeinen polizeilichen Möglichkeiten sichergestellt werden. Sinn dieser Konzeption ist es, die Menschen, die auf der Flucht jedes natürlichen Schutzes entbehren würden, wenigstens durch eine feste Wohnung gegen vielfältige Waffenwirkungen zu schützen. Außerdem sind sie in den Wohnungen für Vorsorge-und Hilfsmaßnahmen erreichbar und auch nicht den Unbilden der Witterung ausgesetzt. Zugleich dient diese Politik der wirksamen Durchführung aller militärischen Maßnahmen, weil so die Verstopfung der Verkehrswege durch Flüchtlingskolonnen vermieden wird.

Nur als Ausnahme von dieser Regel sieht § 12 Abs. 2 die vorübergehende Unterbringung von Bewohnern bestimmter, besonders gefährdeter Gebiete in anderen Gebieten vor, und auch dies nur nach Maßgabe des Art. 80 a des Grundgesetzes. Also nur dann, wenn — jeweils alternativ — der Bundestag den Eintritt des Verteidigungsfalls beschlossen hat, oder wenn, falls dem Zusammentritt des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen, bei Gefahr im Verzug der Bundespräsident mit Gegenzeichnung des Kanzlers eine entsprechende Feststellung getroffen hat, der Bundestag mit qualifizierter Mehrheit den Eintritt des Spannungsfalles festgestellt oder der Bundestag der Durchführung von Verteidigungsmaßnahmen besonders zugestimmt hat.

Welche Teile des Bundesgebietes als besonders gefährdet anzusehen sind, richtet sich nach militärischen Gesichtspunkten. Wegen des Grundsatzes der Vorneverteidigung wird es sich in aller Regel um grenznahe Bereiche handeln, in denen mit schweren Abwehrkämpfen gerechnet werden muß, sowie um Räume in unmittelbarer Nähe wichtigster militärischer Anlagen und — je nach Entwicklung der Gefechtslage — um ad-hoc gefährdete Gebiete. Da es sich um Ausnahmeregelungen handelt, würde nur ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung von Evakuierungsmaßnahmen erfaßt werden.

Die notwendigen Planungen zu erarbeiten, ist Aufgabe der militärischen Kommandobehörden in Zusammenarbeit mit den Bundesländern. Die Verantwortung für die Bevölkerungsbewegungen selbst würde den Ländern obliegen, die im Rahmen von Richtlinien und Grundsätzen des Bundesministeriums des Innern handeln.

Sicherheitsfragen sind ein besonders sensitiver Bereich. Die Klugheit würde es nahelegen, an dieser Konzeption nicht zu rütteln, solange die Chance besteht, daß sie als Politik vertretbar bleibt, was immer der eine oder andere Experte daran auszusetzen haben mag. Die Bun.desrepublik hat 20 Jahre damit leben können daß die Gesamtverteidigung auf der Annahme beruhte, die Appelle, im Konfliktfall zu Haus« zu bleiben, würden den Bürger überzeugen und gelegentliche Fluchtbewegungen mit den begrenzten Mitteln sehr knapper Ordnungs. kräfte gesteuert werden können. Warum sollte dies heute anders sein?

Eine grundlegende Änderung der Situation dürfte darin liegen, daß es, wie die Mahnungen Carl-Friedrich von Weizsäckers zeigen, eine weit verbreitete Sorge gibt, die internationale Lage könnte sich gefährlich zuspitzen, und dieses geschärfte öffentliche Bewußtsein es auf die Dauer nicht erträgt, mit offensichtli. eben Ungereimtheiten im Bereich des Zivil-Schutzes weiter auszukommen. Denn wie anders ist es zu erklären, daß trotz der strukturellen Haushaltsdefizite der öffentlichen Hand über ein aufwendiges Bunkerbauprogramm diskutiert wird, das noch vor zwei Jahren in der Öffentlichkeit kein Interesse gefunden hätte. Allein schon die Tatsache, daß die politische Diskussion sich einzelnen Aspekten des Zivilschutzes zuwendet, macht es notwendig, die Teilbereiche noch einmal zu überprüfen, um in Kenntnis aller Gesichtspunkte Entscheidungen vorzubereiten, mit denen begrenzte Mittel am sinnvollsten eingesetzt werden können.

Dabei liegt es für im Zivilschutz tätige Sanitätsorganisationen besonders nahe, sich mit der Aufenthaltsregelung zu befassen, weil ihre wichtige Rolle bei der Betreuung und Sanitätsversorgung der zivilen Bevölkerung natürlich entscheidend von der Frage beeinflußt wird, ob es künftig bei der Stay Put Policy bleibt oder einschneidende Reformen notwendig werden. In dem Bemühen, sich zu orientieren, verfolgen zivile Fachleute mit Sorge die Diskussion im militärischen Bereich, in der tiefe Zweifel an der bisherigen Aufenthaltskonzeption laut werden.

