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Brauchen wir eine neue Ethik? | APuZ 3/1985 | bpb.de

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APuZ 3/1985 Die genetische Manipulation des Menschen Erprobung der Menschenwürde am Beispiel der Humangenetik Brauchen wir eine neue Ethik?

Brauchen wir eine neue Ethik?

Jürgen Hübner

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Fortschritt von Naturwissenschaft und Technik erreicht heute eine neue Qualität des Umgangs mit der Natur. Deren Instrumentalisierung schlägt im Zeitalter der Gentechnologie jetzt zurück auf den Menschen selbst. Ethik greift zu kurz, wenn dabei nur spezifisch menschliche Interessen berücksichtigt werden. Werden Werte und Normen in Analogie zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen objektiviert, vermögen sie wissenschaftliche und technische Entwicklungen nur zu modifizieren, nicht aber als ganze zu beurteilen. \^er\. haltungen greifen tiefer. Noch weiter führt die Frage nach dem Sinn von Naturwissenschaft und Technik und ihre Weiterentwicklung überhaupt. Deren Erfolg kann letztlich ihre Intention in Frage stellen. Das legt dem Menschen eine Verantwortung auf, deren Last die Frage nach ihrem Grunde aufwirft. Damit ist ein religiöses Moment angesprochen, das jedoch naturwissenschaftlichem Denken von Anfang an zugehört und sich heute in unterschiedlichen Formen darstellt. Eine christliche Einstellung zum Leben bedingt eine Mentalität, die auf Erfüllung und Stiftung von Lebensmöglichkeiten gerichtet ist. In dieser Perspektive haben Naturwissenschaft und Technik dienende Funktion. Forschung kann dann kein Selbstzweck sein. Auch Wissenschaft hat ethisch im umfassenden Sinn mit Liebe zu tun, der bestimmte Arbeitsperspektiven entsprechen. Engagements im Bereich der In-vitro-Befruchtung können für diesen Bereich ethischer Reflexion als Beispiel gelten.

Die neuen Möglichkeiten der Biotechnologie, insbesondere der Gentechnologie, bezeichnen einen erheblichen Sprung im Fortschreiten nicht nur der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, sondern unserer naturwissenschaftlich-technischen Zivilisation und Kultur überhaupt. Eine neue Dimension angewandter Biologie und Chemie ist entdeckt und erschlossen worden. Mußte man bislang im Umgang mit der Natur deren Vorgegebenheit respektieren, auch wenn sie domestiziert, ausgebeutet oder durch Industrieansiedlung und Städtebau zurückgedrängt und zerstört wurde, so eröffnet sich jetzt die Perspektive, sie auch in ihrer Substanz zu verändern.

Der Mensch hat von Natur aus nicht nur die Fähigkeit, sich selbst an die Umwelt anzupassen und sich in ihr einzurichten wie in mehr oder minder beschränkter Weise alle anderen Lebewesen auch, sondern er hat darüber hinaus die exzeptionelle Möglichkeit, umgekehrt seine Welt seinen Bedürfnissen und Wünschen anzupassen und sie entsprechend umzugestalten. Das tat schon der Jäger und Sammler, der dann Viehzucht betrieb, sich einen Acker anlegte und begann, seßhaft zu werden und Häuser zu bauen.

Jetzt aber ist eine neue Qualität erreicht: Der zivilisierte Mensch züchtet nicht mehr nur Pflanzen und Tiere, sondern er beginnt darüber hinaus, sie stückweise technisch herzustellen. Gezielte Veränderung von Lebewesen wird möglich. Genetische Regelmechanismen werden fast beliebig für neue Funktionen in die Erbsubstanz von Organismen eingesetzt werden können. Pflanzen und Tiere sind da-Vortrag

auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing zu ethischen Problemen der Gentechnologie vom 18. bis 20. Januar 1985. Die Referate der Tagung werden, mit Anmerkungen und Literaturnachweisen versehen, als Buch im Chr. -Kaiser-Verlag, München, erscheinen.

mit nicht mehr Setzlinge, Pfleglinge und Hausgenossen, die von Menschen gepflanzt und gehalten werden, sondern sie können großtechnisch ausschließlich zu Mitteln für Zwecke werden, z. B. zur Produktion von „Biomasse", zur Herstellung von Wirkstoffen und Nahrungsmitteln. Als solche können sie zweckorientiert nach Gesichtspunkten bloßer Effektivität umkonstruiert werden. Organismische Artgrenzen werden überschritten. Effizienz, Zeitgewinn und Quantität der Ausbeute moderner Biotechnik sind dabei, eine Dimension zu erreichen, die sich revolutionär auswirken wird. Der Zweck heiligt dabei faktisch die Mittel: Der Nutzen des Menschen ist alleiniges Kriterium des Umgangs mit der Natur.

Was das bedeutet, wird deutlich, wenn der Mensch selbst, das Subjekt dieser Entwicklung, zu ihrem Objekt wird. Heute stehen wir an dieser Schwelle. Was im Umgang mit Pflanzen und Tieren schon zur Routine geworden ist — Massenproduktion, Intensivhaltung, Reproduktions-und auch Embryonal-technik, nicht zuletzt Gentechnologie —, all das ist im Prinzip auch auf den Menschen anwendbar. Hier aber schrecken wir zurück. An dieser Stelle bricht die Frage auf, ob wir auch tun dürfen, was wir tun können. Das Interesse an Ethik erwacht neu. Gibt es hier Grenzen, Gebote, die befolgt, Verbote, die respektiert werden müssen? Die Unantastbarkeit der biologischen Spezies Mensch wird an dieser Stelle als Kriterium genannt. Reicht das aus? Menschliches Leben darf nicht zum bloßen Mittel gemacht werden, auch nicht für andere Menschen. Mittel, die in sich verwerflich sind, dürfen nicht für einen guten Zweck eingesetzt werden. Das sind erste Orientierungen, traditioneller Ethik entnommen. Wir müssen aber noch weiter fragen.

Das Problem stellt sich noch einmal verschärft, wenn entschieden werden muß, ob Entwicklungen toleriert, forciert oder abge37 brochen werden sollen, die notwendig an den menschlichen Schwellenbereich heranführen und technisch ohne weiteres über ihn hin-weggehen können. Gentransfer beim Menschen wird möglich sein, wenn die Techniken der In-vitro-Fertilisation und Embryonalchirurgie, an Tieren erprobt, weiter fortgeschritten sein werden. Gentherapie ist dafür ein erstrebenswertes Ziel, Genmanipulation aus anderen Gründen dagegen wird als verwerflich angesehen. Kann eine solche Grenze in der Praxis aufrechterhalten werden?

