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Ist die Kritik an den politischen Parteien berechtigt? | APuZ 11/1993 | bpb.de

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APuZ 11/1993 Krise oder Wandel? Zur Zukunft der Politik in der postindustriellen Moderne Ist die Kritik an den politischen Parteien berechtigt? Abkehr von den Parteien? Dimensionen der Parteiverdrossenheit Nichtwahl und Protestwahl: Zwei Seiten einer Medaille Rechtsextremismus und Wahlen in der Bundesrepublik

Ist die Kritik an den politischen Parteien berechtigt?

Hans Herbert von Arnim

/ 29 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Bundespräsident hat die Rolle der politischen Parteien dahin gerückt, wohin sie gehört: von einem bisherigen Randthema in die Mitte der innenpolitischen Diskussion der Bundesrepublik Deutschland. Die Kritik an den politischen Parteien läßt sich auf vier Hauptpunkte zurückführen: Entmündigung des Volkes, Defizit der Parteien an Problemlösungskompetenz, Unterlaufen der Gewaltenteilung sowie Ausbeutung der staatlichen Finanzen und Posten. Die Mängel der Politik werden in der Poliükfinanzierung besonders deutlich, wie sie sich in den Diäten-und Versorgungsskandalen in Hessen, Hamburg und im Saarland zeigten. Änderungen zum Besseren müssen über die Anlaßfälle hinaus an der politischen Grundordnung ansetzen. Erforderlich sind institutioneile Änderungen zur Aktivierung des Volkes als letztlich einzigen wirksamen Gegengewichts gegen Parteienmißbrauch.

Der Beitrag ist das überarbeitete Manuskript eines Vortrages, den der Verfasser am 10. Dezember 1992 in der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung in München hielt.

I. Antworten auf die Kritik des Bundespräsidenten

Die aktuelle Kritik an den politischen Parteien kommt von ganz unten und von ganz oben zugleich. Eine Fülle von Umfrageergebnissen, die abnehmende Beteiligung der Bürger an Parlamentswahlen und die schwindenden Stimmenanteile der beiden großen Parteien, die die Hauptregierungsverantwortung in Deutschland tragen, signalisieren eine verbreitete Unzufriedenheit mit den Parteien, die weit über die üblichen Parteienressentiments hinausgeht.

Diese Unzufriedenheit hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einem im Juni 1992 erschienenen und in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vorveröffentlichten „Gesprächsbuch“ in Worte gefaßt und damit, wie etwa die Heidelberger Rhein-Neckar-Zeitung schrieb, „Millionen Bürgern aus dem Herzen“ gesprochen. Nicht so allerdings vielen betroffenen Politikern. Ihre vorherrschende Reaktion war Unverständnis und Zurückweisung. Überwiegend werteten sie die Kritik als „undifferenzierte Parteienschelte“ ab und beantworteten sie mit Gegenattacken, warfen dem Bundespräsidenten „Haschen nach billiger Popularität“ (so der Chefredakteur des „Bayern-Kurier“ Scharnagl, ähnlich auch Kohl und Klose) und „Maßlosigkeit“ (Rau) vor. Die Parteien benötigten in ihrer derzeit schwierigen Lage „eher eine Ermutigung“ (Rau, Schäuble). Weizsäcker ignoriere das Engagement der vielen Bürger, die ehrenamtliche Aufgaben auf Ortsebene vornehmen (Kohl). Zugleich bestehe die Gefahr des Beifalls von der falschen Seite. Schönhuber müsse sich vor Freude über Weizsäckers Worte auf die Schenkel geklopft haben, schrieb Norbert Blüm. Parteienkritik sei im übrigen auch in anderen Ländern zu beobachten, etwa in Italien und Frankreich. Mancher wollte in der Kritik Weizsäckers gar nur eine persönliche Abrechnung mit Helmut Kohl sehen, besonders in Weizsäckers zugespitztem Satz „Bei uns ist ein Berufspolitiker im allgemeinen weder ein Fachmann noch ein Dilettant, sondern ein Generalist mit Spe-zialwissen, wie man politische Gegner bekämpft.“ (So der „Spiegel“ in einer Titelgeschichte mit der Überschrift „Der Ab-Kanzler"). Im übrigen sei die Kritik nicht neu (Blüm), und Weizsäckers „therapeutische Schlußfolgerungen“ seien „ausgesprochen dünn“ (Schäuble).

Immerhin gab es auch Zustimmung oder zumindest argumentative Offenheit, etwa bei Glotz, Diestel, Geissler, Biedenkopf, Däubler-Gmelin und Lüder; auch Hans-Jochen Vogel warnte vor einer vorschnellen Verurteilung der Kritik; selbst Kohl und Schäuble räumten, obwohl sie die Kritik zurückwiesen, Mißstände „in allen Parteien“ ein, „auch , Filz‘,, Verbonzung 4 und so manche Verkrustung“ (Kohl); die Parteien sollten sich „etwas zurücknehmen“ und „auf die wichtigsten Dinge“ beschränken (Schäuble).

Eines hat die bemerkenswerte Initiative des Bundespräsidenten jedenfalls bewirkt: Sie hat das Thema „politische Parteien“, von deren Funktionsgerechtigkeit unser aller Wohl und Wehe abhängt, dahin gerückt, wohin es gehört -von einem bisherigen Randthema in den Mittelpunkt der innenpolitischen Diskussion.

Nun bin ich nicht so vermessen, hier eine Patentlösung für alle Probleme offerieren zu wollen. Ich möchte aber zweierlei versuchen: einige praktische Fälle nennen, über die ich gearbeitet habe, und ein Konzept im Ansatz skizzieren, das die scheinbar auseinanderlaufenden Teilprobleme zusammenhält. Bei allem geht es selbstverständlich nicht um die Abschaffung der Parteien, die im bundesrepublikanischen System unverzichtbar sind, sondern um die Diagnose von Mängeln und mögliche Verbesserungen.

II. Vier Kritikpunkte

Die Kritik an den politischen Parteien läßt sich auf vier Hauptpunkte zurückführen: 1. Das Volk komme nicht zu Wort, sondern werde durch die politischen Parteien ersetzt, die aber ihrerseits ihrer Funktion als Sprachrohr des Volkes nicht gerecht würden. Frage also: „Entmündigen die Parteien das Volk?“ 2. Die Parteien versagten vor der Lösung dringender Gemeinschaftsaufgaben. Frage also: „Haben die Parteien ein Defizit an Problemlösungskompetenz oder besteht gar parteilich bedingtes , Staatsversagen‘?“

3. Die Parteien höhlten den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gewaltenteilung aus; das habe schädliche Rückwirkungen auf die Funktionsfähigkeit des ganzen Systems. Frage also:

„Stellen sich die Parteien als Monopolmächte dar?“

4. In den Parteien dominiere das Eigeninteresse an Macht, Posten und Geld. Frage also: „Beuten die Parteien den Staat aus?“

Ich möchte im folgenden die vier Kritikpunkte überprüfen und dabei zeigen, daß sie letztlich alle Zusammenhängen und sich in der staatlichen Politikfinanzierung besonders zuspitzen. 1. Demokratie ohne Volk?

Die Zurückdrängung des Volkes ist besonders ausgeprägt auf der besonders wichtigen Bundesebene. Volksabstimmungen sind hier nicht vorgesehen -im Unterschied zu den meisten Bundesländern, wo Volksbegehren und Volksentscheid möglich sind, im Unterschied auch zu den Gemeinden in manchen Bundesländern, wo Bürgerentscheide angestrengt werden können.

