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Deutsche Identitäten. Gesellschaft und Kultur im vereinten Deutschland | APuZ 13-14/1996 | bpb.de

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Deutsche Identitäten. Gesellschaft und Kultur im vereinten Deutschland

Hermann Glaser

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Begriff „Nation“ zeigt die Sogkraft eines eher eindimensionalen, simplifizierenden Identitätsangebots; man sollte ihm daher durchaus auch mit Ironie (Distanzierungsfähigkeit) und dem Gefühl verlorener Unschuld entgegentreten. Historisch gesehen ist der Begriff „Nation“ jedoch unverzichtbar; so gilt es, die deutschen Staatsverbrechen im Dritten Reich -es handelte sich um solche „nationalen“ Ursprungs -immer wieder mit Trauerarbeit zu vergegenwärtigen. Im Westen ist dies anfangs unzulänglich geschehen („die zweite Schuld“); im Osten hat der ideologisch vermittelte Mythos vom Antifaschismus den Blick auf die Notwendigkeit von Kollektivscham und unaufhebbarer Verantwortung für das Geschehene verstellt. Doch entwickelte sich gerade in den neuen Bundesländern ein verfassungspatriotischer Elan, wie er „Suchenden“, die sich nicht saturiert im Besitz von Demokratie wähnen können, zu eigen ist. Sich dabei auch -nach so langem Entzug -mit dem Anspruch auf ein besseres, schöneres Leben zu identifizieren, ist Teil des Menschenrechts auf Glückseligkeit, das zudem sozialer Marktwirtschaft entspricht. (Ethischer Utilitarismus erstrebt das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl.) Die Pluralisierung von Identität ist vor allem Aufgabe kultureller Empathie: aufzuspüren ist im deutsch-deutschen Diskurs, was war, was bleibt, was ist und was werden kann. Realer wie geistiger Föderalismus sind per se antifundamentalistisch; gegenseitiger Gedanken-und Gefühlsaustausch relativiert das „Eigene“, das aber deshalb nicht aufzugeben, sondern „aufzuheben“ (zu erhalten, zu überwinden und „höherzubringen“) ist. Wo bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich -Ruck-zuck-bzw. fix-und-fertige Antworten führen da nicht weiter; „leise“ und vertiefende Reflexion im Zeichen von Interkulturalität ist angebracht.

I.

In einer „Nachschrift“ zu seinem zentralen Werk „Der Name der Rose“ hat Umberto Eco festgestellt, daß die postmoderne Antwort auf die Moderne in der Einsicht und Anerkennung bestehe, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann (da ihre Zerstörung zum Schweigen führe), auf neue Weise ins Auge gefaßt werden müsse: mit Ironie, ohne Unschuld. Diese Bemerkung läßt sich wohl auch auf die Mentalitätsmuster der deutschen Vereinigung übertragen: Wenn wir heute von Nation sprechen, sollten wir dies mit Ironie (Distanzierungsfähigkeit) und mit dem Gefühl verlorener Unschuld tun. Dem aufgeklärten Bewußtsein ist die staatliche Organisationsform, in der die Menschen sich sozialisieren, relativ gleichgültig. Aber offensichtlich leben wir in einer Zeit, da der Wunsch nach Auflösung nationaler Grenzen, wie er in der unmittelbaren Nachkriegszeit viele junge Menschen bewegte, keine besonders identitätsbildende Kraft mehr hat. Obwohl Europa bei seinem Einigungsbemühen durchaus vorangekommen ist -die vorwiegend wirtschaftlich-generierte Motorik bei gleichzeitiger Bürokratisierung („Bürokratie“) setzt keine den Begriff der „Nation“ transzendierenden Bestrebungen in Bewegung. Diejenigen, die das Volk darstellen, also emphatisch oder rational das demokratische Legitimationsprinzip bejahen, wollen offensichtlich zu allererst ein Volk sein.

Auch wenn ich selbst dem Nationalgefühl keine besondere Zukunft Voraussage, so bedeutet für mich Nation in der Dimension von Vergangenheit ein Faktum, dem man nicht entkommen kann. Nicht nur im Namen der deutschen Nation, sondern durch diese deutsche Nation sind unfaßbare Verbrechen begangen worden; man kann aus solcher Vergangenheit nicht einfach aussteigen, sondern muß sie durch Trauerarbeit vergegenwärtigen. Ein solches Nationalgefühl kann auf eine paradox-negative Weise die deutsche Zusammengehörigkeit verstärken; das hat das Erinnerungsjahr 1995 (die 50. Wiederkehr des Kriegsendes) deutlich gemacht.

Während im Westen seit der Adenauer-Ära, also seit der Gründung der Bundesrepublik, unter Anleitung der Spitzen und Stützen der Gesellschaft -freilich bei gleichzeitigem Widerstand der in den Medien und in der Kulturpolitik vorwaltenden „Gesinnungsästhetik“ -die „Unfähigkeit zu trauern“ vorherrschend war, stand der Osten im Zeichen des antifaschistischen Mythos, mit dessen Hilfe man sich in eine moralische Siegerposition hineinprojizierte. Ein großer Teil der DDR-Bevölkerung konnte so das Gefühl der Kollektivschuld, Kollektivscham und kollektiver Verantwortung von sich weisen. Es ist daher geboten, „daß man sich auch in Ostdeutschland diesem gemeinsamen Teil der Geschichte stellt und anerkennt, daß sich die ehemaligen Nazis nach 1945 nicht alle in Westdeutschland konzentriert haben, während sich Ostdeutschland jeder Verantwortung für die NaziVerbrechen und die Folgen der Nazi-Herrschaft und der dadurch notwendigen Reflexion entziehen kann“ (Hubertus Müller-Groeling) Sieht man im deutsch-deutschen Diskurs „Nation“ als wichtigen gemeinsamen Nenner, so wird es vor allem darauf ankommen, der reaktionären Naivität, mit der in West und Ost aus unterschiedlichen Gründen die abgründigen Auswirkungen des deutschen Nationalbegriffs unbeachtet blieben, eine Absage zu erteilen. Heiner Müller hat dies auf literarische Weise getan, freilich ohne mit einer ähnlichen Radikalität gegen den falschen Mythos vom Antifaschismus vorzugehen; anders Wolf Bier-mann, der das ganze Deutschland dem „deutschen Herbst“ verfallen sah: „ In diesem Lande leben wir wie Fremdlinge im eigenen Haus .. .“

II.