Um an den Bedenken der atlantischen Militärs teilzuhaben, bedarf es keiner Indiskretion aus Bonner Amtsstuben. Die Kritik ergibt sich authentisch aus dem Buch „Der Dritte Weltkrieg“, dessen Verfasser, Sir John Hackett, der vor wenigen Jahren die Heeresgruppe Nord befehligte, unter Auswertung aller operativen Kenntnisse das Szenario eines möglichen Krieges im Jahre 1985 entworfen hat. Viele der Prämissen, mit denen Hackett arbeitet sind umstritten, nicht aber die Tatsache, daß er ein durchaus plausibles Kriegsbild gezeichnet hat, in dem auch die Flüchtlingsproblematik behandelt wird. Hackett nimmt einen massiven konventionellen Angriff auf die Bundesrepublik an, -der innerhalb von 14 Tagen zu folgendem Frontverlauf führen würde: Die Natotruppen verteidigen eine Linie, die von Venloe über Duisburg und den Südrand des Teutoburger Waldes bis nach Paderborn verläuft, um dann scharf nach Süden abzuknicken, wo sie westlich von Kassel, Fulda, Würzburg und Augsburg den Alpenrand erreicht. Und es heißt dann über die Lage am ersten Tag:

Ebenso wie in anderen Teilen des Mittelabschnitts tauchte auch im Northag-Gebiet ein ernstes Problem auf. Ein ungeheurer sich ausbreitender Strom ziviler Flüchtlinge aus den Städten und Dörfern Niedersachsens bereitete schon jetzt die Schwierigkeiten, die man befürchtet und seit langem hatte kommen sehen. Es war ein wesentlicher Vorteil der Angreifer, wenn sie das Durcheinander steigern, aber die Hauptachsen ihres Vorstoßes beibehalten konnten. Erdkampfflugzeuge belegten daher diese Achsen pausenlos mit Maschinen-gewehrfeuer und kleinen Splitterbomben. Es war eindeutig weniger die Absicht derAngreifer, Verluste zuzufügen, als den Flüchtlingsstrom von den Straßen zu vertreiben, die sie benutzen wollten. Panzerpioniere, welche die Spitzenpanzer begleiteten, schoben verlassene zivile Fahrzeuge mit Spezialgeräten auf die Seite, ohne daß dabei das Tempo der vorrückenden Kolonnen merklich beeinträchtigt worden wäre. Einige Nebenstraßen waren bald verstopft und die alliierten Truppen wurden ernstlich durch ein Chaos aus Fußgängern und Fahrzeugen behindert, die trotz des unermüdlichen Einsatzes deutscher Polizei und Heimatschutzeinheiten kaum unter Kontrolle zu bringen waren.“

Am dritten Tag stellt sich folgende Szene dar:

. Die Flüchtlinge wurden im Süden wie im Norden zu einem akuten und wachsenden Problem. Große Menschenmassen aus Augsburg und Ulm hatten sich in Richtung Stuttgart in Bewegung gesetzt und eine schnell zunehmende Menge verängstigter Menschen sammelte sich in der Gegend von Karlsruhe. Das gleiche spielte sich dort ab, wo aus Würzburg und Nürnberg fliehende Menschen, deren Zahl durch Flüchtlinge aus den kleineren Orten noch größer wurde, auf Mannheim zuströmten. Aus dem Gebiet um Frankfurt herum flohen viele in Richtung Wiesbaden undMainz. Es bot sich allgemein ein Bildeines breiten und praktisch unkontrollierbaren Stroms von Osten nach Westen. Viele flohen zu Fuß, die Habseligkeiten auf Wagen verstaut, die von ihnen selbst oder von Tieren gezogen oder geschoben wurden. Dazu ein chaotisches Durcheinander von motorisierten Fahrzeugen aller nur denkbarer Art, die einfach stehengelassen wurden, wenn das Benzin ausgegangen war. An den Rheinübergängen war der Andrang ungeheuer. Es bereitete der deutschen Polizei und den Territorialtruppen zunehmend Mühe, die Brücken freizuhalten. Nach dem vierten Tag zeigten die energischen Anstrengungen der bundesdeutschen Polizei und der Territorialtruppen, den Flüchtlingsstrom in den Griff zu bekommen und ihn in das offene Land östlich des Flusses zu lenken, erste Erfolge. Das trug sehr dazu bei, den Druck auf die Rheinübergänge zu mildern, konnte aber nicht verhindern, daß Truppenbewegungen und anderer militärischer Verkehr stark gestört wurden.“