Im Bereich menschlicher Fortpflanzung sind bereits Entwicklungen eingetreten, die das gesellschaftliche Leben gravierend zu verändern beginnen und überlieferte Ordnungen grundsätzlich in Frage stellen. Mit den technischen Möglichkeiten der Geburtenregelung lassen sich Familien planen. Das hat Rückwirkungen auf Liebe und das Verständnis von Ehe. Der institutionelle Schutz, den die Ehe gewährt, wird hinterfragt und gelegentlich auch bewußt nicht mehr wahrgenommen. Zu entscheiden ist nicht mehr, ob auf weitere Kinder verzichtet werden soll, sondern entschieden wird, ob und zu welchem Zeitpunkt überhaupt ein Kind geboren werden soll. Unsere Wohnverhältnisse sind schon darauf eingestellt: Für mehr als zwei Kinder ist kaum Platz. Mit zunehmenden Möglichkeiten pränataler Diagnostik kann darüber hinaus entschieden werden, welches Kind bei entsprechendem Befund ausgetragen werden soll und welches nicht, ob z. B. ein Kind mit Down-Syndrom abgetrieben wird oder nicht. Es gibt noch schwerere Krankheiten, wo die Entscheidung leichter fällt, es gibt auch leichtere Defekte, wo sie noch schwerer wiegt, und Übergänge gibt es in vielen Variationen in großer Zahl. Das Problem erhält seine besondere Brisanz dort, wo, wenn auch unter schweren Bedingungen, therapeutische Behandlungsmöglichkeiten bestehen oder entwickelt werden könnten. Ich denke etwa an die Bluterkrankheit. Durch soziale Trends werden vorweg solche Entscheidungen in die Richtung des Einfacheren gedrängt. Bestehen überhaupt noch die äußeren Bedingungen, daß ein behindertes Kind von seinen Eltern zu Hause gepflegt werden kann? Reichen die Sozialleistungen der Gesellschaft dafür noch aus?

Weitere Fragestellungen zeichnen sich real ab: Soll und darf behindertes Leben schon durch allgemeine Auslese aufgrund von Reihenuntersuchungen (Screening) „ausgeschaltet“ werden? Kosten-Nutzen-Rechnungen können leicht Dominanz gewinnen. Auch sonst kann die Schwelle des Vertretbaren leicht überschritten werden. Wenn das Geschlecht pränatal diagnostiziert wird — was geschieht nun, wenn ein Mädchen definitiv nicht gewünscht wird? Wieder schrecken wir hier zurück; die ethische und gesetzliche Grenze ist eindeutig. Technisch ist ein selektiver Abort aber ohne weiteres machbar, und es gibt Kulturen, wo die Schwelle deutlich niedriger und anders liegt. Noch einmal eine Komplikation: Wenn ein Risiko für genetische Behinderungen der Nachkommenschaft besteht, darf dann dieses Risiko aus der Welt geschafft werden, indem für den Ernstfall pränataler Diagnostik die vorgeburtliche Tötung des Kindes eingeplant wird?

An diesen Stellen ist die Ethik zentral gefragt.

Es geht gerade in solchen durch technische Möglichkeiten potenzierten Entscheidungssituationen um Menschen in ihrem Miteinander, um Menschlichkeit, und darin um „den Menschen", unser Menschenbild. Doch wie gesagt: Für die reine Technik, das praktische Verfahren selbst und seine naturwissenschaftlichen Voraussetzungen gilt die angesprochene Schwelle im Grunde nicht. Im Labor unterscheidet sich der Umgang mit Embryonen von Mäusen, Ratten, Affen und Menschen nicht. Es gibt artbedingte Variationen, z. B. im Schwierigkeitsgrad, aber im Prinzip ist das Verfahren das gleiche. Deshalb sind wir ja so weit fortgeschritten, daß eine In-vitro-Fertilisation bei entsprechender Kapazität und Indikation heute fast schon zur Routine geworden ist. Wissenschaftslogisch, forschungsimmanent ist nicht einzusehen, warum im Hantieren mit Menschen-und Schimpansen-embryonen ein Unterschied gemacht werden soll. Die Ethik muß erst dazu kommen, die diese Grenze setzt, damit wir, die Menschen, unsere Würde behalten. Das Tier darf zu Forschungszwecken benutzt, verwendet werden, der Mensch nicht. Tierversuche dienen dem Menschen. Was geschieht aber, wenn nun der Mensch selbst aufgrund solcher Tierversuche zum Opfer seines eigenen Tuns zu werden droht? Ist allerspätestens hier nicht auch die Frage nach der Würde des Tieres gestellt? Wenn wir freilich den Tierversuch, die Manipulation an Tieren problematisieren, . ist grundsätzlich weiter zu fragen, ob wir nicht auch den Umgang mit Pflanzen hinterfragen müssen. Der Umgang mit Landschaften, Flüssen, Wäldern, Gärten und Bäumen beispielsweise, wie er sich bei modernen Industrieansiedlungen, bei der Erschließung von Bauland und nicht zuletzt in der technisierten Landwirtschaft herausgebildet hat, zeigt die Dringlichkeit dieser Frage. In der Landwirtschaft sind die Umweltschäden durch chemische Schädlings-und Unkrautbekämpfungsmittel und künstliche Düngung die eine, die Verringerung genetischer Variationsmöglichkeiten durch Hochleistungs-und Einheitssorten, die Zerstörung auch ökologischer Vielfalt durch großflächige Anbaumethoden die andere Seite der Problematik.

Auch hier kulminiert die ambivalente Entwicklung in bestimmten Perspektiven der Gentechnologie, der Schaffung herbizidresistenter Nutzpflanzen beispielsweise, die die Vergiftung aller übrigen Pflanzen auf dem Acker überleben und so zu maximaler Entwicklung und Höchsterträgen kommen können. Die Anwendung der entsprechenden Total-und Breitbandherbizide (z. B. Glyphosat) bedarf um so sorgfältigerer Dosierung und Begrenzung, um weitreichende Schäden im Gesamtökosystem zu vermeiden. Das ist aber eine Forderung, die leicht zur Überforderung von Menschen werden kann.

Der moderne Mensch macht sich von seinen eigenen Methoden der Lebenserleichterung abhängig. Diese Entwicklung ist im allgemeinen bewußt gewollt. In bestimmten Bereichen ist das zur Bedingung des überlebens geworden. Dabei können aber auch problematische Entwicklungen eintreten, hinter die es kein Zurück mehr gibt. Der Preis, der für manchen wirtschaftlichen Fortschritt zu zahlen ist, geht auf das Konto der Vielfalt von Lebensmöglichkeiten. Dieses Konto könnte eines Tages überzogen sein, und der Bankrott führte zur Katastrophe.