„Hitler stahl mir meine Kindheit -Stalin und Ulbricht meine Jugend -Honecker meine besten Jahre -Kohls Konsorten wollen den Rest!“ Der „Jahrgang 1935“, der sich so auf einem von der Westberliner Tageszeitung (taz) veröffentlichten Plakat zu Wort meldete -„benachbarte“ Jahrgänge wären damit gleichermaßen charakterisiert befände sich demnach im Osten vollständig auf der Verliererseite (so weit er sich nicht dem DDR-Machtapparat integriert hatte).

Doch ist das Phänomen zerbrochener bzw. lädierter Ich-Stärke, etwa bei den älteren Arbeitslosen, den Überflüssigen, den Hoffnungslosen, eine gesamtdeutsche Erscheinung. Die Politik-und Modernitätsverlierer in Ost wie West bilden eine gemeinsame, quantitativ immer mehr zunehmende Kohorte reduzierten Lebens. Freilich gibt es unterschiedliche Schuldzuweisungen. Die objektiv hohen Beträge, die der Westen für den deutsch-deutschen Lastenausgleich beisteuert, mit entsprechenden positiven infrastrukturellen Folgen, verstärken dort den Eindruck, daß die Vereinigung ein Verlustgeschäft gewesen ist; andererseits wächst in den neuen Bundesländern die Nostalgie nach dem Status quo ante -soweit dieser soziale Sicherheit durch einen „vormundschaftlichen Staat“ (Rolf Henrich) gewährleistet hat. Dem Nach-Urteil der Älteren entspricht das Vor-Urteil der Jungen; so zeigte sich, daß 1992, bei einer Vergleichsstudie von Schulaufsätzen zum Thema „Deutsche Einheit“ in den Partnerländern Thüringen und Rheinland-Pfalz, nur etwa ein Drittel der Schüler die Einheit positiv bewertete: „Am besten, sie würden gleich wieder dahin zurückgeschickt, wo sie herkommen.“ ... „Die blöden Wessis könnten sich überhaupt nicht vorstellen, wie es in der DDR zugegangen sei; man sollte es nun umgekehrt machen und die Wessis einschließen.“

Eine ganz anders motivierte Begründung für ihre Ablehnung der deutsch-deutschen Vereinigung liefern vielfach Intellektuelle und Künstler; der Osten habe leichtfertig seine Identität aufgegeben; der dort wuchernden Warenwelt zuliebe. So heißt es bei Volker Braun „Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.

Es wirft sich weg und seine magre Zierde.

Dem Winter folgt der Sommer der Begierde. Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst. Und unverständlich wird mein ganzer Text Was ich niemals besaß wird mir entrissen.

Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen. Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. Wann sag ich wieder mein und meine alle.“ (Die reale Situation: Seit 1989 fanden 1 568 070 Umzüge von Ost-nach Westdeutschland, 488 430 Umzüge von West-nach Ostdeutschland statt; Bilanz: 1 079 640 „gingen in den Westen“.)

Intellektuelle und Künstler in Ost wie West benutzen seit Jahren ihr weitreichendes Deutungsmonopol dazu, den Materialismus der ihren „Gefühls-stau“ (Hans-Joachim Maaz) kompensierenden Ostbevölkerung zu denunzieren. Ich empfinde es jedoch als eine ganz besondere Leistung der DDR-Bevölkerung, daß sie den römischen Grundsatz „ubi bene, ibi patria“ (wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland) ernstgenommen hat und Freude an einem besseren, schöneren Leben, vor allem an der neu gewonnenen Reisefreiheit empfindet. Vielfach sauertöpfisch gewordene Westintellektuelle -erfahren in der Kunst, links zu predigen und rechts zu dinieren -sowie die Vertreter einer früher privilegierten DDR-Kultur, die sich durch die bedrückte mentale wie materielle Lebenslage der Bevölkerung nicht in ihrer Dienstbarkeits-Äquilibristik gestört sahen (zumal wenn sie zu den „Reisekadern“ gehörten), täten gut daran, diese Form gesellschaftspolitischer Bevormundung, als Aufruf zum hären Dasein, aufzugeben. Schon im November 1991 hat eine Emnid-Umfrage in Sachsen gezeigt, daß fast 80 Prozent der Bevölkerung mit ihren privaten Verhältnissen zufrieden sind -während nur 47 Prozent die wirtschaftliche Lage als zufriedenstellend bezeichnen. „Zwischen eigener Erfahrung und Beurteilung der Gesamtsituation besteht also eine erhebliche Diskrepanz“ (Kurt Biedenkopf)

Schmählich ist freilich, daß der Westen diesen Aufstand für ein Behagen in der Kultur und Zivilisation nicht genügend im Sinne des ethischen Utilitarismus (das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl) -im Sinne des Grundgesetzes -unterstützte, sondern das sozialstaatliche Prinzip weiter demontierte. Die Rücksichtslosigkeit, mit der die verstaatlichte Wirtschaft der DDR privatisiert, und die Gefühllosigkeit, mit der die Besitz-ansprüche der früher aus der DDR Vertriebenen restituiert werden, sowie die Hilflosigkeit gegenüber struktureller Arbeitslosigkeit mißachten das Prinzip der Sozialverträglichkeit und damit der sozialen Marktwirtschaft; aber auch die Gesichts-punkte effizienten Managements. Es ist dementsprechend charakteristisch für den Verlust verfassungspatriotischer Kreativität, daß in beiden Teilen Deutschlands fast nur noch von freier statt von sozialer Marktwirtschaft gesprochen wird.

III.

Was den „Überbau“, die Welt der Ideen und Ideale, betrifft, so sollten wir in West wie Ost nicht vergessen, daß Da-Sein nur gedeiht, wenn es von Freiheit überwölbt ist. Der „aufrechte Gang“ in der deutschen Gesellschaft, die sich dementsprechend als Zivilgesellschaft definieren müßte, ist möglich -auch wenn die Erosion der Grundrechts-Praxis, bewirkt durch Kleinmut, Anpassung, Opportunismus, Gleichgültigkeit, Depression, zugenommen hat. „Mit Sorge und Respekt zugleich sehe ich die Abrieb-und Zerreibungsprozesse bei denen, die sich ins politische Geschäft begeben. Ich weiß um alte Probleme im neuen Gewand, auch um die Abgründe, die sich auftaten, nachdem der Aufbruch gelungen schien. Mich beunruhigt der Unfrieden in der Freiheit nach dem Zwangsfrieden in der Diktatur. Auch die wütende Fremdentlastungs-wie die schale Selbstgerechtigkeitspose. Die alten Beschädigungen reichen tief, neue sind hinzugekommen. Den Demütigungen in der Diktatur folgten alsbald die Demütigungen in der Freiheit“ (Friedrich Schon lemmer)

Beeindruckt bin ich von den Menschen in den neuen Bundesländern, die, trotz der Enttäuschungen und des Leidensdrucks der Jahrzehnte nach Kriegsende, nicht aufgegeben haben und mit ihrem ungebrochenen Möglichkeitssinn der postmodernen Beliebigkeit entgegentreten, die sich vorwiegend im Westen ausgebreitet hat: Was ist, ist eben -vor allem, wenn es sich gefällig darbietet. Das Sein als Design. Anything goes; don't worry be happy; all is pretty; nach uns die Sintflut. Odo Marquard spricht von der Inkompetenzkompensationskompetenz, der smarten Fähigkeit, den Mangel an Orientierung durch nichtssagende Gefälligkeit zu überspielen. Leere, aber darüber Glasur. Was wir jedoch brauchen, ist die Bereitschaft zum Wandel -ohne dogmatische Festlegung, im Sinne Lichtenbergs, der nicht sicher war, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber davon überzeugt war, daß es anders werden muß, wenn es gut werden soll.