Von den täglichen Sorgen des Ernstfalles Frieden hinlänglich bedrängt, könnte jeder Amtsträger versucht sein, dieses Szenario als literarische Fiktion beiseite zu schieben. Der eine'oder andere Politiker mag sodann meinen, der mündige Bürger sei einsichtig genug, sich nicht im Konfliktfall auf das Wagnis einer Flucht ohne Ziel einzulassen und werde es vorziehen, zu Hause zu bleiben. Es gibt auch militärische Fachleute, die darauf bauen. Aber muß nicht der Gedanke beunruhigen, daß Hackett recht haben könnte, weil die Bundesrepublik im Konfliktfall voraussichtlich hilflos vor einem solchen Phänomen stehen würde? Selbst unterstellt, daß Gros der Bürger sei zunächst auch in grenznahen Gebieten so besonnen, nicht blindlings ins Ungewisse zu fahren, kann man doch nicht gewisse Erfahrungen übersehen, die in Krisenzeiten mit der Massenpsyche gemacht worden sind, nicht zuletzt in Europa, wo die verschiedenen Flüchtlingsbewegungen in Krieg und Frieden wenig Anhaltspunkte für solche Hoffnungen lassen. Im Krieg kann das Rinnsal weniger Flüchtlinge binnen Stunden zum jähen Strom anschwellen; es genügt, daß einer den Kopf verliert, sich auf den Weg macht und mit seiner Initiative ein Beispiel setzt, so daß seine Nachbarn, die in einer Krisensituation letztlich alle verunsichert sind, den Eindruck gewinnen, nun sei der Zeitpunkt zur Flucht gekommen. Die Massenflucht als mögliche Krisenlage gewinnt schon deswegen an Wahrscheinlichkeit, weil die These, der Bürger müsse doch begreifen, daß er zu Hause am besten aufgehoben sei, in zweifacher Hinsicht anfechtbar ist:

— Menschen flüchten nicht nur, um ihr Leben zu retten, sondern weil sie die mit der kriegeri-sehen Besetzung verbundenen Änderungen ihrer Lebensverhältnisse um jeden Preis vermeiden wollen, auch um den Preis hoher Lebensgefahr. Gerade in Deutschland bedarf der Satz keines weiteren Beweises. Er ist im übrigen auch international belegt, wie etwa ein Blick nach Südostasien zeigt.

— Die Annahme, das Verbleiben in einer festen Wohnung gewähre einen wesentlich höheren Schutz für Leib und Leben als die Flucht über die offene Landstraße, kann angesichts der gesteigerten Waffenwirkung eines modernen, konventionell geführten Gefechtes in dieser Allgemeinheit nicht mehr aufrechterhalten werden. Der Feuerorkan, den ein massiver Panzerangriff heutzutage auslöst, läßt in der Angriffstraße nur sehr geringe Überlebenschancen. Wegen des beweglich geführten Gefechts sind die Räume, die beide Seiten mit dichtem Feuer belegten, so wenig vorhersehbar und im Auf und Ab der Kampfhandlungen, die innerhalb kurzer Zeit erfolgen, so eng miteinander verknüpft, daß die Stay Put Policy die betroffene Bevölkerung einem Hazardspiel aussetzen würde. Auch der Bürger, der kein Wehrexperte ist, ahnt das. Genügt nicht die Vorstellung, die Bewohner eines Dorfes würden Zeugen eines deckenden Flächenfeuers auf die Nachbargemeinde werden, um panikartige Entwicklungen in Rechnung zu stellen? Es fördert sicher die sachliche Diskussion, wenn man die Gefährdungen für Flüchtlinge nicht überzeichnet. Annahmen etwa, der Gegner versuche die Panik der flüchtenden Menschen durch Waffenwirkung zu erhöhen, würden für eine ruhige Erörterung der Problematik wenig hilfreich sein, weil sie den Vorwurf hervorrufen, hier solle ein Feindbild geschaffen werden. Aber unumstritten dürfte sein, daß die Flüchtlingsströme die militärischen Aktionen beider Seiten stark zu behindern drohen, wie es auch in dem Szenario Hacketts dargestellt wird, und es war noch immer so, daß in Krisenzeiten sich die militärische Räson rücksichtslos über humanitäre Interessen hinweggesetzt hat, wenn die Lage es gebot. Man muß einfach zur Kenntnis nehmen, daß der potentielle Gegner mit einem täglichen Vorrücken von 80 bis 100 km rechnet und diese operativen Absichten sicher nicht von Flüchtlingen gefährden lassen wird. Andererseits muß daran erinnert werden, daß der militärische Zusammenbruch Frankreichs im Jahre 1940 nicht zuletzt dadurch eingeleitet worden ist, daß die ungezielten Flüchtlings-ströme eine rechtzeitige Umgruppierung der französischen Armee unmöglich machten.