Selbst bei der Wahl der Abgeordneten für den Bundestag entscheidet der Wähler nicht mehr über Kandidaten, sondern nur noch über die Größe der verschiedenen Fraktionen und damit nur noch über die Herrschaftsanteile der Parteien. Wer von seiner Partei auf einen „sicheren“ Listenplatz oder in einem „sicheren“ Wahlkreis nominiert worden ist, dem kann der Wähler nichts mehr anhaben. Selbst wer im Wahlkreis nicht die Mehrheit der Bürger erlangt, ist auf der Landesliste oft abgesichert und kommt auf diesem Weg doch noch ins Parlament. Der Wähler wird also selbst bei Ausübung seines demokratischen Königsrechts von den Parteien bevormundet, und zwar weitaus mehr, als nach den Gegebenheiten der Massen-demokratie unvermeidlich wäre: Einfluß auf die Auswahl der Volksvertreter -etwa durch Häufeln der Stimmen auf bestimmte Kandidaten oder durch Ankreuzen von Kandidaten verschiedener Listen -hat der Wähler selbst bei Kommunalwahlen nur in wenigen Bundesländern. Die Wahl des Bürgermeisters direkt durch das Volk gibt es bisher nur in Süddeutschland, und dies nicht etwa, weil die Volkswahl Demagogen und Kandidaten minderer Qualität ins Amt brächte. Wie die baden-württembergischen Erfahrungen zeigen, ist in Wahrheit das Gegenteil der Fall. Der hohe Status des Amtes zieht die besten Bewerber an, und das Volk hat ein Gespür für Qualität: Gewählt wird regelmäßig eine geglückte Mischung aus Verwaltungserfahrung und politischer Ausstrahlung.

Auf der Ebene der Verfassungsgebung des Bundes ist das demokratische Defizit fast noch größer. Die Verfassung als normative Grundlage des Staates erhält in der Demokratie ihre Legitimation im allgemeinen dadurch, daß das Volk zunächst eine „verfassunggebende Versammlung“ wählt und später über deren Verfassungsentwurf durch Volksabstimmung entscheidet. So sind die 1946 und 1947 erlassenen Verfassungen der Länder der späteren Bundesrepublik regelmäßig von Versammlungen beschlossen worden, die zu diesem Zweck direkt vom Volk gewählt worden waren, und vor ihrem Inkrafttreten wurden sie Volksabstimmungen unterzogen.

Demgegenüber war der Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz 1948/49 unter erheblicher Einflußnahme der westlichen Besatzungsmächte ausarbeitete, weder direkt vom Volk gewählt worden, noch wurde das Grundgesetz einer Volksabstimmung unterworfen. Die These, dieses demokratische Legitimationsdefizit sei später durch die hohe Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen geheilt worden, entspringt einer etwas fraglichen Logik. Bei den Bundestagswahlen steht die Entscheidung zwischen bestimmten Parteien, nicht aber für oder gegen das Grundgesetz zur Debatte.

Auch der -jetzt ganz aktuell -in der Bundesrepublik eingesetzte 64köpfige „Verfassungsausschuß“, der Vorschläge für eventuelle Änderungen des Grundgesetzes machen soll, ist nicht etwa vom Volk für diese Aufgabe eingesetzt, sondern je zur Hälfte vom Bundestag und Bundesrat gewählt. Das wirft seine Schatten voraus -gerade wenn es um die Begrenzung der Macht der Parteien und der „politischen Klasse“ geht. Denn der Verfassungsausschuß ist voll von ihnen. Mögen auch viele nachdenkliche, problembewußte und reformbereite Männer und Frauen darunter sein -die Begrenzung der politischen Klasse durch sich selbst gerät doch leicht zum Münchhausen-Problem: sich am eigenen Schopf aus dem Sumpfe zu ziehen.

Der große amerikanische Verfassungsphilosoph John Rawls betont, Verfassungsfragen -also Fragen der Grundordnung unserer staatlichen Gemeinschaft -sollten Leute beraten und entscheiden, die unter dem Schleier des Nichtwissens der Konsequenzen ihrer Entscheidungen für die eigenen persönlichen Interessen ständen. Anders ausgedrückt: Wer Verfassungsfragen berät, muß unbefangen sein. Gerade daran fehlt es aber, wenn die politische Klasse im Verfassungsausschuß über ihre eigene verfassungsrechtliche Begrenzung befinden soll und das Volk völlig draußen vor bleibt. „Das Volk ist frei geboren, ist frei und liegt doch überall in Ketten.“ Dieses Wort Rousseaus, mit dem er 1762 sein berühmtes Buch „Contrat social“ einleitete, stand an der Wiege der demokratischen Revolution gegen die absolute Monarchie. Heute sind die „Ketten“ raffinierter, zumal sie dem Volk von Organisationen angelegt sind, die erst das Aufkommen der sozialen Demokratie ermöglicht haben und die natürlich niemand beseitigen will. In Anlehnung an das berühmte Wort von Abb Siys könnte man fragen: Was ist das Volk? Alles! Was hat es zu sagen? Nichts!

In Deutschland scheinen bei der Zurückdrängung des Volkes überkommene obrigkeitsstaatliche Denkweisen, die dem beschränkten bürgerlichen Untertanenverstand nichts zutrauen, mit dem Allmachtinteresse der Führungsgruppen der Parteien eine unheilige Allianz eingegangen zu sein. Die Folgen sind Bürgerferne der Parteien und Parteienverdrossenheit der Bürger.

Es gibt gute Gründe, die Diskussion um mehr direkten Einfluß des Volkes heute erneut aufzugreifen: Der extrem antiplebiszitäre Affekt des bundesrepublikanischen Staatsrechts war durch eine Überreaktion auf Weimar geprägt. Neue Untersuchungen zeigen, daß die damaligen Erfahrungen -entgegen verbreiteten Behauptungen -durchaus nicht negativ waren. Die Väter des Grundgesetzes sind einem historischen Mißverständnis aufgesessen. Jüngste deutsche Erfahrungen sind gleichfalls ermutigend. Die friedliche Revolution in der DDR, diese historische Tat der Befreiung von einem diktatorischen Regime, war ein direkter Akt des Volkes und hat dieser Äußerungsform einen starken Schub an Legitimation vermittelt. Damit stellt sich heute die Frage um so dringender: Soll der Bürger eines einheitlichen Deutschlands auch in Zukunft so weit entmündigt werden, wie dies in der Bundesrepublik bisher der Fall war? 2. Problemlösungsdefizit Der extremen Zurückdrängung des Volkes, die weit über die Erfordernisse der Massendemokratie hinausgeht, entspricht das Hervortreten und Sich-immer-breiter-Machen der politischen Parteien. Diese Verkehrung ließe sich allenfalls rechtfertigen, wenn sie im Interesse einer möglichst hohen Qualität des politischen Personals und zur Sicherung der nötigen Entscheidungsfähigkeit unseres politischen Systems unerläßlich wäre. Genau diese höhere Qualität der parteilichen Willensbildung wird aber immer mehr in Frage gestellt. Unser Parteistaat wird an diesem -für den Repräsentationsgedanken lebenswichtigen -Nerv immer skeptischer beurteilt.

