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Demokratie macht den Unterschied | Indische Unabhängigkeit | bpb.de

Indische Unabhängigkeit Editorial Kolonialismus zwischen Modernisierung und Traditionalisierung. Die britische Herrschaft in Indien Auf dem Weg zu Unabhängigkeit und Teilung. Widerstand gegen die koloniale Herrschaft in Britisch-Indien Vom goldenen zum geteilten Bengalen. Eine kurze Geschichte der Bengalen und ihrer Heimatregion Religion, Politik, Nation. Demokratie und Nationalismus in Indien seit der Unabhängigkeit 1947 Demokratie macht den Unterschied. Indiens und Pakistans Regimeentwicklung im Vergleich Großmachtambitionen, Mittelmachtressourcen. Indiens Rolle in der Region und in der Welt Karten

Demokratie macht den Unterschied Indiens und Pakistans Regimeentwicklung im Vergleich

Agnieszka Nitza-Makowska

/ 15 Minuten zu lesen

Indien und Pakistan gingen 1947 aus der Einheit Britisch-Indien hervor. Trotz dieses gemeinsamen Erbes und sozioökonomischer und kultureller Parallelen entwickelte sich in Indien eine Demokratie, in Pakistan nicht. Welche Gründe sind dafür ausschlaggebend?

Bevor Indien und Pakistan 1947 unabhängig wurden, hatten sie als Britisch-Indien eine politische Einheit gebildet. Aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit als Kolonie ergaben sich sozioökonomische und kulturelle Parallelen, trotzdem entwickelten sich in den beiden Ländern unterschiedliche politische Systeme. Während Indien nahezu während seines gesamten Bestehens als Demokratie gilt, wird Pakistan unterschiedlich beurteilt und abhängig von der jeweiligen Epoche als autoritäres oder hybrides Regime bezeichnet.

Die sozioökonomischen Merkmale der beiden Länder – darunter auch solche, die im scheinbaren Widerspruch zu einer Demokratie stehen oder zumindest eine Herausforderung sind, wie etwa die hierarchische Struktur der Gesellschaft und die starke öffentliche Präsenz der Religion in beiden Staaten (obwohl Indien offiziell ein säkularer Staat ist) – spielten bei der Entstehung des jeweiligen politischen Systems in Indien und Pakistan eine eher untergeordnete Rolle. Allerdings wurde die weitere Entwicklung in beiden Staaten durch die Art und Weise beeinflusst, wie die politischen Eliten mit diesen Eigenschaften umgingen und den politischen Rahmen an die Gesellschaft anpassten (oder auch nicht), die nach den Prinzipien Kaste, Sprache, Religion und Geschlecht geordnet ist, aber gleichzeitig auch von ihnen gespalten wird. Bereits zu Beginn der Unabhängigkeit gelang es dem Indischen Nationalkongress (Indian National Congress; INC, auch Kongresspartei genannt), der in der indischen Unabhängigkeitsbewegung eine führende Rolle gespielt und sich dann zur Partei entwickelt hatte, den demokratischen institutionellen Rahmen an die einzigartigen kulturellen Bedingungen des Landes anzupassen. Insbesondere führte er ein Programm mit Sonderrechten für ethnische und sozial benachteiligte Gruppen ein und erkannte die gängigsten regionalen Sprachen als offizielle Sprachen an. Die Muslimliga, das pakistanische Gegenstück zum INC, vernachlässigte dagegen die ethnische Arithmetik des Landes und weigerte sich, die bengalische Sprache als offizielle Sprache anzuerkennen, obwohl eine Mehrheit der Bürger, laut Volkszählung von 1951 55 Prozent, Bengalisch sprach, vor allem im Ostteil des Landes, im heutigen Bangladesch.

Der Erfolg der Demokratie in Indien und ihr Scheitern in Pakistan sind in erster Linie auf die jeweiligen politischen Bedingungen zurückzuführen. Dazu gehören die unterschiedliche Stärke der Unabhängigkeitsbewegungen in beiden Ländern, die Haltung zur Demokratie und der Stellenwert nationaler Sicherheit. Letzterer war (und ist) in Pakistan höher, wodurch vermehrt Mitglieder der Sicherheitsdienste und des Militärs in die Politik gegangen sind und ein Machtungleichgewicht zulasten ziviler Politiker entstanden ist. So werden die Gründe des Machtungleichgewichts zumindest in politischen und akademischen Kreisen sowie in großen Teilen der Gesellschaft Pakistans wahrgenommen. Beobachter von außen erkennen jedoch, dass der Sicherheits- und Militärapparat des Landes zwar indirekt, aber durchaus gezielt den Antagonismus zu Indien schürt, um den Eindruck zu erwecken, das Militär sei für das Überleben Pakistans unverzichtbar. Darüber hinaus begünstigten die sozialen Strukturen die unterschiedliche politische Entwicklung: Während in Pakistan das Militär und die Großgrundbesitzer dominierten, gab es in Indien eine unter britischer Herrschaft entstandene dynamische bürgerliche Kaufmanns- und Händlerschicht.