Obwohl meine Identifikation mit der „alten“ Bundesrepublik sehr tief greift, habe ich in den letzten Jahren vor allem in den neuen Bundesländern Menschen mit „bundesrepublikanischem“ Elan getroffen. Das erinnert an die Trümmerzeit, da bei einer nicht geringen Anzahl von Menschen der zurückliegende Leidensdruck das Prinzip Hoffnung fundierte. Daß der Osten eine Identitätskrise durchläuft, dürfte sich dabei positiv auswirken. Was man nicht hat -nämlich die Sicherheit des Bei-sich-selbst-Seins -, inspiriert zur Suche. Im Westen glaubt man, Demokratie (ursprünglich vor allem ein „Geschenk“ der Westalliierten) zu besitzen. Neu ist die Demokratie im Osten; sie erscheint als Herausforderung, muß erworben werden. Identität wurde in der DDR suggeriert, illusionär propagiert und totalitär oktroyiert. Die Mehrzahl der Menschen wußte jedoch, daß sie, in die Identität mit der DDR hineingetrieben, Beute von Betrügern war. Das Nichtidentische war das Refugium vor solcher Identität, lokalisiert in Nischen. Auf dem Polster der Platitüde mag man das Gefühl haben, saturiert eine Bleibe gefunden zu haben. Mehr denn je kommt es aber auf die Suchenden an. Obwohl die DDR durch viel kleinbürgerlichen Mief und roten Plüsch charakterisiert war, ist nach meiner Einschätzung die Anzahl derjenigen, die seither „auf dem Weg“ sind, groß.

In seinem Gedicht „Und als wir ans Ufer kamen“ hat Wolf Biermann die zerbrochene DDR-Identität psychotopographisch lokalisiert „... Was wird bloß aus unsem Bäumen In diesem zerrissenen Land Die Wunden wollen nicht zugehn Unter dem Dreckverband. Und was wird mit unseren Freunden Und was noch aus dir, aus mir Ich möchte am liebsten weg sein Und bleibe am liebsten hier -am liebsten hier.“

Während es die westliche freiheitliche Staatsordnung dem einzelnen leicht ermöglichte, seine Identität im privaten und engen Umkreis zu finden, in seiner Familie, seiner Wohnung, seinem Haus, seiner Gemeinde -in vielfältigen „Territorien von Seinsgewißheit“ -, wurden die im Staatsgebiet der DDR Lebenden auf eine kollektive Pseudo-Identität ausgerichtet, die eine natürliche heimatliche Bindung ständig durch ein größeres, abstrakt-sozialistisch definiertes Ganzes zu substituieren suchte. Das „Hiersein“, z. B. in der Nische, war als Privatheit eine Gefahr für ein System, das, wie jede totalitäre Gesellschaftsordnung, das Ich des Menschen in ein Es zu verwandeln trachtete, um ihn besser manipulieren zu können. Der Bannstrahl traf natürlich auch den Wunsch aufs „Dort-sein“, das meist, vorwiegend telematisch vermittelt, im Westen angesiedelt war. Das innovatorische Potential des Ostens könnte insgesamt für die Bundesrepublik die Kultur-Evolution, ohne die Industrienationen in Stagnation erstarren, wieder in Gang setzen. Der westliche Perfektionswahn hat in den Apparaten und Apparaturen Kreativität und Phantasie so „eingeschliffen“, daß der Mut zum Ganz-anderen verloren zu gehen droht. (Da der König nicht wollte, daß sein Sohn querfeldein ginge, schenkte er ihm Roß und Wagen. „Nun brauchst du nicht mehr querfeldein gehen“, sagte er ihm. Nun darfst du nicht mehr querfeldein gehen, war der Sinn seiner Worte. Das Ergebnis: Bald konnte dieser nicht mehr querfeldein gehen.) Vergleicht man die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR, kann man feststellen, daß -bei höchst unterschiedlichen Bedingungen -in beiden Gesellschaften von den Rändern bzw. Peripherien her immer wieder ganz wichtige Impulse kamen. Inmitten einer digitalisierten, telematisierten (traumatisierten) schönen neuen Welt wird es mehr denn je darauf ankommen, den einzelnen zum individuellen „zivilen“, couragierten Eingreifen zu bewegen.

IV.

Gegen die Anziehungskraft des Westens kämpfte die SED seit der Gründung der DDR mit einem ausgedehnten Zensur-, Propaganda-und Agitationsapparat, um den Identitätsbegriff, den man oktroyieren wollte, vor jeder Abweichung zu bewahren. „Wenn ein junges Mädchen unbedacht einen Westschlager trällerte oder ein unschuldiges Kind von der Tante aus dem Westen Kaugummi bekam, hatte der Gegner schon einen Fuß in der Tür . . . Wenn auf Parteiversammlungen vom Gegner die Rede war, wurde die Stimme unwillkürlich gesenkt, als lauere er irgendwo hinter dem mit rotem Fahnentuch verhangenen Podium.“ Armin Mitter und Stefan Wolle haben in ihrem Buch „Untergang auf Raten“ viele Beispiele dafür gegeben, wie das Regime ständig Realitätsverdrängung vornahm, neurotisch fixiert auf einen Gegner, der unsichtbar, aber allgegenwärtig blieb und nur für ein im Klassenkampf erfahrenes Auge zu entdekken war.