Die Personalrekrutierung durch die Parteien ist eine zentrale Zielscheibe der Kritik. Die Kernthese des im vorigen Jahr erschienenen Buches von Erwin und Ute Scheuch mit dem Titel „Cliquen, Klüngel und Karrieren“ geht geradezu dahin, daß in den Parteien kleine Cliquen klüngeln und Weichen für politische Karrieren stellen, wobei die sachliche und persönliche Qualität der Kandidaten durchaus nicht das Hauptkriterium sein müsse. Hier zeigt sich übrigens: Auch innerhalb einer Partei muß unterschieden werden, zumindest zwischen politischen Führungskräften („politische Klasse“) und der Masse der Parteimitglieder. Das entschärft die Problematik allerdings nicht. Der Allmacht der Führungsgruppen stände dann nicht nur die Ohnmacht des Volkes, sondern auch die der Masse der Parteimitglieder gegenüber.

Die Frage der Qualität des Personals scheint mir auch der eigentliche Grund zu sein, warum die Bezahlung der Politiker in der Öffentlichkeit ein solch gewichtiges Thema darstellt. Es ist weniger die Höhe ihrer Bezüge, als vielmehr das Mißverhältnis zu ihren Leistungen, das auf Kritik stößt. Am Beispiel der Parlamentarischen Staatssekretäre in Bonn wird das deutlich. Sie haben praktisch kaum Aufgaben; die ganze Institution dient der Regierung vornehmlich als Instrument der Disziplinierung ihrer Bundestagsfraktionen, deren Mitglieder durch Aussicht auf einen solchen Posten bei Laune gehalten werden sollen. Das Volk hat ein recht gesundes Urteil darüber, daß diese Amtsinhaber überwiegend nicht wirklich verdienen, was sie verdienen.

Auch hinsichtlich der sachlichen Entscheidungskompetenz der Parteien hat die Skepsis in letzter Zeit sprunghaft zugenommen. Das Asyl-Problem, die Finanzierung der deutschen Einheit und der Vertrag von Maastricht scheinen seit kurzem geradezu zu Symbolen für die eingeschränkte Handlungskompetenz der Parteipolitik trotz größter sachlicher Herausforderungen geworden zu sein.

Ein anderes Beispiel ist der Kampf um die Volkswahl der Bürgermeister auch in Gemeinden außerhalb Süddeutschlands. Sie würde beides zugleich ermöglichen: den Einfluß der Bürger vergrößern und die Chance für inhaltlich stimmige Politik verbessern, also ein Mehr an Entscheidung durch und für das Volk versprechen. Dieses Beispiel ist lehrreich, weil es nicht nur zeigt, wie Parteien notwendige Entscheidungen blockieren, sondern auch, wie solche Blockaden überwunden werden können. In Nordrhein-Westfalen hat vor einem Jahr ein Parteitag der dortigen Regierungspartei die von allen Sachkennern und auch von der Regierung selbst dringend befürwortete Refom der Kommu-B nalverfassung abgeschmettert, und die Landesregierung hat sich dem widerspruchslos gefügt. Hinter dem Nein des Parteitages standen Vorbehalte gegen eine Zusammenlegung der kommunalen Spitze und gegen ihre Wahl direkt durch das Volk, was beides den Einfluß vor allem der mächtigen städtischen Fraktionsvorsitzenden zurückgedrängt hätte. Gerade von diesen wirkten aber viele als Delegierte an dem unseligen Parteitagsbeschluß mit. Hier zeigen sich Machtversessenheit bei gleichzeitiger Machtvergessenheit der politischen Klasse in geradezu klinischer Reinheit. Natürlich gibt es auch viele andere Barrieren für politische Entscheidungen: rechtliche (wie z. B. die zunehmenden Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft oder das Mitspracherecht anderer Gremien) und faktische (wie den Druck der mächtigen Partikularinteressen und Medien). Darauf berufen sich die Parteien und Politiker teilweise zu Recht, um ihre eingeschränkte Problemlösungskompetenz zu erklären. Um so wichtiger war es, mit dem vorstehenden Fall ein Beispiel herauszupräparieren, wo keinerlei äußere Barrieren bestanden und trotzdem die nordrhein-westfälische Regierungspartei unfähig war, eine vernünftige Entscheidung zu treffen.

Das Beispiel der Direktwahl von Bürgermeistern zeigt aber auch, wie eigensüchtige Blockaden aufgebrochen werden können, und zwar in Hessen. Am 20. Januar 1991 wurde durch Volksentscheid die Direktwahl der Bürgermeister und Landräte in die hessische Verfassung geschrieben -mit einer Mehrheit von über 80 Prozent. Kaum jemand scheint bisher dieses direktdemokratische Signal bemerkt zu haben. Ähnlich könnte auch die Blokkade in Nordrhein-Westfalen aufgebrochen werden, wenn auch die Zahl der für ein Volksbegehren in Nordrhein-Westfalen erforderlichen Unterschriften mit 20 Prozent der Stimmberechtigten sehr hoch ist. Die CDU Nordrhein-Westfalens hatte eine solche Initiative ursprünglich vor. Doch scheint sich jetzt herauszustellen, daß sie ähnliche parteiinterne Probleme mit dem Thema hat wie die SPD. 3. Unterlaufen der Gewaltenteilung und Ausbeutung der öffentlichen Institutionen Der dritte große Strukturmangel unseres Parteien-staates besteht in der Auflösung der Gewaltenteilung. Die Gewalten und Institutionen, die sich nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung gegenseitig in Schach halten und zu ausgewogenen Entscheidungen auspendeln sollen, werden zunehmend gleichgeschaltet und paralysiert. Hier muß man allerdings differenzieren. Der Parteienwettbewerb als zentrales politisches Steuerungsmittel der parlamentarischen Demokratie hat notwendig Auswirkungen auf Parlament und Regierung. Da Parteienpolitik praktisch durch Regierung und Parlament umgesetzt wird, kann der Wähler nur dann auswählen, wenn die Aktivitäten jeweils bestimmten Parteien zuzurechnen sind; das setzt eine Strukturierung des Parlaments in Regierungs-und Oppositionsfraktionen voraus. So wird der klassische Gegensatz zwischen Regierung und Parlament immer mehr überlagert vom Gegensatz zwischen Regierungs-und Oppositionsparteien. Dieser Verfassungswandel und der damit einhergehende Einfluß der Parteien auf Parlament und Regierung erscheint grundsätzlich systemkonform und wird durch Art. 21 GG, durch die Grundsätze der parlamentarischen Demokratie, wie sie in Art. 68 GG zum Ausdruck kommen, und die Zulassung des Verhältniswahlrechts durch Art. 38 GG legitimiert.

Die Parteien bleiben dabei aber nicht stehen, sondern suchen auch die Verwaltung, die Rundfunk-anstalten, die Rechtsprechung, die Wissenschaft und andere vom Grundgesetz als parteifrei konzipierte Einrichtungen mit ihren Leuten zu besetzen; dies mit unterschiedlichem Erfolg zwar -es gelingt ihnen zum Glück noch nicht immer und überall -aber leider immer öfter. In diesem Punkt ist die Kritik voll berechtigt. Derartige Ämterpatronage zur Erhöhung des Einflusses und zur Versorgung, die der Parteizugehörigkeit der Bewerber Einfluß auf die Stellenbesetzung gibt, ist nicht nur verfassungswidrig, weil sie gegen Art. 3 III, 33 II und V GG verstößt, sie ist auch ein schleichendes Gift im demokratischen Rechtsstaat, dessen Schädlichkeit auf Dauer gar nicht überschätzt werden kann.