Militärische wie humanitäre Erwägungen führen also zu dem Schluß, daß es wünschenswert wäre, die bisherige Konzeption der Aufenthaltsregelung zu reformieren. Um einen syste. matischen Ansatz für realistische neue Rege. Jungen zu gewinnen, gilt es von vornherein, perfektionistische Ambitionen zu vermeiden, die sich letztlich an den harten politischen Tatsachen stoßen würden. Ich will versuchen, einen Vorschlag zu entwickeln, der sechs Kri. terien erfüllen soll. Er soll erstens außenpolitisch verantwortbar, zweitens innenpolitisch akzeptabel, drittens finanziell und personell realisierbar, viertens militärisch unschädlich, fünftens humanitär wirksam und sechstens das Verhältnis von zivilen Rechten und Pflichten angemessen berücksichtigen.

In der Bundesrepublik läuft, wie in anderen Staaten, derzeit das Ratifikationsverfahren für die Zusatzprotokolle zu den Genfer Rotkreuz-Konventionen. Ziel des ersten Protokolls ist es, den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte zu verbessern. Darin findet sich der Art. 59, der von unverteidigten Orten handelt. Er lautet:

1. Unverteidigte Orte dürfen — gleichviel mit welchen Mitteln — von den am Konflikt beteiligten Parteien nicht angegriffen werden.

2. Die zuständigen Behörden einer am Konflikt beteiligten Partei können jeden der gegnerischen Partei zur Besetzung offenstehenden bewohnten Ort in der Nähe oder innerhalb einer Zone, in der Streitkräfte miteinander in Berührung gekommen sind, zum unverteidigten Ort erklären. Ein solcher Ort muß folgende Voraussetzungen erfüllen:

a) Alle Kombattanten sowie die beweglichen Waffen und die bewegliche militärische Ausrüstung müssen verlegt worden sein, b) ortsfeste militärische Anlagen oder Einrichtungen dürfen nicht zu feindseligen Handlungen benutzt werden, c) Behörden und Bevölkerung dürfen keine feindseligen Handlungen begehen und d) es darf nichts zur Unterstützung von Kriegshandlungen unternommen werden.

3. Die Voraussetzungen des Absatzes 2 sind auch dann erfüllt, wenn sich an diesem Ort Personen befinden, die durch die Abkommen und dieses Protokoll besonders geschützt sind, oder wenn dort Polizeikräfte zu dem alleinigen Zweck verblieben sind, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.

4. Die Erklärung nach Absatz 2 wird an die gegnerische Partei gerichtet; darin sind die Grenzen des unverteidigten Ortes so genau wie möglich festzulegen und zu beschreiben. Die am Konflikt beteiligte Partei, an welche die Erklärung gerichtet ist, bestätigt den Empfang und behandelt den Ort als unverteidigten Qrt, es sei denn, daß die Voraussetzungen des Absatzes 2 nicht tatsächlich erfüllt sind; in diesem Fall hat sie die Partei, welche die Erklärung abgegeben hat, unverzüglich davon zu unterrichten. Selbst wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 nicht erfüllt sind, steht der Ort weiterhin unter dem Schutz der anderen Bestimmungen dieses Protokolls und der sonstigen Regeln des in bewaffneten Konflikten anwendbaren Völkerrechts.

5. Die am Konflikt beteiligten Parteien können die Schaffung unverteidigter Orte vereinbaren, selbst wenn diese Orte nicht die Voraussetzungen des Absatzes 2 erfüllen. In der Vereinbarung sollen die Grenzen des unverteidigten Ortes so genau wie möglich festgelegt und beschrieben werden; falls erforderlich, können darin Überwachungsmethoden vorgesehen werden.

6. Die Partei, in deren Gewalt sich ein von einer solchen Vereinbarung erfaßter Ort befindet, macht diesen nach Möglichkeit durch mit der anderen Partei zu vereinbarende Zeichen kenntlich; sie sind an Stellen anzubringen, wo sie deutlich sichtbar sind, insbesondere an den Ortsenden und Außengrenzen und an den Hauptstraßen.

7. Ein Ort verliert seinen Status als unverteidigter Ort, wenn er die Voraussetzungen des Absatzes 2 oder der Vereinbarung nach Absatz 5 nicht mehr erfüllt. In einem solchen Fall steht der Ort weiterhin unter dem Schutz der anderen Bestimmungen dieses Protokolls und der sonstigen Regeln des in bewaffneten Konflikten anwendbaren Völkerrechts.