II. Ethik als Lebensorientierung

Die Ambivalenz all dieser Entwicklungen wirft verschiedene Fragereihen auf, die getrennt verfolgt werden müssen, so sehr sie miteinander Zusammenhängen. Die eine habe ich bereits unter dem Stichwort „Ethik" benannt: Wo die Ambivalenz technischen Fortschritts zu Krisenerscheinungen führt, entsteht die Frage, ja der Ruf nach ethischen Prinzipien und Regeln, nach Werten und Normen, nach Zielen und Grenzen, ja auch nach Verboten und Sanktionen. Solche Forderungen treten oft neben naturwissenschaftliche und technische Entwicklungen; Ethik soll sie begleiten, steuern und Grenzen markieren. Naturwissenschaft und Technik sollen durch Ethik ergänzt werden. Das heißt aber zugleich: Sie werden in Methode und Fortschritt nicht grundsätzlich hinterfragt. Naturwissenschaft und Ethik spielen der Denkgestalt nach auf der gleichen Ebene. Werte erscheinen als gesellschaftlich vorgegebene Fakten, die psychologisch, politisch und ökonomisch als Faktoren relevant sind. Sie müssen in Analogie zu natürlichen Fakten festgestellt und verteidigt werden. Sie werden zurückgeführt auf unveräußerliche Grundwerte. Zugleich wandeln sie sich aber mit der Zeit. Sie sind solange verbindlich, wie sie vertreten und durchgesetzt werden, unbeschadet ihres Anspruchs, von transzendentaler Relevanz zu sein. Gesetze, die Genmanipulationen am Menschen verbieten, sind ebenso anthropozentrisch wie die, die sie ermöglicht haben.

Die Freiheit der Wissenschaft ist die Freiheit menschlicher Subjektivität, die die Natur, der auch der Mensch zugehört, im Handeln und Unterlassen zu ihrem Objekt macht.

Eine andere Fragerichtung ist es, wenn von Werlhaltungen die Rede ist, wenn die Welt des Menschen also von vornherein nach ihrer Güte und Förderlichkeit für menschliches Leben in der Natur eingeschätzt und beurteilt wird und daraus Konsequenzen für gutes, besseres und Kriterien für die Beurteilung von weniger gutem oder schlechtem Handeln abgeleitet werden. Aber schon die Feststellung von Gütern, zwischen denen dann abgewogen werden kann und muß, präpariert Werthaltungen zugunsten abstrakt handhabbarer normativer Strukturen, die zwar Entscheidungshilfe gewähren, dem konkreten Lebenszusammenhang aber entnommen sind nach der Art wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie können nur durch einen Konkretisierungsprozeß in ihn wieder eingeführt werden, der seinerseits der sittlichen Persönlichkeit des einzelnen handelnden Menschen als Subjekt bedarf.

Eine dritte Frageweise bezieht sich ihrerseits nicht auf den laufenden Stand der naturwissenschaftlichen und technischen Entwicklung und nimmt dazu jeweils Stellung, um der Allgemeinheit verallgemeinerungsfähige Urteile an die Hand zu geben; sie thematisiert vielmehr diese Entwicklung selbst und fragt nach ihrem Sinn. Diese Problematik will ich hier weiter verfolgen. Jeder, der in der Forschung tätig ist, muß sich dieser Frage stellen, sei es als einzelner, als Gruppe, als Profession oder als die Gesellschaft selbst, die für das, was in ihr geschieht, mitverantwortlich ist Noch einmal im besonderen gilt das natürlich auch für die gewählten Repräsentanten der Gesellschaft, diejenigen, die im engeren Sinne politische oder wirtschaftliche Entscheidungen zu fällen haben und damit den Gang von Forschung und Entwicklung mitbestimmen. Deutlich dürfte auch sein, daß die Frage nach Naturwissenschaft und Technologie unverzüglich durchschlägt bis zu ihrer Anwendung — sogenannte reine und angewandte Forschung hängen eng miteinander zusammen und bedingen einander.

Die Frage nach dem Sinn von Naturwissenschaft und Technik und ihrer Weiterentwicklung stellt sich ihrerseits auf zwei Ebenen: Sie fragt einerseits konkret nach ihren Gründen und Zielen, andererseits grundsätzlich nach ihrer Voraussetzung und ihrer Reichweite. Einmal lautet die Frage: Weshalb und wofür geschieht Naturwissenschaft, und was sind ihre Folgen? Wodurch ist sie legitimiert? Zum anderen: Warum und woher gibt es überhaupt Naturwissenschaft, wozu ist sie gut, was ist ihr Inhalt, was kann sie leisten? Das eine ist gewissermaßen noch immanent wissenschaftspraktisch gefragt, das andere, ich gebrauche einmal den Ausdruck: metaphysisch. Was der christliche Glaube fragt — diese theologische Frage soll dann noch einmal eigens — drittens — gestellt werden. 1. Die Ziele der Wissenschaft können in ihr Gegenteil umschlagen Was sind also zunächst Gründe und Ziele der Naturwissenschaft? Worin besteht das Interesse, die Motivation, Naturwissenschaft und Technik und also etwa auch Gentechnologie weiter voranzutreiben?

Als ein wesentliches Moment ist hier nach wie vor das Interesse an der sogenannten reinen Wissenschaft zu nennen. Die Natur zu enträtseln, ihren strukturellen Aufbau und die unendlich vielfältigen Funktionszusammenhänge, die in ihr ablaufen, im einzelnen zu erkennen, im ganzen zu durchschauen und mit diesem Wissen umgehen zu können, dabei auch sich selbst ein Stück weit zu erkennen, das ist für den menschlichen Geist und seine Vernunft ein unmittelbar befriedigendes Erlebnis. Die Herstellung eines gedanklichen Systems, dem die Natur gehorcht, der Gewinn logisch kontrollierter Klarheit, die als Argument überzeugt, die Möglichkeit, Phänomene als komplexe Sachverhalte zu überblikken, beschreiben und erklären zu können wird unhinterfragt als erstrebenswert empfunden und lohnt den Einsatz erheblicher psychischer, gedanklicher und materieller Kräfte. Dazu gehört die Befriedigung durch Leistung, die erfreuliche Aussicht, etwas nach eigenem Wnsch verändern zu können. Naturwissenschaft ist Herrschaftswissen: Das Bewußtsein zu herrschen, die Erfahrung, die Natur und damit die eigene Vorgegebenheit ein Stück weit besiegen zu können, gehören zur Faszination von Wissenschaft und Technik. Die Freiheit der Wissenschaft, die Freiheit, die Wissenschaft vermittelt, und die, die sie ermöglicht, wird in dieser Perspektive zum Grundwert.

Hinzu kommt das Interesse daran, konkrete Fragestellungen zu bearbeiten. Am deutlichsten wird das in der Medizin. Angesichts von Krankheiten und Leiden „etwas machen zu können", was zu Heilung oder Linderung beiträgt, motiviert entscheidend zu naturwissenschaftlicher Arbeit. Das gilt ebenso für andere Gebiete: Verbesserungen in der Landwirtschaft, um Hungersnöte zu bekämpfen und zu vermeiden, um die Arbeit zu erleichtern, um die Wirtschaftlichkeit zu erhöhen; Verbesserungen in der industriellen Produktion, mehr zu verdienen und mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Auch die Verbesserung des Machtpotentials, der militärischen Sicherheit und Schlagkraft gehört hierher — gleichviel, was dann noch dazu zu sagen ist.