In welche Verstrickungen die Verwaltung geraten kann, wenn die Loyalität zu einer Partei in Konkurrenz tritt zur Loyalität zu Gemeinwohl und Recht, haben der Fall Uwe Barschel und die Parteispendenaffäre einer breiteren Öffentlichkeit deutlich gemacht. Die Verkehrung kann so weit gehen, daß diejenigen, die die Bindung der Verwaltung an Gemeinwohl und Recht auch dann ernst nehmen, wenn Parteiinteressen entgegenstehen, zu unliebsamen Außenseitern werden. Ein Beispiel war der Leiter der Bonner Steuerfahndung Klaus Förster, der durch Zufall einen Zipfel der Parteispendenaffäre zu fassen bekam, dann nicht mehr losließ und so die Lawine des Flick-Skandals auslöste, dafür aber in seinem Amt nicht etwa Anerkennung und Unterstützung, sondern unverhohlene Zurücksetzung erntete, so daß er schließlich seinen Dienst quittierte.

Die Ausbeutung der staatlichen Gemeinschaft durch Parteipatronage war nach frühen kritischen Beiträgen Theodor Eschenburgs in späteren Jahren weitgehend tabuisiert. Bezeichnend ist, daß sich weder im Bericht der Studienkommission zur Reform des öffentlichen Dienstrechts von 1973, noch in den Referaten von Walter Rudolf und Friedo Wagener auf der Staatsrechtslehrertagung 1978, die dem Thema „Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart“ gewidmet waren, auch nur ein Wort zum Thema „Parteipolitisierung des öffentlichen Dienstes“ fand.

Das hat sich erst seit meiner kleinen Schrift über „Ämterpatronage durch politische Parteien“ von 1980 geändert. In jüngerer Zeit sind zahlreiche einschlägige Veröffentlichungen erschienen. Die Staatsrechtslehrervereinigung hat das Thema „Parteienstaatlichkeit -Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaats?“ 1985 ausführlich behandelt. Ein weiteres Beispiel sind die kritischen Bemerkungen von Helmut Lecheier, der im Handbuch des Staatsrechts von 1988 das Kapitel „Öffentlicher Dienst“ bearbeitet hat. Der Umschwung wird daran besonders deutlich, denn Lecheier hatte in seiner Habilitationsschrift über „Die Personalgewalt öffentlicher Dienstherren“ (1977) das Thema „Ämterpatronage“ noch ignoriert.

Noch immer größte Probleme mit dem Thema hat allerdings eine Hauptrichtung der Politikwissenschaft. Das hängt mit ihrer Fixierung auf die affirmative Darstellung der Macht und dem Fehlen eines normativen, gemeinwohlorientierten Konzepts zusammen. Sie bekommt deshalb das Thema gar nicht in ihren wissenschaftlichen Gesichtskreis, so daß die Diskussion an ihr vorbeigeht. Manchem Vertreter paßt die Richtung der aktuellen Diskussion so wenig, daß er wie die Politiker statt der sachlichen Auseinandersetzung, der er methodisch nicht gewachsen ist, in persönlicher Diffamierung der Exponenten der Kritik seine Zuflucht sucht.

Es dürfte indes nicht ausreichen, daß sich der eine oder andere Wissenschaftler gelegentlich dem Thema „Parteipolitisierung der öffentlichen Verwaltung“ widmet. Erforderlich sind organisierte Forschungsanstrengungen. Leider haben die Innenministerien, die für die Ausgestaltung des Beamtenrechts zuständig sind, das Problem bisher abgetan. Auf Anfrage der Bundestagsfraktion der Grünen nach den Wirkungen der Ämterpatronage und den Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun, antwortete die Bundesregierung im Jahre 1987 lapidar: Da es das Problem der Ämterpatronage nicht gebe, seien die gestellten Fragen gegenstandslos; auch bestehe kein Grund, das Phänomen systematisch wissenschaftlich zu erforschen -also eine Antwort nach der Devise, das nicht sein kann, was nicht sein darf.

Immerhin: Daß die öffentliche Diskussion sich inzwischen gewandelt hat und auch aus Parteiensicht die Notwendigkeit eines Umdenkens akzeptiert wird, zeigen die Veröffentlichungen des Parlamentarischen Geschäftsführers der Bundestagsfraktion der CDU/CSU, Jürgen Rüttgers, der seit kurzem die Gefahren parteipolitischer Ämterpatronage entschlossen kritisiert und die parteipolitische Ausrichtung von Schulleiterstellen, Direktoren von öffentlichen Unternehmen einschließlich der Sparkassen und des Personals im Rundfunk öffentlich geißelt.

Von besonderer Brisanz ist die zunehmende Parteipolitisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (einschließlich des Fernsehens). Dadurch wird seine Informations-, Kritik-und Kontrollfunktion gemindert, ja möglicherweise allmählich lahmgelegt. Dies geht an den Nerv des demokratischen Rechtsstaats, weil unabhängige Information und kritische Kontrolle durch den Rundfunk gerade im Parteienstaat unverzichtbar sind. Denn die Opposition ist definitionsgemäß regelmäßig in der Minderheit und kann nur mit Hilfe einer funktionierenden Öffentlichkeit die Regierungsmehrheit von Fehlern abbringen und zu möglichst guten Entscheidungen drängen. Die vom Bundesverfassungsgericht unterstrichene Staatsfreiheit des Rundfunks verlangt -angesichts der Beherrschung des Staates durch die Parteien -heute vornehmlich Parteienfreiheit des Rundfunks. Davon kann aber immer weniger die Rede sein.