Der Fundamentalismus kennt nur eine eindimensionale Identität; jeder muß nach vorgegebener Fasson, niemand darf nach eigener Fasson selig werden. Was dem Nationalsozialismus bei den Deutschen gelang, nämlich die Verschmelzung der Geführten mit den Führern, konnte der Kommunismus nicht wiederholen. „Zu keinem Zeitpunkt hatte der SED-Staat die Mehrheit der Bevölkerung auf seiner Seite.“ Die DDR war ein Kunst-produkt des kalten Krieges ohne innere Legitimation. Beim warenästhetischen Systemvergleich siegte die schlichte Erkenntnis, „daß ein Opel oder ein Volkswagen ein flotteres Auto ist als ein Trabi“

Wie stark war dort die idealistische Identitätssehnsucht -die Sehnsucht nach den Grundwerten des Grundgesetzes, nach einer demokratisch und pluralistisch verfaßten Gesellschaft? Sieht man davon ab, daß die romantisch-protestantisch geprägten Bürgerrechtsbewegungen gerne den Unterbau vom Überbau getrennt haben und dem Überbau die eigentliche Wirkungskraft gesellschaftlicher Veränderung zuordnen wollten -eine sympathische, aber wirklichkeitsfremde Einstellung -, so war die Motivation für die friedliche Revolution im Osten ein Mixtum compositum aus „Ideal und Leben“. So wie auch Identität als ein Plural der Übereinstimmung mit Sachen und Personen, „Territorien“ und Werten zu sehen ist. Einen grundsätzlichen Unterschied zwischen West und Ost hinsichtlich solcher „Identitätsmischung“ gibt es wohl nicht; nur ist sie eben -was individuelle wie kollektive Trauer, auch Neidgefühle und Frustrationsaggressivität hervorruft -in der früheren DDR erst einige Jahrzehnte später aktuell geworden als im Westen Deutschlands.

Was mich bei Begegnungen in den neuen Bundesländern oft irritiert, beunruhigt mich schon viel länger in den alten Bundesländern: nämlich die dem „angewandten Materialismus“ gegenüber doch recht schwache Position des Verfassungspatriotismus. Ist „angenehmes Leben“ wirklich nur eine Sache konsumptiven Wohlstandes und nicht gleichermaßen eine solche staatsbürgerlichen Wohlbefindens? „, Man wirft den Ostdeutschen Undankbarkeit vor, Undankbarkeit für Meinungs-freiheit, freie Wahlen, Reisefreiheit, konvertible Währung. In der Tat ist Freiheit kaum ein Thema mehr im Osten. Vielleicht deshalb, weil im Westen Freiheit etwas Selbstverständliches ist und das Gefühl des Selbstverständlichen sich schneller überträgt, als vieles andere', vermutet der Historiker Lothar Gail. Richard Schröder fügt hinzu: , Es wäre auch deplaziert, wenn man einem Arbeitslosen sagte: Du kannst doch jetzt frei reisen, oder einem, der um sein Haus bangt: Du kannst doch jetzt öffentlich darüber schimpfen.'“ Auch ich finde dies höchst ungenügend, aber nicht „deplaziert“; denn erst der Raum der Freiheit ermöglicht es, Veränderungsabsicht zu plazieren und dann auch zu realisieren.

Die stärkste Erschütterung von Identität im Osten dürfte darin bestehen, daß die Staatssicherheit bei ihrem Überwachungssystem über so viele, vor allem auch „inoffizielle“ Mitarbeiter verfügen konnte. Das Ausmaß moralischer Selbstzersetzung führt dazu, daß man ständig „Doppelleben“ vermutet. Gerade weil der SED-Staat die Mehrheit der Bevölkerung nie auf seiner Seite hatte, ist das Phänomen so verwirrend. Der kafkaeske Umfang der Überwachungsbürokratie ist schwerlich vorstellbar. In den Archiven des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen lagern 202 Kilometer Akten. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte etwa 90 000 Mitarbeiterinnen. Bei den Inoffiziellen mag es sich um 180 000 oder mehr gehandelt haben. Die Intensität der „Beobachtungen“ und Aufzeichnungen ist unterschiedlich; für eine bekannte Berliner Schriftstellerin gibt es zum Beispiel sechs Bände zu je 300 Seiten.

V.

Aus meiner Sicht gehört es zu den großen Leistungen der Bundesrepublik, ein föderatives System (ein Netzwerk aus Bund, Ländern, Regionen, Gemeinden) geschaffen zu haben, dessen plurales Identitätsangebot simplifizierende Kompaktheit bzw. die übermäßige Reduktion von Komplexität zu vermeiden weiß. Das kommunitaristische Modell ist aber durch die zunehmende Finanzkrise der Städte gefährdet; das hat nicht nur wirtschaftliche, sondern auch sozialpsychologische Folgen -kreative Aktivität in stumme Resignation verwandelnd. Was einst ein besonderes Problem der Trabantenstädte gewesen ist, nämlich der Mangel an polyzentrischen Identifikationsmöglichkeiten, breitet sich nun lähmend in der Gesamtstadt aus, wobei diesmal nicht mangelnde kulturelle Kompetenz, sondern monetäre Auspowerung die Schuld trägt. Die multimediale Herabwürdigung des Menschen zum Appetenz-Idioten, dem man nur noch Oberflächenreize anzubieten hat, bewirkt zudem eine Infantilisierung breiter Bevölkerungsschichten.

In der DDR war die Infantilisierung der Bürger Hauptaufgabe des Staates und der Medien. Der Mensch, so Irene Böhme in ihrem Buch „Die da drüben“ (1982), sehe sich, gegängelt durch die autoritäre Vaterrolle des Staates, als Kind behandelt und verhalte sich entsprechend. Junge und Ältere gingen in die Defensive, verweigerten sich, ohne ihre Verweigerung zu proklamieren. Sie lehnten die Verantwortung fürs Ganze wie für sich selbst ab. Sie erwarteten vom Staat, daß er ihre Bedürfnisse befriedige, wie Kinder von ihren Eltern erwarten, daß für Behausung, Nahrung und Kleidung gesorgt werde. Sie lehnten den Staat ab wie Söhne einen gestrengen Vater, eine überfürsorgliche Mutter. „Sie schieben Verantwortung von sich, erwarten die Unterdrückung, fügen sich unwillig und werden nicht aktiv. Bewußt oder unbewußt beharrt ein Teil der Bevölkerung auf Infantilität, grenzt sich ab und beraubt sich möglicher Emanzipation. Unauffälliges Verweigern anerkennt und zementiert Bestehendes.“ Dementsprechend trennen Ost und West ganz „unterschiedliche Erfahrungen des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft und Individuum, was etwa die Rolle des einzelnen betrifft, seine Zuständigkeit, sein Anspruch und Recht auf Selbstverwirklichung“ (Kurt Biedenkopf)