Das Wissen um die Zusammenhänge der Natur, die Fähigkeit, sie zu beherrschen und zu verändern, verleiht gesellschaftliches Renommee: Der Wissenschaftler ist geachtet, seine Stellungnahme ist gefragt, sein Wort gilt. Haben Naturwissenschaft und Technik zunächst zur Erleichterung und Verbesserung menschlichen Lebens entscheidend beigetragen, so sind heute Überleben und Lebensstandard in unseren Breiten von ihnen abhängig. Unter ökonomischen Gesichtspunkten werden Forschung und Technologie zum Politikum: Ihre Förderung verstärkt die wirtschaftliche Kraft, mit ihrer Hilfe gelingen Wachstum und Expansion. Militärische Sicherheit ist heute mehr denn je gleichbedeutend mit technischer Überlegenheit. Forschung an der vordersten Front geschieht deshalb in großem Maßstab und in vielen Gebieten weit überwiegend in militärischem Auftrag. Auch die Gentechnologie ist davon nicht unberührt. Der Rüstungswettlauf treibt die Forschung voran, und davon profitiert wiederum auch der zivile Bereich.

Die Ziele von Naturwissenschaft und Technik entsprechen in all dem ihren Gründen: Erkenntnis der Natur, der Wille, sie zu beherrschen, die Möglichkeit, das Leben zu verbessern, die Perspektive wirtschaftlichen Erfolges, militärische und damit politische Überlegenheit — all das sind nicht nur Motive der Forschung, sondern allgemein auch Zielbestimmungen, denen konkrete Forschungsprojekte folgen. Sie alle spielen zusammen, wenn auch die Akzentuierungen variieren.

Je weiter die Forschung fortschreitet, desto größer werden freilich auch ihre Auswirkungen. Je weiter sie ausgreift, desto stärker sind ihre Eingriffe in Vorgegebenes, Gewachsenes. Mit den Erfolgen steigen die Gefahren. Die Welt wird künstlicher, und damit wird die Verantwortung für die Welt erweitert. Je ehrgeiziger die Ziele, desto komplexer wird der Weg, sie zu erreichen: Der Mensch muß ihn durchschauen und bedenken. Unbeabsichtigte Folgen können in immer größerem Maßstab den beabsichtigten Weg verstellen. Nebenwirkungen können gravierender werden als die geplanten Wirkungen. Wissenschaft und Technik können in ihrer Anwendung kontraproduktiv werden.

Im Militärischen liegt das heute ebenso vor aller Augen wie bei Umweltkatastrophen, aber auch in anderen Gebieten. Das Sicherheitsbedürfnis führt zu extremer Unsicherheit, Lebensschutzmittel zerstören Leben, landwirtschaftliche Nutzung droht langfristige Lebensmöglichkeiten zu verringern, die Medizin schafft auch neue Leiden. Aus dem „Etwas-machen-können“ kann ein „Machenmüssen" werden: Rüstet der Osten auf, muß das auch der Westen tun und umgekehrt. Wirkt ein Pestizid nicht mehr, weil Resistenzen entstanden sind, muß ein stärkeres eingesetzt werden. Wird ein alter Mensch ins Krankenhaus eingeliefert, muß eine Behandlung einsetzen: Eben — „es muß etwas gemacht werden“. Die Technik und ihre Mentalität schicken sich an solchen Stellen an, den Menschen zu beherrschen.

Damit sind Umschlagspunkte qualitativer Art anvisiert, und dort liegen die eigentlichen Gefahren, angesichts derer die Grenzen menschlichen Tuns, gesellschaftlichen Könnens, die Grenzen der Zivilisierung der Erde und damit auch die Grenzen von Naturwissenschaft und Technik unmittelbar deutlich und einleuchtend werden.

Solche Umschlagsstellen, solche Gefahren muß die Ethik im Blick haben, wenn sie Weg-weisungen für den Gang von Naturwissenschaft und Technik erarbeiten soll. Sie darf sich gerade nicht an der Vielfalt der spezifischen Aspekte naturwissenschaftlicher Arbeit orientieren. Denn diese ist an der Zeit-strecke orientiert, die ins Unendliche führt und keine Grenzen setzt. Die ethische Reflexion muß vielmehr das Zusammenspiel der Aspekte, ihre Vernetzung und wechselseitige Durchdringung, letztlich die Ganzheit des Lebens wahrnehmen. Hängt doch Kontraproduktivität mit der disziplinären Spezialisierung und der Unüberschaubarkeit des vielen in Spezialgebiete Separierten zusammen. Wird dann auch noch Ethik prägnant selbst zu einem Spezialgebiet, für das es gesondert ausgebildete Fachleute gibt, kann sie im Gang der Forschung ebenso ausgeblendet und damit ignoriert werden wie andere Spezialgebiete auch. Ihre Relevanz droht damit verlorenzugehen. Es ist vielmehr aus einer solchen ganzheitlichen Perspektive heraus zu fragen, welche der Schwellen, die heute erkennbar werden und zum überschreiten einladen, tatsächlich überschritten werden dürfen und unter welchen Bedingungen und welche zumindest vorläufig als Grenze bezeichnet werden müssen. 2. Erkenntnis der Natur droht zur bloßen Strategie des Fortschritts zu werden Eine weitere Dimension muß in diesem Zusammenhang genannt werden, die Naturwissenschaft und Technik motiviert. Es ist das religiöse Interesse — wie immer es sich im einzelnen dann auch konkret darstellen mag. In all den bislang geschilderten Motiven und Triebfedern naturwissenschaftlichen und technischen Handelns schwingt auch ein religiöses Moment mit. Es kann mehr „metaphysisch", mehr „physikotheologisch", es kann auch eher „mystisch" strukturiert sein. Im einen Fall werden naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit ihrer letzten Ursächlichkeit oder mit der göttlichen Vorsehung in Beziehung gebracht, im anderen wird durch Naturwissenschaft ein eher direkter Zugang zum Göttlichen gesucht. Es ist in jedem Falle der Wille, das Vorgegebene zu transzendieren, Vergangenheit und Zukunft geistesgegenwärtig zusammenzubringen, Hoffnung zu gewinnen und zu konkretisieren, Lebenserfüllung zu finden, Tod und Vergänglichkeit zu bestehen, der hier am Werke ist.