Auch die Unabhängigkeit der Wissenschaft ist verfassungsrechtlich nicht zuletzt deshalb gewährleistet, um ihre Sachlichkeit und Kritikfähigkeit gegenüber den Mächtigen in Staat und Gesellschaft zu erhalten. Darum ist es schlecht bestellt, wenn viele der Wissenschaftler, die sich intensiv mit den Parteien befassen, diesen aufgrund vielfacher Zusammenarbeit so nahestehen, daß sie kaum mehr unbefangen Kritik äußern können. Umgekehrt ist solche Kritik oft eine undankbare Sache, und sie ist um so undankbarer, je genauer sie den Nerv trifft. Wer Defizite des Parteinstaates diagnostiziert und sich dabei mit (fast) allen Parteien zugleich anlegen muß, wird kaum erwarten können, von den Verantwortlichen ans Herz gedrückt zu werden -oder aber vielleicht so sehr, daß ihm der Atem wegbleibt. Er wird sich vielmehr auf massivste Diffamierungen, auch persönlicher Art, gefaßt machen müssen. Das hat auf höchster Ebene der Bundespräsident gerade erfahren. Wer Mängel der Parteipolitik kritisiert, muß gewärtigen, daß sich das Spezialwissen der Politiker im Bekämpfen politischer Gegner gebündelt gegen ihn kehrt, ebenso wie der Ingrimm ihrer geflissen-opportunistischen wissenschaftlichen Berater, über deren beschwichtigende Thesen die öffentliche Diskussion mittlerweile hinweggegangen ist -und er muß bereit sein, dies auszuhalten. Die größte Gefahr der versuchten parteipolitischen Gleichschaltung aller Institutionen, die vom Grundgesetz als parteifrei konzipiert sind, läuft, so befürchte ich, auf eine Änderung der Denkweise hinaus. Die Macht-und Interessenorientierung der Parteien steht im Gegensatz zum rein sachlichen und gemeinwohlorientierten Denkstil, der das Gemeinsame für ansonsten so verschiedene Einrichtungen wie die öffentliche Verwaltung, die Medien und auch die Wissenschaft ist (oder doch sein sollte). Der parteipolitische Einfluß verändert auch dann, wenn er nicht von einer Partei allein ausgeht, die Motivations-und Denkweise und damit auch die Art der Willensbildung insgesamt. Wem es primär auf Mehrheiten, Bündnisse, Macht, Positionen und Versorgung ankommt, der ist innerlich anders eingestellt und gelangt oft auch zu anderen Ergebnissen als der, dem es um sachliche Richtigkeit geht. Ein Redakteur, der die parteipolitischeSchere im Kopf hat, verliert aufgrund des vorauseilenden Gehorsams gegenüber den Machthabern leicht jede Produktivität. Wer immer nur besorgt ist, ob den Mächtigen genehm ist, was er geistig produziert, dem droht allmählich sein sachorientierter Denkstil abhanden zu kommen. Gerade der aber ist die Basis für die rationale Bewältigung unserer Gemeinschaftsprobleme. In der „Verbonzung“ und „Verkrustung“ (Helmut Kohl) und der dadurch bewirkten Abnahme der sachbezogenen Reaktions-und Überlebensfähigkeit der Gemeinschaft als Ganzes liegt vielleicht die größte Gefahr der zunehmenden parteipolitischen Durchpatronierung aller Bereiche. 4. Politikfinanzierung Die Ausbeutung der staatlichen Institutionen durch die Parteien findet teilweise ihre Entsprechung in einer Ausbeutung der staatlichen Finanzen. Bei der Regelung der Politikfinanzierung wird der Bürger vollends entmachtet, weil Regierung und Opposition in eigener Sache entscheiden und sich regelmäßig fraktionsübergreifend einig sind. Der Wettbewerb zwischen den Parteien soll bewirken, daß die Regierungsparteien ihre Macht nicht mißbrauchen, sondern an den Interessen der Allgemeinheit ausrichten, die über ihre Wiederwahl entscheidet. Das funktioniert allerdings nur, so lange wirklich Wettbewerb besteht. Politische Kartelle zwischen Regierung und Opposition machen dagegen die Allgemeinheit der Staatsbürger und Steuerzahler wehrlos; aus Gewaltenteilung wird faktisch ein Gewaltenmonismus, der leicht Mißbrauch und Ausbeutung Vorschub leistet. Hier kommen als Gegengewichte nur noch das Verfassungsgericht und die Öffentlichkeit in Betracht.

Ein Beispiel ist die staatliche Parteienfinanzierung. Die Väter des Grundgesetzes waren noch davon ausgegangen, die Parteien finanzierten sich allein aus privaten Quellen. Deshalb enthielt das Grundgesetz nur eine Bestimmung, die die Parteien verpflichtete, über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft zu legen. Es sollte für den Wähler transparent werden, welche Geldgeber hinter den Parteien stehen. Doch wurde die Konkretisierung dieses Gebots 18 Jahre lang verschleppt. Solange dauerte es, bis es schließlich zum Erlaß des Parteiengesetzes von 1967 kam. Statt dessen wurde 1955 eine hohe Steuerbegünstigung von Spenden und 1959 die direkte Finanzierung der Parteien aus dem Bundeshaushalt eingeführt, die sich rasch vervielfachte. Dies war eine europäische Premiere und wäre eine Weltpremiere gewesen, hätten nicht schon vorher Argentinien und Costa Rica eine staatliche Parteienfinanzierung eingeführt.

Die Explosion der Subventionen an die Parteien veranlaßte das Bundesverfassungsgericht 1966, Grenzen zu ziehen und nur noch die Erstattung von Wahlkampfkosten zu erlauben, was allerdings nur aufgrund eines Gesetzes geschehen durfte. So blieb den Parteien nichts übrig, als das 18 Jahre lang verschleppte Parteiengesetz endlich zu erlassen, wenn sie weiterhin Steuermittel erhalten wollten. Das Parteiengesetz ist in Wahrheit ein »Parteienfinanzierungsgesetz«. Auch bei vielen Vorschriften, die scheinbar mit Geld nichts zu tun haben, stehen in Wirklichkeit die Finanzen dahinter. Ein Beispiel sind die Aufgaben der Parteien: § 1 PartG, bei dem die Parteien offensichtlich die Feder des Gesetzgebers geführt haben, enthält einen denkbar umfassenden Katalog. Danach bündeln und integrieren die Parteien nicht nur die politischen Auffassungen, stellen Kandidaten für Wahlen auf und führen Wahlkämpfe, sondern wirken auch an der Bildung des politischen Willens des Volkes „auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens“ mit, in dem sie z. B. auch „auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluß nehmen“ und „die politische Bildung anregen und vertiefen“. Der Regierungsentwurf eines Parteiengesetzes von 1959 hatte noch einen moderaten Aufgabenkatalog für die Parteien enthalten, der sich dann aber von Gesetzentwurf zu Gesetzentwurf ausweitete -im Gleichschritt mit der 1959 einsetzenden und darauf explodierenden Staatsfinanzierung -, bis der Aufgabenkatalog im Parteiengesetz von 1967 sein extensives Maximum erreichte.

Dadurch sollte die auch nach dem Parteiengesetz von 1967 noch hohe und durch Abschlagszahlungen auf die ganze Legislaturperiode verteilte Staatsfinanzierung in den Augen der Öffentlichkeit legitimiert werden, was das Bundesverfassungsgericht dann 1968 auch -im gewissen Wider-19 Spruch zu seinem Urteil von 1966 -verfassungsrechtlich absegnete. Normalerweise richtet sich der öffentliche Finanzbedarf nach den Aufgaben. Den Parteien aber war es aufgrund ihrer Schlüsselstellung an den Hebeln der Gesetz-und Haushaltsgebung möglich, dieses Verhältnis umzukehren und die Aufgaben nach dem von ihnen gewünschten öffentlichen Finanzvolumen auszurichten.

Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht seit 1966 der staatlichen Partezenfinanzierung Grenzen gezogen. Das Gericht hat dabei aber die wichtigsten Hilfsorganisationen der Parteien -die Fraktionen und die Parteistiftungen -völlig außer acht gelassen. Für sie gelten bisher regelmäßig keinerlei Grenzen oder Öffentlichkeitsanforderungen. Die Folge war ein explosionsartiges Wachstum der Staatszuwendungen. So haben sich die Zahlungen an die Bundestagsfraktionen seit 1966 verzweiunddreißigfacht; die Zahlungen an die Parteistiftungen -eine deutsche Erfindung, die inzwischen im Ausland aber Nachahmer gefunden hat -haben sich versiebenundvierzigfacht. Diese schlaraffenländisehen Wachstumsraten haben eine merkwürdige Schieflage begründet. Die Staatsfinanzierung der Fraktionen und Stiftungen, die noch 1966 weit hinter der der Parteien lag, hat diese inzwischen um ein Vielfaches überflügelt, ohne daß die Öffentlichkeit aber bisher die Gewichtsverlagerung erkannt hätte und ohne daß sich die Rechtsprechung und große Teile der Wissenschaft bewußt gemacht hätten, daß dadurch die inzwischen sorgfältig behauene rechtliche Ordnung der staatlichen Parteienfinanzierung faktisch zu einem beträchtlichen Teil unterlaufen werden kann. Überhaupt kommt die Rechtsprechung oft zu spät oder mangels antragsbefugter Kläger gar nicht zu einer Entscheidung. Dann ist die Öffentlichkeit die einzige wirksame Kontrolle. In solchem Fall kann der Machtmißbrauch durch die politische Klasse offenbar nur eingedämmt werden, wenn es gelingt, der Politik ein Thema öffentlich aufzuzwingen. Dafür drei Beispiele, die ich selbst bearbeitet und miterlebt habe:

Ein Lehrbeispiel, daß Macht erfinderisch macht, war der sogenannte hessische Diätenfall. Im Februar 1988 hatte sich der Wiesbadener Landtag mit den Stimmen aller etablierten Fraktionen im Schnellverfahren kräftige Diätenerhöhungen, hohe steuerfreie Zusatzleistungen und unhaltbare Doppelbezüge bewilligt. Die Initiatoren hatten dies damit begründet, hessische Abgeordnete bildeten im Vergleich mit anderen deutschen Parlamenten das finanzielle Schlußlicht. In Wahrheit waren sie bereits in der Spitzengruppe und übernahmen nach der Gesetzesänderung die alleinige Spitze, teilweise noch vor den Bundestagsabgeordneten. Als der Bund der Steuerzahler diesen Sachverhalt einige Monate später durch ein Gutachten aus meiner Feder publik machte, mußte das Gesetz nach vierwöchiger öffentlicher Kritik zurückgenommen werden; der Präsident und der Vizepräsident des Landtages nahmen ihren Hut.

Der Hamburger Diätenfall von 1991 verlief ähnlich. Nach einem von allen etablierten Fraktionen eingebrachten neuen Diätengesetz sollten der Präsident der Bürgerschaft -so heißt das Parlament in Hamburg -und die Frakionsvorsitzenden die fünffache Entschädigung der normalen Abgeordneten, nämlich fast 20000 DM monatlich, erhalten. Der in einem unleserlichen Gesetz gut verpackte Clou bestand darin, daß die genannten Spitzenparlamentarier schon nach dreieinhalb Jahren Amtszeit einen dynamisierten Anspruch auf eine Versorgung von 10500 DM monatlich, zahlbar ab dem 55. Lebensjahr, erlangen sollten (wenn sie nur vorher fünf Jahre Abgeordnete waren). Begründet wurde dies mit der Altersversorgung von Senatoren, also der Hamburger Minister, die in der Tat ähnlich üppig ausgestaltet war. Die Nachprüfung ergab, daß die Versorgung von Senatoren auf einem Gesetz beruhte, das 1987 unmittelbar vor der Auflösung des Parlaments -unter Verletzung einer Vielzahl von Bestimmungen der Hamburger Verfassung -an einem einzigen Tag durch das Parlament und seine Ausschüsse gepeitscht worden war. Das Gesetz war in Wahrheit gar nicht „eingebracht“ worden, weil es -von niemandem unterschrieben, sondern als Anlage eines Ausschußberichts -den Parlamentariern als Tischvorlage unmittelbar vor den Abstimmungen untergeschoben worden war. So wurde das Vorhaben camoufliert und die Öffentlichkeit unterlaufen, bei deren Einbeziehung das Gesetz nicht die geringste Chance gehabt hätte. Initiatoren waren eine Handvoll Spitzenpolitiker -im wesentlichen dieselben, die dann 1991 von der Pensionsregelung für Präsident und Fraktionsvorsitzende profitieren sollten, die nach dem Vorbild der Senatorenversorgung gestaltet war. Als ich im November 1991 diese Zusammenhänge in einer Stellungnahme für den Bund der Steuerzahler aufgedeckt und den Camouflage-Charakter des Gesetzes von 1987 publik gemacht hatte, war nicht nur das Diätengesetz zum Scheitern verurteilt; auch das Gesetz über die Erhöhung der Senatorenpension von 1987 mußte schließlich ersatzlos gestrichen werden, mochten die Betroffenen anfangs auch noch so wild verbal um sich schlagen.

Die Hamburger Diskussion hat den Blick auf die finanziellen Bezüge und Versorgungen von Ministern in Deutschland insgesamt gelenkt. Eine Untersuchung ergab, daß es in anderen Ländern teilweise noch unhaltbarere Privilegien gibt als in sogar schon nach einem einzigen Amtstag die Höchstversorgung von zur Zeit knapp 13 000 DM monatlich, zahlbar ab dem 55. Lebensjahr, erwerben, wenn er nur vorher lang genug (13 1/3 Jahre) im Parlament war. Das kommt daher, daß die ersten Amtsjahre doppelt zählen und vorangehende Parlamentsjahre wie Ministerjahre gerechnet werden. Für Bundesminister gibt es nichts dergleichen; sie benötigen 23 Amtsjahre, um eine volle Altersversorgung zu erwerben.

Die saarländische Regelung ist schon vor Jahren zustande gekommen, und zwar noch unter einer CDU-Regierung. Aber auch die seinerzeitige SPD-Opposition trägt Mitverantwortung, weil sie sich in keiner der drei Lesungen des Gesetzentwurfs im Parlament zu Wort meldete, von Kritik ganz zu schweigen. Grund war wohl die Verdoppelung der Zahlungen an die Fraktionen, die durch eine Änderung des Verteilungsmodus überwiegend der Opposition zugutekam, und die Erhöhung der Abgeordnetendiäten; beides mußte offenbar als eine Art politisches Schmiermittel zur Herstellung der „Einigkeit der Demokraten“ herhalten. Der heutige Ministerpräsident Lafontaine war damals Mitglied des zuständigen Parlamentsausschusses und stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion. Er hat, als die Angelegenheit durch ein Gutachten aus meiner Feder (aus dem der „Spiegel“ eine Titelgeschichte machte) am 11. Mai 1992 veröffentlicht wurde, zunächst zwar -ganz ähnlich wie vor ihm die Hamburger -versucht,. das Gesetz „ohne Einschränkung“ zu verteidigen, die Kritiker persönlich zu beschimpfen und die Medien mit der Nazi-Presse auf eine Stufe zu stellen. Wenn es aber noch eines Beweises bedurft hätte, wie unangemessen die saarländische Regelung ist, so haben ihn jetzt die niedersächsische und die hessische Landesregierung erbracht. Sie legten im Herbst 1992 Gesetzentwürfe vor, die die ebenfalls unhaltbare Überversorgung des niedersächsischen und des hessischen Ministergesetzes für die Zukunft beseitigten und insoweit zugleich Maßstäbe für das Saarland setzten.

Auch die Ministergesetze anderer Bundesländer enthalten nicht zu rechtfertigende Privilegien und müssen geändert werden. Dabei liegen die Probleme nicht in den offen ausgewiesenen Gehältern der Minister, sondern in den kleingedruckten, aber ökonomisch gewichtigen Zusatzleistungen, die geradezu durch eine Flucht aus der Öffentlichkeit gekennzeichnet sind. Neben den erwähnten Auswüchsen der Versorgung sind hier z. B. überhöhte Aufwandsentschädigungen zu nennen, die in Wahrheit ein steuerfreies Zusatzeinkommen dar-demhalben Abgeordnetengehalt noch steuerfreie Kostenpauschalen von fast 6000 DM monatlich zusätzlich. Solche Pauschalen sind verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn sie sich am amtsbedingten Aufwand orientieren. Das ist aber sicher nicht der Fall, wie sich schon daran zeigt, daß die steuerfreien Beträge bayerischer Minister höher sind als im Bund und fast viermal so hoch wie in Niedersachsen.