Völkerrecht muß man nicht nur befolgen, man kann es auch operativ nutzen. Meine Überlegung geht dahin, in der Bundesrepublik ein flächendeckendes Netz von unverteidigten Orten — in aller Regel größeren Städten — einzuplanen, die jeweils nicht weiter als 50 km voneinander entfernt sein sollten und deren Aufgabe es wäre, nicht nur ihre eigenen Bürger im bewaffneten Konflikt zu halten, sondern die Bevölkerung des Umlands aufzunehmen und zu versorgen. Um ein Bild zu gebrauchen: Die größeren Bevölkerungszentren sollten Fluchtburgen sein, in die die Bewohner der dazwischen liegenden Gemeinden evakuiert werden. Vorgeschlagen wird also eine planmäßig gelenkte Umkehrung der sonst zu erwartenden spontanen Bevölkerungsbewegung. Legt man nun den oben genannten Kriterien-katalog als Maßstab an dieses Modell an, so ergibt sich folgendes Bild: 1. Der Vorschlag ist außenpolitisch unbedenklich. Anders als ein intensives Bunkerbauprogramm erweckt er nicht den Eindruck, die Bundesrepublik versuche, große Teile ihrer Bevölkerung der Geiselfunktion im Rahmen der gegenseitigen Abschreckung zu entziehen. Ganz im Gegenteil: Durch eine Verdichtung eng besiedelter Städte würden diese Ziele in einem makabren Sinn für eine counter-city-Strategie des Gegners noch interessanter werden.

2. Die außenpolitische Verträglichkeit fördert auch die innenpolitische Akzeptanz. Weil diesem Vorschlag jede vermeintliche Drohkomponente fehlt, dürfte er weit weniger Gegenstand ideologischer Auseinandersetzung werden können als andere Varianten des Zivil-schutzes, die immer wieder, ob zu Recht oder zu Unrecht, in Verdacht geraten, die Gesellschaft zu militarisieren. In diesem Zusammenhang kann nicht unerwähnt bleiben, daß wir von einer ausreichenden innenpolitischen Akzeptanz nur dann sprechen können, wenn das Modell auch von den Kreisen getragen wird, die Fragen der Verteidigung prinzipiell distanziert gegenüberstehen. Es wäre keine Verbesserung des Zivilschutzes in der Bundesrepublik Deutschland, wenn starke gesellschaftliche Kräfte die Reformmaßnahmen ablehnen würden, weil sie darin ein Instrument für unerwünschte gesellschaftliche Veränderungen erblicken würden. Auch wer diese Sorgen nicht teilt, muß sie doch in Rechnung stellen. 3. Die schwierige Aufgabe für die zuständigen Politiker besteht heute darin, den Zivilschutz bei tendenziell leeren öffentlichen Kassen zu verbessern. Sie müssen daher auf eine hohe Produktivität des für die eingesetzte Menge Geldes erreichten Schutzes achten. Ein wesentlicher Vorzug dieses Modells dürfte darin liegen, daß es in der hochentwickelten Bundesrepublik eine Fülle von Orten mit geeigneter Infrastruktur gibt, in denen sowohl die Unterbringung wie die Versorgung von kurzfristig aufzunehmenden Flüchtlingsmassen relativ geringfügige Investitionen voraussetzt. Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg lehren, daß eine Stadt vorübergehend bis zur doppelten Anzahl ihrer Einwohner aufnehmen kann. Dies würde freilich die Wiederbesinnung auf Formen der Wohnraumbewirtschaftung notwendig machen, wie sie den älteren Jahrgängen noch geläufig sind.