An dieser Stelle hat unsere Fragestellung nicht mehr allein mit dem Plural von Gründen, Zielen und Grenzen von Naturwissenschaft und Technik zu tun, sondern darüber hinaus mit der Frage nach ihrer Voraussetzung und Reichweite. Das religiöse Motiv ist nicht nur eines unter anderen, es bestimmt auch alle anderen mit

Lebensorientierungen und Lebensgeschichten sind für den Fortgang der Wissenschaft nicht ohne Bedeutung. Sie werden nicht nur individuell, sondern auch gemeinschaftlich bestimmt und sind so Teil einer Kulturgeschichte. Ihnen gehören Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu, und diese bilden zugleich die Voraussetzung wie den Horizont für das Bemühen, neue, überzeugende Antworten auf Fragen des Lebens zu finden. Das ist kein bloß intellektuelles Unterfangen, es betrifft vielmehr den gesamten Lebenszusammenhang in all seinen Dimensionen: Es ist eine religiös bestimmte Fragestellung, und diese findet ihre Konkretion auch in der Variation individueller und kollektiver Forschungsperspektiven.

Diese Beobachtung und Gesprächserfahrung läßt sich mühelos in den Biographien bedeutender Naturwissenschaftler belegen. Das gilt auch für die Mitglieder moderner Forschungsgruppen, sofern menschliches Leben nur bewußt gelebt wird und sich seinen existentialen Möglichkeiten nicht verschließt. Das neu erwachte Interesse an Wissenschaftsgeschichte und an weltanschaulichen Gesamtentwürfen naturwissenschaftlicher Prägung spricht im übrigen eine deutliche Sprache.

Warum und woher gibt es Naturwissenschaft? Johannes Kepler — und er ist repräsentativ für seine Zeit — antwortete: Um den Gedanken Gottes nachzudenken, mit denen er die Welt schuf. Wozu ist Naturwissenschaft gut, wo liegt ihr Sinn? Gott den Schöpfer zu loben und zu preisen. Sinngemäß gehört Pietas zur naturwissenschaftlichen Arbeit hinzu. Sie bürgt für deren Wahrhaftigkeit und Genauigkeit. Unaufmerksamkeit, Un-exaktheit, unbegründete und unausgewiesene Spekulation vergehen sich an Gottes Gedanken; sie gehören damit auf die Seite der Sünde. Exakte Naturwissenschaft, die unbestechlich allein der Erkenntnis der Wahrheit dient, lebt von diesen ihren theologischen Wurzeln bis heute.

Diese Begründung von Naturwissenschaft ist im Laufe ihrer Geschichte aber im allgemeinen verlorengegangen. Beschriebene Naturgesetze funktionieren auch ohne sie. Der methodische Atheismus konnte sich auf diese beschränken. Der Funktionalismus begnügt sich mit sich selbst. Theologie und Philosophie wurden im Zuge dieser Entwicklung nicht mehr wahrgenommen. Religion und Metaphysik wurden abgedrängt in die Subjektivität des einzelnen. Die Eigengesetzlichkeit des Objektiven konnte dann nur noch durch moralische Gesetze und sittliche Persönlichkeiten gesteuert werden. Deren Integration in den'Fortschritt der Wissenschaft ist aber inzwischen so weit fortgeschritten, daß die Eigendynamik von Forschung, Wissenschaft und Forschung faktisch dominant geworden ist.

Diese Eigendynamik ist es nun, die ihrerseits religiösen Charakter annimmt. Die alte Begründung wird säkularisiert erneuert: Die Evolution kann geradezu zum Synonym für Gott werden (Jäntsch), oder die Selektion (Burhoe), und der Wissenschaftler fordert zur Weiterführung und Vollendung der Natur auf (J. Huxley). Die Affinität zu einem christlichen (Teilhard de Chardin) oder auch hinduistischen (Rensch, Capra) Evolutionismus bezeugt dabei die eigene, immanent formulierte Religiosität.

Doch auch abseits solcher Artikulierung ist in der weltanschaulichen Beschränkung auf das empirisch Mächtige und wissenschaftlich Nachweisbare ein religiöses Moment wirksam. Es tritt als naturwissenschaftlich-technische Mentalität zutage. Was gilt, ist das Machbare, und in Perspektiven des Fortschritts wird die Lebensorientierung gewonnen. Ethik muß dem konform gehen, auch wenn sie Grenzen setzt. Sie müssen dem Stand des Wissens jeweils neu angepaßt werden. Sie gelten faktisch nur so weit und so lange, wie der gesellschaftliche Konsens es fordert und die politische Durchsetzbarkeit reicht. Diesem Verständnis von Ethik entspricht es, wenn nach Einführung der Geburtenregelung beispielsweise die Ehe ihre Verbindlichkeit verliert, wenn nach Einführung der Pränatalen Diagnostik die Behinderten-fürsorge eingeschränkt werden soll, wenn im Zeitalter der In-vitro-Fertilisation die Wahl des Geschlechts des Kindes selbstverständB lieh werden könnte wie die genetische Überwachung überhaupt. Bereits in den zwanziger Jahren ist die wissenschaftlich begründete Eugenik von eigenen Vertretern ausdrücklich als Religion bezeichnet worden. Das religiöse Moment zeigt sich auch sonst in dem Engagement und der Nachdrücklichkeit, mit denen pragmatische und positivistische Argumente in ethischen Fragen vorgetragen werden können. 3. Naturwissenschaft als Hilfe für das Leben Welche Mentalität wird die weitere Entwicklung tragen? Es würde nicht weiterführen, an dieser Stelle eine klassisch-metaphysische Position wiederzubeleben. Das könnte einem bloß konservierenden Festhalten oder Setzen von Entscheidungen entsprechen, denen absolute Gültigkeit zugeschrieben würde. Die klassische Metaphysik ist vergangen, weil ihre kosmologischen Voraussetzungen nicht mehr bestehen. Der Mensch hat infolgedessen die Welt schon so weit verändert, daß er allenthalben seinen eigenen Spuren begegnet. Ansätze zu neuer Metaphysik — etwa in moderner katholischer Theologie oder in der Prozeßphilosophie — müssen sich erst noch bewähren. So liegt es für einen evangelischen Theologen nahe, nach der Orientierung und den Konsequenzen des christlichen Glaubens im Lebenszusammenhang selbst zu fragen, ohne deduktiv von moraltheologischen oder praktisch-philosophischen Lehrelementen auszugehen. Diese erfüllen erst in der Reflexion des Begründungszusammenhanges auch neu gewonnener theologischer Aussagen ihre kritische und anregende Funktion.