Auch in Rheinland-Pfalz bestehen für Minister z. B.sehr viel günstigere Versorgungsregelungen als im Bund. Ein rheinland-pfälzischer Minister kann schon nach einem Tag Amtszeit eine Pension von 55 Prozent und nach fünf Jahren Amtszeit von 70 Prozent seiner Aktivenbezüge erwerben, wenn zehn Parlamentsjahre vorangehen. Die Regelung wurde -auch insoweit ähnlich wie im Saarland -schon vor langen Jahren eingeführt, damals noch unter der Regierung von Helmut Kohl.

Die Oppositionsfraktionen der SPD und FDP kritisierten den Regierungsentwurf auch in Rheinland-Pfalz nicht, sondern hielten sich durch massive Anhebungen der Fraktionsmittel (die durch Änderung des Verteilungsmodus vornehmlich der Opposition zugutekamen) und der Abgeordneten-diäten schadlos. Einmal mehr erfolgte ein Hoch-schaukeln zu Lasten der Steuerzahler ohne Rücksicht auf die Unangemessenheit der Regelungen. Damit wird auch klar, warum Lafontaines Gegen-attacke gegen die Kritiker der saarländischen Regelungen ausgerechnet bei Kohl öffentlichen Beifall fand. Ende 1992 hat auch die rheinland-pfälzische Landesregierung Eckdaten beschlossen, die die Versorgungsprivilegien beseitigen sollen.

Die Versorgung westdeutscher Minister wurde vor kurzem im Wege der „Amtshilfe“ durch westliche Berater auch auf die neuen Länder übertragen. So sind z. B. nach dem Thüringer Ministergesetz vom 14. Mai 1991 -wie in Rheinland-Pfalz, das die Betreuung Thüringens übernommen hatte -bis zu zehn vorangehende Jahre in einem Parlament auf die Altersversorgung anzurechnen, selbst dann, wenn sie außerhalb Thüringens und lange vor der Entstehung dieses Landes abgeleistet wurden. Ein Nutznießer ist Jochen Lengemann, der frühere Präsident des Hessischen Landtags, der nach dem dortigen Diätenfall seinen Hut nehmen mußte. Er war nach Gründung des Landes für kurze Zeit Thüringer Minister „für besondere Aufgaben“ und vergoldete dadurch seine früheren Jahre als hessischer Landtagsabgeordneter.

Inzwischen ist die Berechtigung der Kritik an der staatlichen Politikfinanzierung in Deutschland und ihre Reformbedürftigkeit weithin anerkannt. Das Bundesverfassungsgericht hat die staatliche Parteienfinanzierung in einem Urteil vom 9. April 1992 in weiten Bereichen für verfassungswidrig erklärt. Der Bundespräsident hat darauf eine Kommission zur Reform der Finanzierung der Parteien und ihrer Hilfsorganisationen, die Bundestagspräsidentin eine weitere Kommission zur Reform der Bezüge und Versorgungen von Abgeordneten und Ministern berufen. Die erstgenannte Kommission hat ihre Empfehlung im Februar 1993 vorgelegt. Auch die Landesparlamente haben Kommissionen, allerdings mit zum Teil merkwürdiger Besetzung, berufen, so daß die Gesamt-thematik von zwei plus bis zu sechzehn Kommissionen behandelt wird und dabei die Zusammenhänge und der Überblick zu leiden drohen.

III. Ausblick

So gut und richtig der Gedanke wirklich unabhängiger und sachverständiger Kommissionen zur Beratungder Parlamente ist -gerade wenn diese in eigener Sache entscheiden -, so sehr wäre es ein Irrweg, wenn die Entscheidung selbst auf die Kommissionen übertragen würde. Ganz abgesehen von den hier bestehenden verfassungsrechtlichen Schranken, bestehen auch große praktische Gefahren: Gelänge es nämlich der politischen Klasse, die Kommission organisatorisch, prozedural und besonders personell in den Griff zu bekommen und zu einer „Hofkommission“ zu degradieren, wären Gefälligkeitsgutachten zu erwarten, die den Bürger und Steuerzahler vollends schutzlos machen und alle Bremsen gegen die Ausbeutung des Staates durch seine Diener beseitigen würden. Dann würde das Parlament auch berechtigte Kritik von sich weisen und die Zuständigkeit der Kommission vorschieben; diese aber wäre dem Volk nicht verantwortlich -eine mit unserem demokratischen System unvereinbare Konstellation. Der politische Druck zur Gleichschaltung der Kommission wäre gewaltig, viel größer noch als bei lediglich beratenden Kommissionen -angesichts dessen, was materiell für die politische Klasse auf dem Spiel stände.

Die skizzierten Fälle weisen alle vier genannten Problempunkte auf: Es ist der Politik nicht gelungen, die Parteienfinanzierung und die Ministerversorgung in den Ländern befriedigend zu ordnen. Das Bundesverfassungsgericht ist bei der Parteien-finanzierung immer wieder, mehr schlecht als recht, als Ersatzgesetzgeber in die Bresche gesprungen. Wo es dies bisher nicht tat -wie bei der Finanzierung der Fraktionen und Parteistiftungen oder bei der Durchsetzung eines der Parteipolitik entzogenen Verfahrens der Besetzung der Stellen im öffentlichen Dienst -bleibt die Materie ungeordnet. Die Problemlösungskompetenz der Parteien ist hier besonders gering. Auch die Entmündigung des Volkes geht bei der Politikfinanzierung besonders weit: Durch Kartellabsprachen der Parteien wird der Bürger entmachtet. Wen immer er wählt -alle sind in das Kartell eingebunden.

Wo dem Volk seine Rechte nicht vorenthalten werden, ist das Niveau der Politikfinanzierung weit niedriger -z. B. in der Schweiz, wo jedes Gesetz unter Vorbehalt des Volksentscheids steht, oder in den USA und England, wo das Direktwahlrecht das Element der personalen Verantwortung des Abgeordneten in viel stärkerer Weise hervorkehrt als bei uns. Auch in Frankreich ist der Zusammenhang zwischen Wahlsystem und staatlicher Politik-finanzierung deutlich. Eine ausgeprägte Staats-finanzierung der Parteien wurde in der kurzen Periode von 1986 bis 1988 eingeführt, als in Frankreich vorübergehend ein Verhältniswahlrecht bestand. Die Erfahrungen in Hessen, Hamburg und im Saarland bestätigen den geringen politischen Stellenwert von Sachargumenten, also den Kern dessen, was Bundespräsident von Weizsäcker mit „Machtversessenheit“ und „Machtvergessenheit“ meint. In Hessen wurde Wallmann, im Saarland Lafontaine Monate vor Veröffentlichung der vernichtenden Gutachten schriftlich gewarnt und um der Sache willen um Reforminitiativen gebeten. Es geschah nichts. Erst nach Veröffentlichung der Gutachten wurde unter massivstem öffentlichen Druck schließlich eingelenkt, und auch die Begründung dafür belegt den geringen Stellenwert von Sachfragen: Nicht wegen der groben Unangemessenheit wurden in Hessen und Hamburg die Gesetze wieder aufgehoben, sondern weil man die Wucht der öffentlichen Kritik unterschätzt habe. Der große Rechtsdenker und Justizminister in der Weimarer Republik, Gustav Radbruch, hat klarsichtig betont, gegen Übermacht und Machtmißbrauch der Parteien gebe es letztlich nur ein wirksames Gegenmittel: die Aktivierung des Volkes selbst. Die Forderung, das Volk behutsam aus der Entmündigung zu entlassen, ist also nicht nur demokratischer Selbstzweck, weil mehr Entscheidung durch das Volk in einer Demokratie einen Eigenwert darstellt, sondern zugleich auch Mittel zur Eindämmung parteilicher Ausbeutungstendenzen. Sie wird zum Element einer erneuerten Gewaltenteilung gegen eine Über-und Allmacht der Parteien. Ein Beleg ist der Volksentscheid, mit dem die Direktwahl der Bürgermeister und Landräte in Hessen eingeführt wurde und mit dem auch die parteipolitische Blockierung dieser Frage in Nordrhein-Westfalen aufgebrochen werden könnte.