Auch die personellen Voraussetzungen lassen sich ohne große Schwierigkeiten schaffen, um die Flüchtlingsbewegungen zu lenken, zu betreuen und zu versorgen. Aus dem großen Heer der ungenutzten Reservisten könnte eine Polizeimiliz gebildet werden. Das Rote Kreuz, die Feuerwehren und die anderen Organisationen verfügen über 1, 3 Millionen Helfer, die mit stärkerer finanzieller Förderung durch Bund und Länder allen Aufgaben gerecht würden. Die hierfür aufzuwendenden Gelder würden einen winzigen Bruchteil noch so bescheidener Bunkerbauprogramme ausmachen. 4. Auf den ersten Blick scheinen gewisse militärische Aspekte Schwierigkeiten zu bereiten; aber dies scheint nur so. Eine wichtige Frage ist beispielsweise, ob eine so arbeitsteilige Volkswirtschaft wie die der Bundesrepublik es wehrwirtschaftlich vertragen könnte, wenn eine Zahl von Städten aus diesem Geflecht herausgetrennt würde. Das wäre im Zweiten Weltkrieg eindeutig zu verneinen gewesen. In einem eventuellen künftigen Konflikt würde aber eine völlig veränderte Lage gegeben sein. Auch die militärischen Planungen gehen heute nur noch von einer kurzen, aber extremen Kraftanstrengung aus, in der sich beide Seiten in wenigen Wochen erschöpfen. Selbst ein rein konventionell geführter Konflikt würde sehr schnell wegen kräftemäßiger Auszehrung enden, weil allein schon das einem hohen Verschleiß unterliegende schwere Material nicht mehr nachgeführt werden könnte. Eine ausreichende Bevorratung für den militärischen wie für den zivilen Bereich würde nur in einem längeren Konfliktfall schwere Eingriffe in den Produktionsund Verteilungsapparat erfordern. Interessanterweise gestattet es auch die Rüstungsstruktur beider Gegner, unverteidigte Orte einzurichten. Das moderne Gefechtsfeld sieht in aller Regel erbitterte Straßenkämpfe in Großstädten von Haus zu Haus nicht mehr vor. Alle modernen Armeen haben den vollen Mechanisierungsgrad erreicht oder tendieren dahin. Das Kennzeichen voll gepanzerter Truppen ist der Mangel an Infanterie, d. h.der Mangel an abgesessener Kampfkraft, um Städte zu halten oder freizukämpfen. Während ein Angreifer in schneller Offensive versuchen müßte, an den Zentren vorbeizustoßen, würde die Bundeswehr bemüht sein, im freien Raum beweglich zu verteidigen.

Es bleibt, das sei nicht verschwiegen, ein Inter, esse des Angreifers, den Aufmarsch und den Nachschub des Verteidigers durch chaotische Flüchtlingsmassen nachhaltig zu stören. Dar. aus läßt sich jedoch nicht schließen, daß ein möglicher Gegner, unter Verletzung des Gen. fer Rechts, unverteidigte Orte angreifen wür de, um ihre Einwohner zur Flucht zu veranlassen. Es scheint nur so, als würde sich die Bun.desrepublik bei Annahme dieses Modells auf Gnade und Ungnade vom guten Willen der Gegenseite abhängig machen. Das würde nur dann gelten, wenn der Angreifer nicht mit Gegenmaßnahmen rechnen müßte. Wer dem entgegenhielte, es sei höchst zweifelhaft, ob das Bündnis auf die Zerstörung einer offenen Stadt in der Bundesrepublik mit einem Vernichtungsschlag auf eine Stadt im Land des Gegners antworten würde, versucht nicht nur den Vorschlag der unverteidigten Orte zu Fall zu bringen, sondern legt die Axt an die Prämissen der eigenen Verteidigung überhaupt. Es geht denn letztlich um die Frage, was die Atomgarantie der Vormacht wert ist. Auch die Stay Put Policy beruht auf der Annahme, daß der Angreifer von gezielten Vernichtungsschlägen gegen Bevölkerungszentren absieht. Wie anders könnte man sonst der Zivilbevölkerung ansinnen, zu Hause zu bleiben? Wenn aber z. B. 1, 7 Millionen Hamburger auf diese Annahme vertrauen sollen, warum dann nicht auch die Evakuierten, die Hamburg nach diesem Vorschlag zusätzlich aufnehmen würde?

Mir scheint, die Zivilschutzstrategie hat bisher übersehen, daß die Prämissen der eigenen Militärstrategie ein Sanctuarium zulassen, das zu nutzen wohl deshalb nicht in Betracht kam, weil das militärische Operationstheater bisher prinzipiell jedwedes Gelände, folglich auch die Städte, umfaßte. Heute besteht die Möglichkeit, die Elemente „nuklearer Abschreckung", „Mechanisierung der Heeresverbände" und „Schutzbedürfnisse der Zivilbevölkerung" dergestalt zu vereinen, daß eine systematische Trennung von Kampfzonen und Schutzzonen ins Auge gefaßt wird.