Christlicher Glaube zeichnet sich durch einen charakteristischen Umgang mit der Welt aus. Der Christ ehrt sie als Schöpfung. Das gilt auch für den Umgang mit der Natur: Sie gehört, wenn Menschen überhaupt mit ihr zu tun haben, zu ihrer Welt. Auch weil der Mensch selbst Natur ist, hängen Behandlung außermenschlicher Natur und Behandlung seiner selbst unmittelbar zusammen und durchdringen sich wechselseitig. Der Mensch entspricht Gott, wenn er Steine, Pflanzen und Tiere und seinesgleichen als Gottes Geschöpfe ehrt. Schöpfer und Geschöpfe korrespondieren einander. Dieser Zusammenhang wird wahrgenommen im Gottesdienst, wenn — wie es Luther formulierte — Gott zum Menschen redet in seinem Wort und Sakrament und der Mensch ihm antwortet „durch Gebet und Lobgesang". Das Gespräch zwischen Gott und Mensch stellt diesen in die Solidarität mit seinen Mitgeschöpfen: In ihnen ehrt er ihren und seinen Schöpfer. Die Offenbarung der Liebe Gottes, zentral in Jesus Christus, wie sie im Gottesdienst als Wirklichkeit erscheinen will, wird zum Auftrag des Menschen in seiner Welt.

In dieser Grundorientierung ist es nicht möglich, Pflanzen und Tiere als bloßes Material, als Ressource, ausschließlich als Mittel zum Zweck gedankenlos zu verstehen, zu benutzen und nicht weiter darüber nachzudenken. Das betrifft auch die frühen Entwicklungsstadien, das also, was als „embryonales Material" be-und gehandelt wird. Auch im Blick auf menschliche Keimzellen und erste Entwicklungsstadien ist im wissenschaftlichen Alltag gemeinhin von „Material" die Rede. Hier schlägt eine vorwiegend an Naturwissenschaft und Technik orientierte Mentalität direkt auf den Menschen selbst zurück, wenn es auch nicht das eigene Ich ist, so doch das potentielle Du, das in jedem menschlichen Keim angelegt ist, präformiert schon in den Keimzellen. Ich und Du aber gehören zusammen in einem Verantwortungszusammenhang, der sich nach dem Maß aktueller Fähigkeiten differenziert. In ihn ist auch das Mitgeschöpf einbezogen, das zwar nicht adäquat antworten kann, doch zur Lebensgemeinschaft von Gottes Schöpfung gehört und deren Qualität mitbestimmt.

So ist noch einmal nach der Mentalität zu fragen: Welche Mentalität entsteht durch Naturwissenschaft und Technik, und welche brauchen wir, um deren Folgen zu bewältigen und zu verkraften? Ich möchte einer Schöpfungsmentalität das Wort reden, einer Einstellung, die im Geschöpf den Schöpfer ehrt und dementsprechend lebt, die die Angebote des Lebens als göttliche Gaben empfängt und gestaltet, ihrem Mißbrauch wehrt, Geknechtetes befreit, Verwundetes heilt, Leben und Sterben respektiert, nicht aber das eine durch das andere ersetzen will.

Wie stellen sich in dieser Perspektive Naturwissenschaft und Technik dar? Sie haben allemal dienende Funktion. Sie sollen dem Leben, gerade dem Leben in seiner Endlichkeit, dem das Sterben zugehört zu seiner Zeit, dienen. Auch mit ihnen gilt es umzugehen als mit einer Gabe, der Gabe des Erkennens, des Gestaltens, des Erneuerns. Wird der Gabecharakter der Wissenschaft, ihr dienender Charakter vergessen oder verleugnet, besteht die Gefahr, daß sie dem Menschen entgleitet, daß sie ihn bestimmt, anstatt daß er sich ihrer bedient, um dem Leben aufzuhelfen nach dem Maß seiner Fähigkeit.

III. Wenden von Not gegen abstrakte Notwendigkeit

So wäre in theologisch-ethischer Sicht gegen alle prinzipielle Wissenschaftsfeindlichkeit Forschung als Lebenshilfe grundsätzlich zu bejahen, für den Acker und seine Bepflanzung ebenso wie im veterinärmedizinischen Labor und in der Klinik. Das gilt auch für die soge-nannte Grundlagenforschung. Entscheidend werden dann jedoch die Ziele, um derentwillen Forschung konkret angesetzt und durchgeführt wird. Allgemein lassen sich in der ethischen Diskussion zwei Extreme polar festmachen: Das eine ist eine Programmatik, die Leben steigern, verbessern, Fortschritt vorantreiben, Evolution fortführen will. Das andere ist der Versuch, überliefertes zu bewahren, Gewachsenes zu erhalten, Nullwachstum zu erzielen, Verzicht auf quantitative Vermehrung, Konzentration auf Qualität. Er entspringt der Einsicht in die Gefahren, die ein technizistischer Fortschrittsglaube enthält.

Beide Extreme haben ihre Wahrheitsmomente. Der Lebenszusammenhang schreitet fort, nichts kann einfach beim alten bleiben: Bloße Erhaltung des Status quo wäre wirklichkeitsfremde Nostalgie. Deshalb kommt es darauf an, den Fortschritt zum Guten zu wenden. Das Fortschreiten ist aber ein geschöpfliches Gemeinschaftsgeschehen: Forcierung bloß technischer Möglichkeiten muß davon abblenden. Evolution also wird geschehen, Evolutionismus aber, ideologisch überhöht, kann zur Quelle von Tyrannei werden. Umgekehrt ist Bewahrung notwendig. Bloßer Konservativismus aber würde seinerseits Leben erstikken. Der Fortgang des Lebens braucht heute menschliche Hilfe und Fürsorge, behutsame Förderung, den Schutzraum, wo Individuelles und Einzigartiges wachsen können, wo auch Schönheit gedeiht. Leben braucht Zeit, die nicht bloß mit Uhren bemessen und eingeteilt, sondern die dem Mitgeschöpf, dem Gegenstand von Gottes Liebe zugemessen wird. Das rechte Maß umfaßt mehr, als Physik und Biologie angeben können. Es hat mit Liebe zu tun, wie jeder Gärtner und jede Mutter wissen. Sollen die Wahrheitsmomente sowohl eines christlichen Utopismus ebenso zur Geltung kommen wie die einer christlichen Fortschrittskritik, wird man von der notwendigen Förderung des Lebens sprechen müssen, von Hilfe zur Entfaltung von Lebensmöglichkeiten, die in der Vielfalt des Lebendigen angetroffen werden können und die es wahrzunehmen und zur Geltung zu bringen gilt. In diesem Sinne ist das Lebensdienliche zu tun.

Das ist in umfassendem Sinne gesagt. Nimmt christlicher Gottesdienst Gottes Liebe zu seiner Schöpfung im Hören und im Antworten auf, so wird die Antwort konkret im Weitertragen der schöpferischen Liebe an die Orte bestehen, wo sie gerade zur Geltung kommen will. Es geht bei Lebensförderung auch um Lebensschutz, Naturschutz, nicht freilich um Pflanzenschutz" im Sinne der Isolierung bloß für den Menschen nützlicher Kulturpflanzen und Vernichtung aller anderen etwa durch Totalherbizide. Der Schutz menschlichen Lebens auf Kosten von Versuchstieren darf nicht bewußtlos, muß vielmehr in voller Verantwortung für das, was dort geschieht, wahrgenommen werden. Wenn auf Bauernhöfen Ställe nicht mehr betreten werden dürfen, damit sich die Tiere nicht bewegen und dadurch an Gewicht verlieren, so kann das schwerlich noch der Förderung des Lebens, der Entfaltung seiner Möglichkeiten in geschöpflicher Solidarität entsprechen. Der Mensch soll nach christlicher Überzeugung zusammen mit Pflanzen und Tieren zur Ehre Gottes leben. Das muß auch alle Mittel bestimmen, mit deren Hilfe Ziele angestrebt werden sollen.