Auf dem Weg zum Untergang der DDR spielte der Verlust von Eigeninitiative und der Mangel an Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, eine große Rolle. In der ersten Phase der Vereinigung konnte man immer wieder beobachten, daß die Risiko-und Innovationsbereitschaft, die Flexibilität und Mobilität, insgesamt die Eigenständigkeit wenn nicht unterwickelt, so doch tiefgreifend gelähmt war. Demgegenüber stelle ich heute fest, daß in kurzer Zeit das zivilgesellschaftliche Tugendsystem sich sowohl aus der Verschüttung durch die SED-Ideologie wie aus der westdeutschen Umklammerung zu befreien und auf eine Weise zu entwickeln vermochte, die das westliche Innovationsniveau allein schon deshalb übertrifft, weil ihm eine gewisse Frische und Neugier zu eigen ist. Ich treffe im Osten -vor allem im Kultursektor -nur selten die im Westen inzwischen geradezu habituell gewordene kulturpessimistische Larmoyanz (nicht zuletzt ehemals linker Kreise); Utopie und Vision sind in den neuen Bundesländern noch etwas wert und werden nicht mit postmoderner Blasiertheit abgewertet. Was tun? Die Frage wird nicht mehr auf leninistische, aber auch nicht auf spätkapitalistische Weise beantwortet. Gerade die rasche Ausbildung einer so lang vom SED-Zentralismus unterdrückten föderativen Identität erinnert an die Hochzeit westlicher kommunaler Geltung: Laßt viele Blumen blühen! Vielfalt ist besser als Einfalt. Die Chancen bestehen im Aufbrechen normativer Muster, im Sich-Ausprobieren, im Pfad-Finden.

VI.

Drei Haupttypen der „Frei-Setzung“ hat Heiner Keupp, mit „gesellschaftlichem Tatsachenblick“ auf Ostdeutschland, aufgezeigt Ich bin der Meinung, daß diese kategorialen Beschreibungen für die gesamte Bundesrepublik gelten:

Die Kreativ-Freigesetzten kommen zum größten Teil aus den bildungsprivilegierten Schichten; sie sehen sich selbst bei aller Kritik am kolonisierenden Vereinheitlichungsprozeß eher als Gewinner der Wende, weil diese ihnen die Zukunft geöffnet hat. Sie erwarten für sich vielfältige Optionen und probieren ihre Ideen und Möglichkeiten aus. Pluralität von Lebenstilen und -werten ist für sie keine Bedrohung. „Ihre sozialen Netze sind heterogen und weitgefächert. Sie vermitteln vielfältige Beziehungschancen und zurren sie normativ nicht fest.“

Die Normativ-Festgesetzten kommen mehrheitlich aus der unteren Mittelschicht und dem oberen Untergrund. Sie sind ohne große Manövriermöglichkeiten in ein Lebensmodell integriert, das im wesentlichen durch relativ autoritäre Normen der eigenen familiären Lebenswelt reguliert wird. Das Gefühl, daß dieses Modell ein Auslaufmodell sein könnte, wird durch projektive Feindbildkonstruktion abgewertet. Offene Zukunftsoptionen werden ebenso als eher bedrohlich erlebt wie plurale Lebensalternativen. Das soziale Netzwerk ist familienzentriert und schottet sich hinter Kontaktmauern ab.

Bei dem Typus der Ausgesetzten verschärft sich die Situation reduzierter Chancen weiter; sie stammen mehrheitlich aus der Unterschicht, und die Familien sind oft zerrüttet. Die Welt außerhalb der eigenen Lebenswelt wird als feindlich und bedrohlich erlebt; vor ihr versucht man sich mit massiven Feindbildern zu schützen. Oft ist der Einsatz von Gewalt die einzige Chance, sich selbst wirksam zu erleben. Das eigene Netz liefert keine Modelle produktiver Lebensgestaltung, enthält relativ wenige Beziehungen und läßt sich als „Gemeinschaft der Ausgeschlossenen“ bezeichnen. Hier könnten die regressiven Zugehörigkeitsangebote der rechten Szene eine besondere Attraktivität erlangen. Sie vermitteln Zugehörigkeit, Anerkennung und das Gefühl der Handlungswirksamkeit.

Aus einer solchen Gesamtanalyse wird deutlich, daß meine relativ optimistische Einschätzung der ostdeutschen Situation offensichtlich zu stark durch die Kreativ-Freigesetzten bestimmt ist. Die Anzahl der Normativ-Festgesetzten und der Ausgesetzten dürfte angesichts einer durch Mehrheitsverhältnisse legitimierten sozialstaatsfeindlichen Politik weiter anwachsen und auf den Irrweg der Zweidrittelgesellschaft verweisen. Die Pluralität der Identitäten kann weder von Normativ-Festgesetzten noch von Ausgesetzten, wohl aber von Kreativ-Freigesetzten genutzt werden.

Die pessimistische Einschätzung der „überstandenen Wende“ sollte als Warnung vor einem dogmatischen Utopismus präsent bleiben, im Sinne von Heinz Czechowski: „Was hinter uns liegt/Wissen wir. Was vor uns liegt/Wird uns unbekannt bleiben/Bis wir es/Hinter uns haben.“

Sie sollte aber durch den aufklärerischen Mut, wie er den Möglichkeitssinn nach Robert Musil kennzeichnet, überwunden werden: „Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.“ Dieser ließe sich als „die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“. Jemand, der auf „mögliche Wahrheiten“ sieht, habe in den Augen anderer oft „ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen . . ., der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt“. Da seine Ideen nichts als noch nicht geborene Wirklichkeiten sind, hat natürlich auch der Möglichkeitssinn Wirklichkeitssinn; aber es ist ein Sinn für die mögliche Wirklichkeit

VII.

Die Folgenlosigkeit der Vereinigung beider deutschen Staaten, so Wolf Lepenies bei einer Beschreibung der deutschen Zustände nach der friedlichen Revolution, sei im Bereich der Politik schmerzlich spürbar. Die politische Klasse der alten Bundesrepublik habe, mit wenigen Ausnahmen, aus der Vereinigung und ihren Folgen ein Festival der Selbstbestätigung gemacht. Die staatliche Einheit Deutschlands wieder herzustellen sei in der Bundesrepublik ein Verfassungsgebot und ein Pflichttopos der politischen Rhetorik, aber keinesfalls eine Orientierungsmarke der praktischen Politik gewesen. „Eine Selbstprüfung deutscher Politiker hat nicht stattgefunden. Verhindert hat sie auch der Politikverzicht der ostdeutschen Dissidenten. Perfider noch als in den Anpassungsorgien der alten Kader und in den Täuschungsmanövern eingespielter Seilschaften der SED und der PDS wirkt in diesem Verzicht auf das Herausarbeiten aus einer alternativen Politik das totalitäre Regime der DDR über seinen Untergang hinaus fort.“