5. Der zu erreichende Schutzeffekt ist höher, als ihn ein noch so ehrgeiziges Bunkerbauprogramm bewirken könnte. Man kann nicht besser geschützt sein, als nicht beschossen zu werden. Freilich bleibt das gravierende Problem, wie die Bevölkerung in den unverteidigten Orten gegen etwaige Radioaktivität geschützt werden soll, falls es in den evakuierten Räumen zu nuklearen Einsätzen kommt. Nur besteht dieses Problem eben auch nach der bisherigen Konzeption, und als Argument gegen das Konzept der unverteidigten Orte könnte es. nur verwandt werden, wenn die Bundesrepublik wirklich entschlossen wäre, Bauprogramme durchzuführen, die einer gleich großen Zahl von Menschen einen höheren Schutz gewähren würden. Außerdem bliebe immer noch die Möglichkeit, einen gewissen Schutz durch Strahlenschutzanzüge sicherzustellen, weil es in den unverteidigten Orten nur darum gehen würde, dem Fall-out taktischer Nukleardetonationen zu begegnen, nicht jedoch um Schutzmaßnahmen gegen die Druck-und Hitzewirkung. 6. Es gibt freilich einen guten Grund, der Menschen veranlassen könnte, auch dem un-verteidigten Ort entfliehen zu wollen. Eine Evakuierung in diese vom Völkerrecht geschützte Stadt mag sein Leben retten, aber sie nimmt ihm die theoretische Chance, sich so weit nach Westen durchzuschlagen, daß er in dem vom Gegner nicht besetzten Teil des Landes die weitere Entwicklung abwarten kann. Es handelt sich hier um ein heikles Problem: die Grundfrage, welche Opfer ein Staat den Nichtkombattanten im Konfliktfall auferlegen kann. Heikel freilich nur deswegen, weil sich die öffentliche Meinung der Bundesrepublik auch 35 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch in einer seelischen Ausnahmesituation befindet, und es eine fortdauernde Aufgabe ist, die innere Distanz weiter Kreise zu Verteidigungsfragen, darunter auch zu einer sachgerechten Regelung des Aufenthalts im Konfliktfall, zu überwinden. Uns hat hier nicht beiläufige Gesellschaftskritik zu interessieren, sondern nur die Frage, welche Einstellung bei der deutschen Bevölkerung realistischerweise in einem bewaffneten Konflikt vorausgesetzt werden darf.

Vielleicht fällt es leichter, eine dezidierte Meinung in dieser existenziellen Frage zu finden, wenn wir uns ausländische Beispiele vergegenwärtigen. Wer sich etwa mit der jugoslawischen allumfassenden Verteidigung vertraut gemacht hat, weiß, daß der jugoslawische Staat seine Bürger zunächst einmal nicht als Kriegsopfer betrachtet, sondern als aktive Träger des Kampfes, sei es als Kombattant oder in einer helfenden Funktion. Jeder Bürger ist verpflichtet, einen Beitrag zur Kriegsanstrengung zu leisten, so daß rein humanitäre Erwägungen zunächst nur für diejenigen Mitglieder der Gesellschaft in Frage kommen, die beim besten Willen nichts zur Kriegsanstrengung beitragen können, also Kinder, Mütter, Greise und Behinderte. Ähnlich konsequent ist die Zivilverteidigung in Skandinavien. Die schwedische Zivilverteidigung beispielsweise richtet sich nach folgenden Maßstäben: Der Aufenthalt der Zivilbevölkerung soll vor allem dazu beitragen, den Streitkräften die Verteidigung des Territoriums zu ermöglichen. Erst in zweiter Linie soll die Regelung der Bevölkerung helfen, kriegsbedingte Schwierigkeiten zu überwinden, und erst an dritter Stelle kommt die Erhaltung der Überlebenschancen für die Bevölkerung. Einer solchen Haltung ist es selbstverständlich, sich den Belangen der Gesamtverteidigung unterzuordnen, auch wenn diese Unterordnung bedeutet, unter feindliche Besatzung zu geraten.

In voller Würdigung, daß viele deutsche Bürger nicht mit der gleichen Unbefangenheit an die Problematik herangehen wie die Skandinavier, muß der Staat doch bereit sein, den Bürgern die Wahrheit zu sagen, und zwar diese: Der Krieg macht keine Konzessionen für Menschen, die noch so viele historisch plausible Gründe haben mögen, sich zu verweigern und ihr Heil in der Flucht zu suchen. Auch ein liberaler Rechtsstaat kann den Bürger, der weder kämpfen noch die Kriegsanstrengungen in anderer Weise unterstützen will, nicht von der Pflicht befreien, denjenigen, die die Last des Kampfes tragen müssen, nicht im Wege zu stehen. Immer unter der richtigen schwedischen Prämisse, daß der Abwehrerfolg Vorrang hat, stellen diejenigen Bürger, die sich nur als Opfer begreifen oder wegen ihrer Hilflosigkeit tatsächlich gefährdete Opfer sind, objektiv gesehen nicht nur ein humanitäres Problem dar, sondern sie drohen die Verteidigung zu lähmen. Weil der Staat aber seinen Kombattanten abverlangt, daß sie für den Abwehrerfolg ihr Leben riskieren, schuldet er ihnen jede Anstrengung, um ihren Bemühungen eine Chance zu geben. In dieser Logik hat bereits § 12 Abs. 1 des Katastrophenschutzgesetzes bestimmt, daß der gewöhnliche Aufenthaltsort nur mit Erlaubnis verlassen werden darf. Eine systematische Einplanung unverteidigter Orte mit Zwangsaufenthalt, den quantitativ ausreichende und selbstbewußte Polizeikräfte gegebenenfalls durchsetzen, würde nur ein weiterer logischer Schritt in diese Richtung sein. Es gibt kein Menschenrecht auf Freizügigkeit im Kriege.