Um die Frage zu beantworten, warum Indien eine Demokratie geworden ist und Pakistan nicht, betrachte ich zunächst den jeweiligen politischen Weg der beiden Länder seit 1947, um anschließend auf die Auswirkungen der genannten Bedingungen und ihrer Wechselwirkungen auf die politische Entwicklung einzugehen.

Politische Wege Indiens und Pakistans seit 1947

Der Unterschied zwischen Indien und Pakistan in der Regimeentwicklung war schon in der ersten Phase nach der Unabhängigkeit zu erkennen. Der friedliche Demokratisierungsprozess Indiens wurde nur kurzzeitig von 1975 bis 1977 gestört, als ein Ausnahmezustand verhängt wurde, während Pakistan aufgrund von Militärputschen 1958, 1977 und 1999 eine Erosion der Demokratie erlebte. Die Abbildung verdeutlicht diesen Unterschied.

Auch die US-amerikanische Nichtregierungsorganisation Freedom House, die zu Themen im Zusammenhang mit Freiheit und Demokratie forscht, führt Indien seit 1989, als die Organisation zusätzlich zu ihren Jahresberichten eine erste Liste mit Wahldemokratien veröffentlicht hat, als Wahldemokratie auf. Pakistan wiederum wurde nur in zwei Zeitabschnitten als solche identifiziert: von 1989 bis 1998, also vom Ende der Militärdiktatur Muhammad Zia-ul-Haqs bis zum Staatsstreich von Pervez Musharraf, und vom ersten demokratischen Übergang 2013 bis 2016. Im folgenden Jahr wurde der damalige Premierminister Nawaz Sharif nach einem vom pakistanischen Militär gesteuerten Korruptionsprozess seines Amtes enthoben, was das demokratische Niveau weiter sinken ließ.

In seinen Jahresberichten "Freedom in the World" bewertet Freedom House den Zustand der Demokratie anhand der politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten in einem Staat. Bis 2019 wurde Indien als "freies" Land geführt. Doch seit 2020 hat die Innenpolitik der regierenden hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Partei (BJP) dazu geführt, dass Freiheiten ausgehöhlt wurden und das demokratische Niveau sinkt, weshalb Indien schließlich auf den Status "teilweise frei" herabgestuft wurde. Zu dieser Politik zählen ein diskriminierendes Staatsbürgerschaftsgesetz und andere Maßnahmen, die sich gegen die muslimische Bevölkerung Indiens richten, Beschränkungen für die ausländische Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen und eine immer engere Verbindung zwischen Partei und Justiz. Ironischerweise rangiert Indien, das seit seinem Bestehen fast immer als "größte Demokratie der Welt" und wichtige "Ausnahme" betrachtet wurde – als Land, in dem die Demokratie trotz gegensätzlicher Tendenzen in der Region gedieh –, nun auf demselben Platz wie Pakistan, dessen politisches System als "pseudoromantische Fassade" beschrieben wird, "die die Realität der anhaltenden Vormundschaft des Militärs überdeckt". Zwar hatte Pakistan meist den Status "teilweise frei" inne, rangierte jedoch während der beiden Militärregime unter Zia-ul-Haq (1979–1984) und Musharraf (1999–2007) auf der niedrigsten Stufe "nicht frei".