Gestützt vom Amtsverständnis der protestantischen Kirche und in jener Tradition deutscher Innerlichkeit, der stets mehr an selbstbestätigter Melancholie als an Macht oder Mehrheitsgewinn liege, habe sich in der DDR eine jeder Politik gegenüber skeptische Dissidentengesinnung auf Kosten einer wirksamen Oppositionspolitik verbreitet. Diese Gesinnung sei zwar zunehmend und oft unter hohen persönlichen Opfern öffentlichkeitswirksam bekundet worden; zur politischen Strategie aber sei sie nicht geworden. „Die Überpolitisierung der DDR-Gesellschaft hatte den Begriff der Politik, so schien es, auf immer entweiht. Auch als die Dissidenten die Freiheit des politischen Ausdrucks gewonnen hatten, änderte sich dadurch an ihrer Verachtung der Politik nichts.“ Daß die Bürgerbewegung sich in den Schmollwinkel zurückzog, hat freilich einen wichtigen Grund darin, daß das Wahlvolk die unabhängigen moralischen Standpunkte jener nicht honorierte, die Sand im Getriebe einer politischen Betriebsamkeit sein wollten, die mit pseudomoralischer Suada Machtgeschäfte abdeckt.

Den „Mangel an Selbstprüfung deutscher Politik“ sehe ich vor allem in der institutionalisierten Heuchelei am Werk, mit der man im Westen, dann, wenn es paßt, die schwierige Situation eines Lebens in der Diktatur bagatellisiert. Es sei, so nochmals Lepenies, schwer einzusehen, warum Künstler und Wissenschaftler sich einer peinlichen Umerziehung unterwerfen sollen, wenn zugleich die „Blockflöten“ politische Führungspositionen besetzen dürfen. Zu den Folgelasten der Vereinigung gehöre, daß heute in Deutschland der politische Komplize und der kulturelle Mitläufer immer noch mit zweierlei Maß gemessen würden

Während man zum Beispiel diejenigen verurteilt, die sich mit der PDS dadurch auseinandersetzen, daß sie sich mit deren Vertretern zusammensetzen, besteht keinerlei moralische Sensibilität, wenn es um die eigenen politischen und wirtschaftlichen Kontakte geht. Die junge Lehrerin für Marxismus und Leninismus wird abgewickelt; die keineswegs selbstlose Finanzhilfe, die Franz Josef Strauß der DDR vermittelte (sie dadurch entschieden stabilisierend), wird als Faktum unter den Teppich gekehrt. Universitätsprofessoren und Dozenten wird selbst bei höchst ambivalentem Prüfungsergebnis die Lehr-bzw. Forschungsqualität abgesprochen; wenn jedoch der Bundeskanzler für einen der Inkompetentesten des DDR-Regimes, Erich Honecker, den „roten Teppich“ auslegen ließ, so bleibt dies „unaufgearbeitet“. Im Vorwort seines Buches über das Schalck-Imperium stellt Peter-Ferdinand Koch fest: „Wenn nur einer von ihnen“ -gemeint sind Alexander Schalck-Golodkowski und der Geheimdienstchef Markus Wolf -„auspackt, wird Deutschland als Europas erste Bananenrepublik Furore machen.“

Hinsichtlich des Elitenwechsels -so Heribert Prantl -gäbe es im Prinzip drei Modelle. Modell eins: Man wechselt die Elite nicht aus, weil man befürchtet, der Staat, die Gesellschaft würden das Verschwinden der alten Elite nicht verkraften. „Dies erleben wir jetzt in ganz Osteuropa. Richter, hohe Beamte, Kombinatsleiter und so weiter bleiben in ihren Positionen. Dieses Modell hat man in Frankreich nach Petain und in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend angewandt.“ Die DDR habe nach dem Krieg ein völlig anderes Modell gewählt -und dafür gäbe es in der Weltgeschichte nur wenige Beispiele -, nämlich einen radikalen Elitewechsel. Was man nach der Wende versuche, sei ein drittes Modell, das zwischen eins und zwei liege. „Was ich daran kritisiere, sind die Maßstäbe, die meines Erachtens nicht stimmen. Ich nehme nur das Beispiel der Richter in der DDR. Übriggeblieben sind nicht die Couragierten; die haben sich längst aus der Justiz verabschiedet und nach anderen Wegen im neuen System gesucht. Die politischen Scharfmacher sind es auch nicht; diese Karrieristen waren intelligent genug zu wissen, daß sie im neuen System keine Chance hatten. Wer geblieben ist, sind die servilen Diener der Macht, die Mitläufer, jene, die sich immer ganz gut arrangieren können. Gerade diese unpolitischen Diplomjuristen kann ein Rechtsstaat eigentlich nicht gebrauchen.“

Heuchlerisch ist in besonderem Maße, wie man vom Westen her im Osten die „Entstasifizierung“ betreibt -während man in der früheren Bundesrepublik über Jahrzehnte mit skandalöser Nachlässigkeit die Aufarbeitung des Nationalsozialismus wie die rechtsstaatliche Ahndung der NS-Verbrechen aus meist politischem Kalkül versäumte, damit eine „zweite Schuld“ (Ralf Giordano) auf sich ladend. Durch eine „kalte Amnestie“ (Jörg Friedrich) wurden die größten geschichtsbekannten Verbrechen mit dem größten Resozialisationswerk abgeschlossen

Die Notwendigkeit der Gauck-Behörde wird dadurch nicht bestritten, doch sollte man die Klärung ostdeutscher Vergangenheit vor allem denjenigen überlassen, denen die Befreiung vom SED-Regime gelang, und zudem auch eine gewisse „komparatistische Gerechtigkeit“ zeigen. „Es geht darum, die meisten Leute, die -aus welchen Gründen auch immer -mitgemacht haben, freizusprechen, wenn sie nicht direkte Verbrechen begangen haben. Ich bin da nicht weich oder versöhnlerisch; ich spreche lediglich aus den Erfahrungen, die wir in der Bundesrepublik nach 1945 gemacht haben. Ich sage Ihnen, bei uns wimmelte es in den 50er und 60er Jahren von alten Parteigenossen in hohen Stellungen; das sind alles fabelhafte Demokraten geworden -ich mag nur nicht, wenn sie jetzt in weißen Westen gegenüber den Ossis auftreten. So schwach ist der Mensch; das sollten wir ganz nüchtern sehen, und ich meine es keineswegs zynisch“ (Rüdiger Altmann)

Die westdeutsche Kulturheuchelei stellt zwar die ostdeutsche in den Schatten (zumal sie mit der Attitüde des Siegers gekoppelt ist), doch wird jene dadurch nicht exkulpiert. Heuchlerisch ist die in der DDR vorwiegend in intellektuellen Kreisen anzutreffende unterschiedliche Gewichtung, mit der man nach der Wende „Systemkritik“ betreibt. Die westliche Ordnung gleicht dann einer Katastrophe; die östliche, die die Katastrophe bewirkt hat, wird., einschließlich der eigenen Verwicklungen, freundlich-nostalgisch entschuldet.