Damit kann unmittelbar das aufgenommen werden, was eingangs beim Stichwort „Kontraproduktivität" diskutiert wurde: Naturwissenschaft und Technik dürfen keiner Eigengesetzlichkeit überantwortet werden. Soge-nannte Eigengesetzlichkeit entspringt bloßer Rationalität und vergißt das Leben, dem sie zugehört. Der Mensch, der die heutige Entwicklung in Gang brachte, muß sie steuern, oder er verliert sein Menschsein, seinen Le-B benszusammenhang, er bliebe im Abstrakten, im Entdecken und Begründen, im Forschen und im Rechtfertigen verfangen auf Kosten des Lebens, das Gott will und das ihn trägt.

Für ein Leben im Geiste der Liebe gibt es nicht nur Ziele, sondern auch Grenzen, Grenzen des Tuns und Grenzen des Engagements. Dürfen wir tun, was wir können? Die Antwort ist fast trivial: Natürlich nicht. „Natürlich" ist dabei prägnant zu verstehen. Die Natur läßt das nicht zu, wenn der Mensch überleben will. Diese Frage muß jetzt aber von vornherein umformuliert werden: Wollen wir tun, was wir können?

Die Frage nach dem menschlichen Wollen trifft den Kern des Problems. Sie eröffnet den Horizont, in dem Entscheidungen fallen müssen. Entscheidungen vor Ort werden sich dabei auf Grundentscheidungen beziehen, die den Willen bestimmen. Grundentscheidungen betreffen die Natur des Menschen. In biblischer Sicht ist der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen (1. Mose 28). Das bedeutet: Menschen sollen nicht sein wollen wie Gott, sie sollen vielmehr leben, wie Gott es will, und das heißt: im Geiste der Liebe. Wenn Lieben und Wollen eins werden, sind nicht mehr Werte und Normen das Letzte, geschweige denn Grundwerte. Sie bleiben beim Vorletzten und sind dort diskutabel. Letztlich wichtig sind in der Perspektive der Liebe aber verantwortete Entscheidungen. Das Wichtigste schließlich ist die Grundentscheidung des Willens für die Liebe, die nicht das Ihre sucht, sondern, dem Schöpfer antwortend, das Heil und das Wohl der Schöpfung.

Im Sinne dieser Grundorientierung brauchen wir also weniger eine neue Ethik als vielmehr eine neue Einstellung zum Leben in seiner Gesamtheit. Der christliche Schöpfungsglaube ist ein Angebot für eine solche Einstellung. In seiner von den Kirchen vertretenen Sicht kann es nur äußerlich, von außen gesehen um Beurteilungen gehen, die in den Kategorien „richtig" oder „falsch", von „erlaubt" und „verboten" formulierbar sind. Verantwortung hängt außer mit Rationalität mit Klugheit und Weisheit zusammen. So kann im Blick auf die Möglichkeiten moderner Biotechnologie die ethische Frage so formuliert werden: Ist es angesichts des Ganzen des Lebens sinnvoll, ist es klug, ist es im umfassenden Sinne des Wortes weise, die wissenschaftliche und technische Entwicklung derart voranzutreiben, wie es bislang am Leitfaden unterschiedlicher Interessen geschehen ist?

Man darf sich keine Illusionen darüber machen: Die Entwicklung geht weiter. Ethische Lösungen werden im Prozeß der Forschung, letztlich also wissenschaftskonform, nicht eigentlich gegenüber und im Gegensatz zur Forschung gesucht. Insofern wäre der Ausruf eines Forschungsstopps irreal und wenig sinnvoll.

Wie also, bleibt zu fragen, sollen Wissenschaft und Technik verfahren, wie sollen sie sich orientieren? Allgemein einsichtige und verbindliche Maßstäbe lassen sich hier offenbar nur sehr begrenzt und abstrakt namhaft machen und durchsetzen: Weltweit gesehen dominieren die Gegensätze. Unterschiedliche kulturelle und biographische Traditionen machen sich hier geltend und wirken sich in Leitlinien im-oder explizit unterschiedlich, ja gegensätzlich aus. Der Prozeß der Diskussion und Auseinandersetzung ist immerhin in weltweitem Maßstab in Gang.

Dennoch wird eine christliche Ethik Grundsätze, Werte und Normen, die ihr aus der christlichen Überlieferung und ihrer Geschichte vorgegeben sind, festhalten und sich auch in neuen Situationen für sie entscheiden. Die Unantastbarkeit menschlichen Lebens ist eine solche unaufgebbare Grenze. Daraus folgt spätestens heute aber auch schon die Verantwortung für das Tier. Gerade sie fördert heute unbequeme Entscheidungen: beispielsweise Tierversuche strikt auf die Lösung von Problemfeldern zu beschränken, wo akute Not herrscht, und sie so durchzuführen, daß der Respekt vor dem Tier gewahrt bleibt. Schließlich bedarf auch der Umgang mit Pflanzen, ja auch mit der unbelebten Natur menschlicher Verantwortung. Ökologie als Wissenschaft und als Bewußtsein kann und muß hier Hilfestellung leisten. Die Biosphäre verträgt keinen anthropozentrischen und subjektivistischen wie objektivistischen Isolationismus.

Vorrangig scheint mir in unserer heutigen Situation nun über die Grenzbestimmung hinaus die Frage zu sein, wo Forschung vorangetrieben, Geld investiert, Verstand und Geist positiv eingesetzt, wo Ausbildungs-und Arbeitsplätze geschaffen und genutzt, wo Lebensentwürfe auch beruflich festgemacht werden. Wo findet menschliches Sein dabei seinen Ort? Wo ist es klug, wo ist es weise, zu bleiben? „Sein“ geschieht in der Zeit — auch naturwissenschaftliche Forschung und ihre Anwendung und Ausrichtung. Theologisch gesehen ist es von Gott gewährte Zeit. In ihr soll Leben Erfüllung finden. Bloßer Fortschritt gewährt das ebensowenig wie bloß kommerzieller Nutzen und Reichtum. Die qualitative Dimension von Umwelt, Mitwelt und Erlebniswelt gehört entscheidend dazu. Ihr entspricht der Respekt vor Endlichkeit und Begrenztheit.