Obwohl die vergleichenden Studien bestätigen, dass sich die politische Entwicklung in Indien und Pakistan deutlich unterscheidet, ist angesichts des jüngsten Rückgangs der Demokratie in Indien interessant, dass sie auch drei Zeiträume aufzeigen, in denen der Abstand zwischen den beiden Ländern relativ gering war: In einer ersten Phase der Unabhängigkeit, als Indien und Pakistan gemeinsam die "schöne neue Welt der Volksdemokratien" erkundeten; einer zweiten Phase, in der die indische Premierministerin Indira Gandhi den bereits erwähnten Ausnahmezustand verkündete, sich damit "anscheinend für die Autokratie entschied, [während] Pakistan unter der Führung Zulfiqar Ali Bhuttos den Grundstein für ein neues demokratisches Regime legte" und die bis zu den nationalen Wahlen in Indien und dem Militärputsch 1977 in Pakistan andauerte; schließlich in einer dritten Phase, in der Pakistan 2013 seinen ersten demokratischen Machtwechsel erlebte und Indien "einen rapiden Rückgang bei mehreren Demokratie-Indikatoren [verzeichnete], der mit der Politik der Modi-Regierung einherging, im Verbund mit politischen Strategien, die von extremistischen Hindu-Nationalisten in der Zivilgesellschaft ab 2014 verfolgt wurden".

Koloniales Erbe

Vor der Unabhängigkeit waren Indien und Pakistan Teil des britischen Kolonialreichs. Allerdings verwaltete London die Gebiete, die später zur Republik Indien gehören sollten, anders als die, die zu Pakistan wurden: "Mit der Errichtung britischer Handelsposten in Bengalen waren Hindu-Händler, Kaufleute und Buchhalter mindestens ein halbes Jahrhundert lang die einzigen Mittelsleute für den britischen Handel in Indien." Der Indische Aufstand von 1857, der zur Auflösung der Britischen Ostindien-Kompanie führte, zwang die britische Regierung, sich neue Partner auf dem indischen Subkontinent zu suchen: "Nun benötigte man Großgrundbesitzer, um die Ernte einzufahren (…) tatsächlich installierten [die Briten] die ersten Großgrundbesitzer und begannen dann, sie zu ermächtigen und für ihre Zwecke zu nutzen." Neben Agrarprodukten diente das Gebiet, das später zu Pakistan wurde, den Briten hauptsächlich dafür, paschtunische und Punjabi-Soldaten zu rekrutieren. Da die britische Kolonialpolitik im Laufe der Zeit bestimmte Bevölkerungsgruppen in den verschiedenen Teilen des Empire bevorzugte und förderte, entwickelte sich auf dem Gebiet des heutigen Indien eine Gesellschaft mit einer soliden urbanen Bevölkerung und einer Schicht von Kaufleuten und Händlern, während Pakistan eine Gesellschaft erbte, die von Grundherren und einem militärischen Establishment dominiert wurde. Der pakistanische Politiker und Anwalt Aitzaz Ahsan hält fest: "In Ermangelung eines einheimischen Bürgertums, dominiert von einer feudalen Elite, die völlig von der kolonialen Bürokratie abhängig war, ohne über strukturierte, programmorientierte Parteien mit einem geschulten Führungspersonal zu verfügen (…) wurde der demokratische Geist in Pakistan von Anfang an kontinuierlich erstickt".

Über die Auswirkung des kolonialen Erbes auf die politische Entwicklung Indiens und Pakistans besteht allerdings keine Einigkeit. Die Politikwissenschaftlerin Maya Tudor schreibt von einem "unverhältnismäßig hohen Anteil des militärischen Erbes in Pakistan", stellt aber auch fest, dass das koloniale Vermächtnis in beiden Staaten relativ ähnlich sei und "nicht zu den wichtigsten Faktoren" bei ihrer unterschiedlichen demokratischen Entwicklung zähle. Einerseits sollte man angesichts des Machtungleichgewichts zwischen dem zivilen und dem militärischen Establishment in Pakistan und seinen Auswirkungen auf die politische Entwicklung des Landes keinen Faktor ignorieren, der zum Aufstieg des Militärs führte, wenn man das demokratische Versagen plausibel erklären will. Andererseits ist dieses Ungleichgewicht nicht ausschließlich auf das koloniale Erbe zurückzuführen, sondern hat auch noch andere Ursachen, vor allem das Versäumnis der Muslimliga, nach der Unabhängigkeit zeitnah einen soliden demokratischen Rahmen zu schaffen, und die ungünstigen geopolitischen Bedingungen, die durch eine geschickte Außenpolitik hätten abgemildert werden können. Stattdessen wurde der Sicherheits- und Militärapparat zum Garanten für das Überleben des Staates.