VIII.

Aufgrund meiner Erfahrungen und Begegnungen mit Menschen in den neuen Bundesländern bin ich der Meinung, daß eine weit verbreitete, an sich sympathische Identifikation mit Kunst und Kultur die gleichermaßen notwendige Streitkultur (vor allem auch die Skepsis gegenüber der normativen Rolle des Intellektuellen), vernachlässigt. Eine häufig anzutreffende mental-romantische Einstellung gegenüber der Gesellschaft verkennt diese als Gemeinschaft -vom Wärmestrom durchdrungen. Es geht aber nicht um die Gleichgestimmtheit von Seelen, sondern um wohlwollendes Mißtrauen, um eine die Freude und den Ärger am anderen austarierende Vorsicht -Nähe über Distanz. Kritik an der Kälte des Westens ist dann gerechtfertigt, wenn dadurch persönliche Beziehungen betroffen sind. „Coolness“ im gesellschaftlichen Umgang ist jedoch eine realistische Tugend, die vor blindem Vertrauen schützt und der „Ökologie“ der Beziehungen dient (auch die Grünen haben längst politische Gemeinschaftsromantik und Idyllik abgelegt). Ich bin nicht mit dem Staat verheiratet, sondern mit meiner Frau, meinte der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann. Der deutsche Identitätenpluralismus darf nicht durch Gefühle, sondern muß durch Respekt zusammengehalten werden. In einem offenen Brief an Antje Vollmer bemerkte Bärbel Bohley, daß man es im Westen kaum verstehen werde, daß das Leben im Osten doch auch sehr viel Spaß gemacht habe. Man sei traurig, heiter, verzweifelt gewesen, habe intensiv gelebt. „Auch ein Leben im Osten war ein ganzes Leben.“ Der Gegenschluß legt nahe, daß im Westen offensichtlich aufgrund eines fatalen Opportunismus das Leben zum Oberflächenphänomen verkommen ist, dort nur noch Benutzeroberflächen sich austauschen. Immer kommt es jedoch -in Ost wie West -auf den einzelnen Menschen an, ob das Haben das Sein lädiert. Armut ist weder ein großer Glanz von innen, noch legitimiert sie Hochmut gegenüber sogenannten Konsumidioten. Das Recht auf Glückseligkeit ist ein Menschenrecht; freilich kommt es darauf an, daß das Streben nach Wohlbefinden mit Empathie und Klugheit verbunden ist. (Wenn dein Teller voll ist und der deines Nachbarn leer, so gib ihm die Hälfte -wenn nicht aus Mitleid, so doch aus Klugheit!)

Das „ganze Leben“ mag in Diktaturen, weil es dort schwer vor den Eingriffen des Staates zu bewahren ist, intensiver sein; andererseits ist die Normalität des „ganzen Lebens“ der eigentlich erstrebenswerte Zustand. Wenn nun, wie es Udo Bartsch vermutet, den ähnlicher werdenden Lebensverhältnissen der Menschen im Osten mit denen im Westen die Tendenz zur Angleichung ihrer geistigen Werte, Sinnansprüche und Motivationen innewohnt, so sollte sich das in beiden Kulturen (wenn auch im Rahmen unterschiedlicher Sozialisation) entwickelte Wertbewußtsein -vor allem die Beachtung des Stillen, Leisen, Vertieften -im gegenseitigen Gedanken-und Gefühlsaustausch weiter entwickeln. „Freundbruder aus Wolfsland wir wollen/Unsere Blicke anzünden an etwas glauben.“ (Sarah Kirsch) „Was bleibt?“ ist eine zentrale kulturelle, vor allem kulturgeschichtliche und kulturpolitische Frage. „Was bleibt, stiften die Dichter.“ Wenn man den Hölderlin-Satz verallgemeinert: Die Künstler mit und in ihren Werken ermöglichen über die Zeiten hinweg Erinnerungsarbeit. Was bleibt -ob als immaterieller oder materieller Wert -, ist Grund für Stolz und Trauer, identitätsstiftend, denn der Mensch ist ein Wesen mit Gedächtnis, und dieses Gedächtnis wäre historisch leer, wenn nichts bliebe. Die Erbschaft der Zeiten ist, wenn sie nicht zur starren Bürde wird, „aufzuheben“ -in dem dreifachen Sinne, wie ihn Hegel in Wort und Begriff anwesend sieht: zu bewahren, zu überwinden, höherzubringen (sublimieren). Kulturarbeit ist solchem „Aufheben“ verpflichtet, Behagen wie Unbehagen in und an der Kultur einschließend. Übertragen auf das Thema der deutschen Identitäten: Was bleibt? Was ist aufzuheben (zu bewahren), was wegzuräumen, was ist aufs Transzendieren angelegt? Die Frage intendiert, daß die Antwort darauf der Identität förderlich ist und das diskursive Bemühen um Bestandsaufnahme, das Bei-sich-selbst-Sein (eben Identität) erleichtert. Der individuelle wie kollektive psychische Zustand der Identität wird, wenn er ein solcher des Seins und nicht des Scheins ist, als Ergebnis steter Anstrengung zu begreifen sein, mit dem Ziel, dem Dasein personalen Halt zu geben. Die Zeit-Dimension ist dabei die der Langsamkeit, voller Irrungen und Wirrungen: Wo bin ich, was bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich? Entschleunigung und „Abseitigkeit“ waren im östlichen Teil Deutschlands wesentliche Merkmale der Kultur-und Kunst-Nischen: „Schutzfunktionen in einer ansonsten eher feindlichen staatlichen und gesellschaftlichen Struktur, die entsprechend eingriff“ (Kurt Biedenkopf)

Am Ende ihrer Erzählung „Was bleibt“ schreibt Christa Wolf, die eigene Wohnung als Topos für den Rückzug aus gesellschaftlicher Verflochtenheit verstehend „Ich ging durch alle Zimmer und drehte alle Lichtschalter aus, bis nur noch die Schreibtischlampe brannte. Diesmal hätten sie mich aber beinahe gehabt. Diesmal haben sie, ob sie es nun darauf angelegt hatten oder nicht, den Punkt getroffen. Den ich eines Tages, in meiner neuen Sprache, benennen würde. Eines Tages, dachte ich, werde ich sprechen können, ganz leicht und frei. Es ist noch zu früh, aber ist es nicht immer zu früh. Sollte ich mich nicht einfach hinsetzen an diesen Tisch, unter diese Lampe, das Papier zurechtrükken, den Stift nehmen und anfangen. Was bleibt. Was meiner Stadt zugrunde liegt und woran sie zugrunde geht. Daß es kein Unglück gibt außer dem, nicht zu leben. Und am Ende keine Verzweiflung außer der, nicht gelebt zu haben.“