Aktivierung des Volkes heißt aber nicht in erster Linie Selbstentscheidung in Sachfragen, sondern vor allem Verstärkung seines Einflusses auf die Personalauswahl. Sie ist geeignet, gleich mehreren parteilichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, auch den Defiziten der Personalrekrutierung und der Entscheidungskompetenz. Dies läßt sich an der Einrichtung des direktgewählten Bürgermeisters in Baden-Württemberg zeigen: Der Bürger kommt in der Direktwahl zu Wort, die Parteien werden zurückgedrängt. In Baden-Württemberg sind über 50 Prozent der Bürgermeister -vornehmlich in kleineren Gemeinden -ohne Parteibuch, und auch in Städten sind die Bürgermeister alles andere als hörige Parteisoldaten. Spezialstudien zeigen, daß parteiliche Postenkungelei hier deutlich geringer ist, weil der Direktgewählte es sich leisten kann, Personalwünsche der Fraktionen zurückzuweisen, ohne seine Wiederwahl zu gefährden; denn dafür ist das Volk zuständig, das korrekte Amtsführung honoriert. Die Attraktivität des direktgewählten Amtes lockt die besten Bewerber an. Der Direktgewählte kann das Gemeindewohl zu seiner Sache machen, hat hohe Entscheidungskompetenz und braucht eine Über-wucherung durch gutorganisierte Partikularinteressen weniger zu fürchten. Der baden-württembergische Bürgermeister ist also geeignet, alle vier oben genannten Problempunkte der Parteienherrschaft zugleich einzudämmen. Bei ihm gibt es dann auch keine öffentliche Kritik der Bezüge. Wer seinen Bürgermeister selbst auswählen kann, ist eher davon überzeugt, daß der das, was er verdient, auch verdient.

Auf der Ebene der parlamentarischen Demokratie kommen -mangels direktdemokratischer Einrichtungen -als Elemente der Gewaltenteilung gegen Fehlentwicklungen des Parteienstaates nur die Verfassungsgerichte, die öffentliche Meinung und die Wissenschaft in Betracht. Wehe aber, wenn es den Parteien gelänge, auch diese allmählich völlig gleichzuschalten. Dann wäre das Volk vollends hilf-und wehrlos gegen alle Ausbeutungstendenzen.

Sind die Parteien sich einig, bleibt -mangels aller direktdemokratischen Elemente -als Kontrolle nur noch die öffentliche Diskussion, das „plebiscite de tous les jour“. Die öffentliche Kritik in Hessen, Hamburg und im Saarland war wohl auch deshalb so durchschlagend, weil sich hier im Zusammenwirken von wissenschaftlichen Expertisen, die der Bund der Steuerzahler vorlegte, und den Medien ein Ventil, eine Art Ersatzkontrolle für die fehlende direkte Mitwirkung der Bürger ergab, mit der selbst 90-Prozent-Mehrheiten in den Parlamenten zur Rücknahme mißbräuchlicher Gesetze in eigener Sache gezwungen werden konnten. Dies bleibt allerdings nur ein Ersatz. Gäbe es in Hamburg Volksbegehren und Volksentscheid, hätte der Kampf nicht vier Monate gedauert.

Es geht aber nicht um einzelne spektakuläre Fälle, sondern darum, die Grundlagen der politischen Willensbildung zu verbessern. Die Stellung der politischen Parteien ist heute die Verfassungsfrage in Deutschland oder sollte es doch sein. Das Grundgesetz beschränkte sich 1949 darauf, die Parteien anzuerkennen, ohne ihnen aber zugleich Grenzen zu setzen. Das reicht heute nicht mehr. Nach dem Wort Lord Actons, daß Macht korrumpiert und absolute Macht absolut korrumpiert, bedürfen heute vor allem die politischen Parteien der verfassungsrechtlichen Disziplinierung. Eine staatliche Ordnung, die dem parteilichen Egoismus auf Kosten des Gemeinwohls freien Lauf läßt, hat auf Dauer keine Zukunft — vor allem nicht in einer Zeit, in der die Herausforderungen des Parteien-staates schlagartig wachsen.

Hinsichtlich der Politikfinanzierung, in der sich die Strukturmängel des Parteienstaates wie durch eine Lupe vergrößert zeigen, sind die Probleme inzwischen erkannt und zu ihrer Bewältigung immerhin zwei Kommissionen berufen. Es fehlt aber noch völlig ein Ansetzen an den Wurzeln der Probleme, für die die Finanzierung ja nur ein Symptom darstellt.

Mitte der siebziger Jahre gab es eine Enquete-Kommission Verfassungsreform. Sie drang jedoch nicht zum Kern der Problematik vor; die Rolle der politischen Parteien wurde noch nicht in den Blick genommen. Heute ist es an der Zeit, diese Probleme gezielt zu thematisieren. Ihr energisches Anpacken könnte sich am Ende sogar als Überlebensfrage für unsere rechts-und sozialstaatliche Demokratie erweisen. Der Bundespräsident sollte sich nun vielleicht beim Wort nehmen lassen und ein Gremium von unabhängigen und erfahrenen Persönlichkeiten berufen mit dem Auftrag, über eine mögliche Neuordnung nachzudenken.

Daß es auch darauf ankommt, die institutionelle Ordnung zu reformieren, hat der Staatsphilosoph Karl Raimund Popper folgendermaßen formuliert, und mit diesem Zitat will ich schließen: „Die Rechtsordnung kann zu einem mächtigen Instrument für ihre eigene Verteidigung werden. Zudem können wir die öffentliche Meinung beeinflussen und auf einem viel strengeren moralischen Kodex bestehen. All dies können wir tun; es setzt aber die Erkenntnis voraus, daß es ... unsere Aufgabe ist und wir nicht darauf warten dürfen, daß auf wunderbare Weise von selbst eine neue Welt geschaffen werde.“

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hans Herbert von Arnim, Dr. jur., Dipl. -Volkswirt, geb. 1939; o. Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Kommunal-und Haushaltsrecht, sowie Verfassungslehre an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Veröffentlichungen u. a.: Volkswirtschaftspolitik. Eine Einführung, Frankfurt 19855; Gemeinwohl und Gruppeninteressen, Frankfurt 1977; Ämterpatronage durch politische Parteien, Wiesbaden 1980; Parteienfinanzierung, Wiesbaden 1982; Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984; Macht macht erfinderisch, Osnabrück 1988; Wirtschaftlichkeit als Rechtsprinzip, Berlin 1988; Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, Mainz 1991.