Ein entscheidender Vorteil des Gedankens dürfte darin liegen, daß er nicht nur 3 oder 5 Prozent der Bürger einen Schutz verheißt, sondern jedem Nichtkombattanten. Weil jede andere umfassende Lösung nicht bezahlt werden kann, dürfte auch eine klare Mehrheit der Bundesbürger dafür gewonnen werden können. Auch die Lasten wären fair verteilt. Wer als Bewohner eines unverteidigten Orts zu Hause bleiben darf, muß dafür Einquartierungen in Kauf nehmen. Schließlich ließe sich das neue System wohltuend lautlos einführen, bar jedes ostentativen Effekts, der so leicht Mißverständnisse weckt.

Die rechtlichen Möglichkeiten des Katastrophenschutzgesetzes reichen aus, die in Frage kommenden Orte auszuwählen und in schweigender administrativer Selbstverständlichkeit auf ihre eventuelle Rolle vorzubereiten. Da sie im Ernstfall aus dem Kriegsgeschehen ausgeklammert werden sollen, wird sich niemand über diese Daseinsvorsorge des Staates beschweren können. Auch die Personalplanung für die Polizeireserven bedarf so wenig öffentlichen Aufhebens wie die Mob-Planung der Bundeswehr. Es wäre auch entbehrlich, den Bürger mit Evakuierungsübungen zu beunruhigen, wenn die zuständigen Behörden nur definitiv wissen, wohin sie die zu evakuierende Bevölkerung bringen wollen und entschlossen sind, den Erfolg ihrer Maßnahmen durch ein schnelles Fahrverbot für jeden privaten Kraft-fahrzeugverkehr zu sichern. Transport und Einweisung in geeignete Quartiere müssen zwar vorgeplant sein, es kann aber der konkreten Situation überlassen bleiben, die im Konfliktfall in den unverteidigten Ort geführten Flüchtlinge zu verteilen.

Vor allem stünde freilich die Ratifikation der Zusatzprotokolle zur Genfer Konvention durch die Unterzeichnerstaaten, die hoffent. lieh bald erfolgt. Dann könnte das neue Sy. stem die Stay-Put-Konzeption, die nur einem Bruchteil der Bevölkerung eine Chance gibt aus dem Kampfgebiet evakuiert zu werden, durch ein flächendeckendes Fluchtburgennetz ablösen, in das die zu Evakuierenden mit kurzen Radien sternförmig zu führen wären gleichsam eine City-Rallye im Verteidigungs. fall — freilich ohne Privatfahrzeuge. Diese Re. form würde weder außenpolitische Mißverständnisse erzeugen noch die freiheitliche Gesellschaftsordnung im Frieden belasten, weder die Schulden der öffentlichen Hände ins Uferlose steigern noch die Militärs behindern. Sie würde gleichen Schutz für alle Nichtkombattanten schaffen und im Sinne einer Duldungspflicht auch den Passivbürger an der Verteidigungsanstrengung teilhaben lassen.

Was diese Idee wert ist, muß sich erst nach Prüfung aller praktischen Details erweisen, und derart angepaßt an die politischen Vorgaben kann sie nicht hoffen, eine Ideallösung zu sein. Aber, so darf man fragen, welche Alternativen hat ein Volk, dessen öffentliche Kassen leer, dessen Selbstbehauptungswille matt und dessen Planungen überholt sind?

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hans-Jürgen Schilling, Dr. jur., geb. 1933, Ministerialrat a. D.; Studium der Rechtswissenschaften in Kiel, Frankfurt/M. und Bordeaux; seit 1963 im öffentlichen Dienst auf der kommunalen, Landes-, Bundes-und supranationalen Ebene; seit 1974 im Dienst des Präsidiums des Deutschen Roten Kreuzes und seit 1976 Generalsekretär des DRK. Publizistische Beiträge zu staatspolitischen Themen im Deutschland-Archiv, Frankfurter Hefte, Merkur, Christ und Welt, Die Zeit, FAZ und DIE WELT.