Was gemeint ist, läßt sich am Beispiel der extrakorporalen Befruchtung verdeutlichen. Von medizinischer Seite wird gefordert — ich beziehe mich auf Ergebnisse des Kongresses der Deutschen Gesellschaft zum Studium der Fertilität und Sterilität 1983—, daß dieses Verfahren als eine Therapiemöglichkeit der Sterilität von den Krankenkassen anerkannt und finanziert wird. Da die Methode noch verbesserungsbedürftig ist, sollte sie Zielobjekt intensiver Forschungsprojekte sein; sie müßte daher weiterhin von staatlichen Stellen gefördert werden. Das Verfahren kann dann im Falle der Unfruchtbarkeit zu deren Therapie angeboten werden; ob dieses Angebot angenommen wird, unterliegt letztlich der Gewissensentscheidung der Ehepartner. Für alle nach In-vitro-Fertilisation und Embryo-transfer geborenen Kinder wird nebenbei ein Zentralregister gefordert, in dem alle wesentlichen Daten gespeichert sind.

Als ethische Barriere erscheint hier die juristisch definierte Institution der Ehe und die subjektive und individuelle Freiheit der Betroffenen. Dazu tritt die bisherige strafrechtliche Regelung, die beginnendes menschliches Leben nach der Einnistung in die Gebärmutter als solches erfaßt, die davorliegende Zeit von 14 Tagen aber als juristische Grauzone offen läßt. Damit ist die Behandlung erster Lebensstadien möglich, die Weiterzucht nicht implantierter Embryonen aber begrenzt. Darüber hinaus werden wissenschaftliche Untersuchungen an Eizellen und frühen Embryonalstadien, die lebensfähig sind und reimplantiert werden können, im allgemeinen abgelehnt. Strenge Indikationsstellung bleibt der ethische Generalnenner des Verfahrens.

Der objektive Gang der Forschung wird auf diese Weise ethisch beschnitten und modifiziert, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Man geht davon aus, daß das Verfahren letztlich gut ist und lediglich vor Mißbrauch geschützt werden muß. Das Gegenteil wird sich auch schwerlich einseitig behaupten lassen. Doch schon ein Blick auf die gesamtgesellschaftliche Situation der Bundesrepublik Deutschland läßt fragen, wie weit es sinnvoll ist, sich für dieses Verfahren zu engagieren, beispielsweise angesichts der Tatsache, daß nur sehr wenige, ausgewählte Personen in den Genuß des Verfahrens kommen können. Das gilt auch in langfristiger Perspektive. Bei der Auswahl müssen auch weitreichende psychologische Probleme berücksichtigt werden; die Technik kann nicht dazu dienen, gefährdete Ehen zu stabilisieren. Angesichts der weltweiten Menschheitsprobleme spitzt sich diese Frage erheblich zu. Nicht abgeklärt sind zudem die sozialen Folgen, die sich schon zum Beispiel durch die zentrale Datenerfassung ergeben.

Unübersehbar sind auch die Folgen für die Einstellung des allgemeinen Bewußtseins, einer Anspruchshaltung, die ein Recht auf das Machbare fordert. Mit dem Gleichheitsargument einer abstrakten Anthropologie wird beispielsweise die Einschränkung der Indikation auf verheiratete Paare angegriffen. Folgte man dieser Tendenz, öffnet sich das ganze Feld verschiedener möglicher Varianten von heterologer Insemination bis hin zur Ersatzmutterschaften („Mietmütter"). Entscheidungskompetenz der genetischen Eltern wäre aber die wirksamste Kontrolle dessen, was mit künstlich gewonnenen Embryonen geschieht. Therapieunabhängige Experimente an ihnen würden sie zu bloßen „Mitteln" degradieren. Wie, wenn sie nun gerade zu diesem Zweck gezüchtet werden?

Die Frage ist nicht von der Hand zu weisen, ob ein forcierter Fortschritt in der hier eingeschlagenen Richtung wirklich sinnvoll, „weise" ist. Engagements an anderen Orten können dringlicher sein. Entscheidungen an dieser Stelle bestimmen jedenfalls den Prozeß der Gesamtentwicklung der Gesellschaft mit. Das schließt nicht aus, sondern vielmehr ein, neue Technologiemöglichkeiten zu nutzen und darauf zuzuarbeiten. Doch muß im Rahmen der Fülle menschlicher und menschheit-lieber Probleme nach Stellenwert und rechtem Maß neuer Entwicklungen gefragt werden: Not-wendiges, weil Not wendendes Fortschreiten steht gegen forcierten Fortschritt als Selbstzweck.

Im Bereich der Gentechnologie an Bakterien und an anderen Mikroorganismen dürfte sich die konkrete ethische Problematik anders darstellen als bei der In-vitro-Fertilisation. Hier sind es vor allem ökologische und dann ökonomische Gesichtspunkte, die zu bedenB ken sind. Ethisches Niemandsland ist bislang weitgehend der Bereich der „mittleren" und „höheren" Pflanzen und Tiere bis an die Schwelle zum Menschen. Für das ethische Bewußtsein genügt im allgemeinen ein „Einklang mit der Tierschutzgesetzgebung". Hier dürfte sich jedoch der Umgang mit dem Leben grundlegend entscheiden. Umgang mit menschlichem Leben erwächst aus der Einstellung zum Leben überhaupt und schlägt umgekehrt auf diese zurück. Auch das Verhältnis zu Mikroorganismen dürfte davon nicht unberührt bleiben. Christlich gesehen ist eine Solidarität der Mitgeschöpflichkeit keine Utopie. Der Ort geschöpflichen Engagements sollte nicht zufällig sein. Er hat mit Lebenserfüllung zu tun, die nicht nur an Subjekten und ihrer Selbstverwirklichung und also auch nicht an isolierten Objekten orientiert ist, sondern vielmehr am konkreten Lebenszusammenhang selbst.

Wird die Ehrfurcht vor dem Leben und seiner Möglichkeiten als Gabe Gottes zur Quelle von Ethik, dürfte sowohl deren metaphysische Festschreibung als auch ein weltanschaulicher oder wissenschaftlicher Pragmatismus verbindlich zu korrigieren sein. Ethische Leitlinien können dann jeweils konkret situationsgerecht im Kontext geschichtlicher Kontinuität entwickelt werden. Sie werden — christlich — dem Engagement der Liebe entsprechen, die Gottes Liebe zu seinen Geschöpfen widerspiegelt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Jürgen Hübner, Dr. theol., geb. 1932; Wissenschaftlicher Referent an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft und apl. Professor für Systematische Theologie an der Universität in Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Theologie und biologische Entwicklungslehre. Ein Beitrag zum Gespräch zwischen Theologie und Naturwissenschaft, München 1966; Biologie und christlicher Glaube. Konfrontation und Dialog, Gütersloh 1973; Die Theologie Johannes Keplers zwischen Orthodoxie und Naturwissenschaft, Tübingen 1975; Die Welt als Gottes Schöpfung ehren. Zum Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft heute, München 1982.