Das Dasein der Autorin spiegelt das der Mehrzahl der Intellektuellen im autoritären bzw. totalitären Staat: Wagnisse und Zugeständnisse halten sich die Waage; man bemüht sich, nicht zu sehr aufzufallen, sich einigermaßen herauszuhalten; läßt sich aber auch „halb“ ein. Äquilibristik ist gefragt. Die Hoffnung, daß Wahrheit eines Tages möglich sein werde, kompensiert das Gefühl der geistig-seelischen Erstickung an der Lüge. „Eines Tages werde ich sprechen können.“ Die Not aktueller dichterischer Existenz wird auf die Zukunft projiziert. Der selbst erteilte Auftrag heißt: die Wahrheit schreiben; die Daseinsangst gebietet jedoch Verzicht auf Widerstand.

Veröffentlicht wurde Christa Wolfs Text, von dem angegeben ist, daß er vor dem Juni/Juli 1979 entstand, im Jahr der Wende, November 1989. Der dadurch ausgelöste „Literaturstreit“ ist fast schon vergessen, aber das, was in der Diskussion teilweise sehr heftig, mit persönlichen Angriffen ver-bunden, erörtert wurde, wiederholt sich ständig und wird weiterhin kulturelles Leben bestimmen: Ist die künstlerische Gestaltung moralischen Prinzipien verpflichtet, muß sie „gesinnungsästhetisch“ auf der richtigen Seite stehen; oder genügt die selbstreferentielle Qualität, also Kunst um der Kunst willen? Gerade diejenigen, die gesinnungsästhetische Kategorien als fragwürdig empfinden (Kunst werde dadurch „in Dienst genommen“ -prinzipiell verwerflich, auch wenn es sich um eine gute Sache handle), kritisierten Christa Wolfs Erzählung nicht nur wegen des Mangels an literarischer Qualität, sondern ihre Person wegen des Mangels an politischer Widerstandskraft bzw. wegen opportunistischen Verhaltens; aufgeschlagen werde ein weiteres Kapitel in dem sehr deutschen Traktat von Gedanke und Tat, eine trübselige Fallstudie in der Schule des verführten Denkens (Frank Schirrmacher)

Sieht man davon ab, daß sich (als Typus gesehen) viele der Kritiker der in ihrer Haltung ambivalenten Christa Wolf angesichts viel ungefährlicherer Situationen und Strukturen in vorauseilendem Gehorsam anpassen -wie etwa ein Blick in Zeitungs-, Rundfunk-oder Fernsehredaktionen zeigt -, so ist „verführtes Denken“ in der Geschichte der Intellektuellen und Künstler häufig anzutreffen. „Was bleibt“ ist auch die bittere Erkenntnis, daß der Mensch so ist, wie er ist; was immerhin die optimistische Erwartung anzuregen vermag: Er könnte auch anders, besser sein als er ist.

Die Erfahrungen mit der deutschen Vereinigung evozieren die Betroffenheit durch offene Fragen. Der Vorhang ist freilich noch nicht zu; er ist erst aufgezogen worden. Für die Bühne der neuen Staatlichkeit sind die Drehbücher neu zu entwerfen. Einstweilen ist sie ein Ort für Ungereimtes.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In: 94. Bergedorfer Gesprächskreis. Wege der inneren Einheit -Was trennt die Deutschen nach der Überwindung der Mauer?, Hamburg 1992, S. 29.

  2. Wolf Biermann, Alle Lieder, Köln 1991, S. 199.

  3. Joachim Brune u. a.,... aber die Mauern bauen die Menschen sich selbst..., Speyer 1991.

  4. Zit. nach Karl Otto Conrady (Hrsg.), Das große deutsche Gedichtbuch, München-Zürich 1992, S. 857.

  5. Bergedorfer Gesprächskreis (Anm. 1), S. 57.

  6. Friedrich Schorlemmer, Ich sehe und säe unverdrossen das Senfkorn Hoffnung, in: Frankfurter Rundschau vom 11. Oktober 1993.

  7. W. Biermann (Anm. 2), S. 280.

  8. Armin Mitter/Stefan Wolle, Untergang auf Raten, München 1993.

  9. Eike Libbert, Wie auseinanderwächst, was zusammengehört, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Januar 1993.

  10. Irene Böhme, Die da drüben. Sieben Kapitel DDR, Berlin 1982, S. 43.

  11. Bergedorfer Gesprächskreis (Anm. 1), S. 10.

  12. Heiner Keupp, Phantasma „Deutsche Identität“, in: Süddeutsche Zeitung vom 10. November 1994.

  13. Zit. nach K. O. Conrady (Anm. 4), S. 778.

  14. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1992, S. 16 f. Vgl. Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen, Frankfurt/M. 1993.

  15. Wolf Lepenies, Ressentiment und Überheblichkeit. Die Intellektuellen im deutschen Einigungsprozeß, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. März 1992.

  16. Peter-Ferdinand Koch, Das Schalck-Imperium lebt. Deutschland wird gekauft, München 1992.

  17. Bergedorfer Gesprächskreis (Anm. 1), S. 69.

  18. Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987.

  19. Jörg Friedrich, Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik. Frankfurt/M. 1985.

  20. Bergedorfer Gesprächskreis (Anm. 1), S. 40.

  21. Zit. bei: Rüdiger Thomas, Lebensspuren. Zur Mentalitätsgeschichte der Deutschen in der DDR, in: Gisela Helwig (Hrsg.), Rückblicke auf die DDR, Köln 1995, S. 187.

  22. Bergedorfer Gesprächskreis (Anm. 1), S. 13.

  23. Christa Wolf, Was bleibt, Frankfurt/M. 1990, S. 107.

  24. Frank Schirrmacher, Dem Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Juni 1990.

Weitere Inhalte

Hermann Glaser, Dr. phil., geb. 1928; Honorarprofessor an der Technischen Universität Berlin; Publizist; Mitglied des PEN. Letzte Buchveröffentlichungen: Behagen und Unbehagen in der Kulturpolitik, Bad Heilbrunn 1992; Bildungsbürgertum und Nationalismus, München 1993; Industriekultur und Alltagsleben. Vom Biedermeier zur Postmoderne, Frankfurt am Main 1994; 1945 -Ein Lesebuch, Frankfurt am Main 1995.