Soziokulturelle Bedingungen

In Indien wie in Pakistan finden sich soziokulturelle Bedingungen, die eine demokratische Entwicklung erschweren. Die Gesellschaften beider Länder sind hierarchisch organisiert und entlang der Trennlinien von Kaste, Klasse, Sprache, Religion und Geschlecht tief gespalten. Als besondere Hemmnisse haben sich die soziale Hierarchie und die fehlende Trennung zwischen privatem und öffentlichem Raum im Hinduismus und Islam erwiesen, die nur schwer mit einer Demokratie zu vereinen sind.

Um benachteiligte Gruppen in der indischen Gesellschaft zu stärken, führten die Architekten des Staates ein Programm mit Sonderrechten für ethnische und sozial benachteiligte Gruppen ein, das den Gemeinschaften, die von der Indischen Verfassung als Scheduled Castes ("gelistete Kasten") und Scheduled Tribes ("gelistete Stammesgemeinschaften") eingestuft werden, einen besonderen Status einräumt. Die Kategorie Scheduled Castes (SC) wurde für die Dalits ("Unberührbaren") geschaffen, die etwa 17 Prozent der indischen Bevölkerung stellen. Die Kategorie Scheduled Tribes (ST) bezieht sich auf die Stammesvölker der Adivasi, die in wenig entwickelten Teilen des Landes leben und etwa 8,5 Prozent der indischen Bevölkerung ausmachen. In Hinblick auf das Wahlsystem sieht das Programm Sitze in der Lok Sabha (Unterhaus des Parlaments), in den Vidhan Sabhas (Parlamente der Bundesstaaten) sowie in den Kommunen und Panchayats (Dorfräte) für diese beiden Gruppen vor, und zwar in einer Anzahl, die sich proportional zum Anteil der SC und ST an der Gesamtbevölkerung in einem bestimmten Bundesstaat verhält. Dank dieser Sonderregelung wuchs in Indien das politische Bewusstsein in Teilen der Gesellschaft, die von tiefgreifender Diskriminierung betroffen sind, und verschaffte der Kaste eine starke politische Bedeutung.

Aufgrund der turbulenten politischen Entwicklung in Pakistan und der Tendenz der Regierungen, das Wahlsystem zu ihren Gunsten zu verändern, wurden dort ähnliche Lösungen nur selten umgesetzt. Die Sonderregelungen für Minderheiten bei Wahlen beschränken sich in Pakistan seit den ersten allgemeinen Wahlen 1970 auf wenige reservierte Sitze für Angehörige religiöser Minderheiten und für Frauen. Derzeit sind in der Nationalversammlung von insgesamt 342 Sitzen 60 Sitze für Frauen und 10 für Nichtmuslime reserviert, im Senat sind von 104 Sitzen 17 Frauen und 4 Nichtmuslimen vorbehalten, und auch in den Provinzversammlungen gibt es reservierte Sitze, deren Anzahl sich je nach Provinz oder Territorium unterscheidet. Diese Quoten haben jedoch nur eine begrenzte Wirkung und konnten die Gruppen, die in Pakistan diskriminiert werden, nicht stärken.

Eine weitere Entscheidung des INC, die die kulturellen Verhältnisse in Indien berücksichtigt, ist die Anerkennung der populärsten regionalen Sprachen. Seit Inkrafttreten der Verfassung ist die Zahl dieser Sprachen von 14 auf 22 gestiegen. Die Anerkennung ermöglicht es auch Indern, die kein Hindi sprechen und die seit Bestehen des Staates stets etwa 60 Prozent der Bevölkerung stellen, am öffentlichen Leben teilzuhaben. Darüber hinaus gibt die Verfassung mit der Anerkennung regionaler Sprachen verschiedenen ethnischen Gruppen eine Stimme.

Die Muslimliga hingegen konzentrierte sich ebenso wie ihre Nachfolger darauf, Urdu zur nationalen Sprache zu machen, und lehnte eine ähnliche Lösung wie in Indien ab. Im Februar 1948 weigerte sich der damalige Premierminister Liaquat Ali Khan, anderen Sprachen denselben Status wie Urdu einzuräumen, auch nicht dem am häufigsten gesprochenen Bengali. Maya Tudor führt diese Abwehrhaltung auf die antidemokratische Einstellung der Muslimliga in der Zeit vor und nach der Unabhängigkeit zurück: Die Führung der Muslimliga definiere die Demokratie als ein System, das ausschließlich die Mehrheit begünstige, also die Hindus in Britisch-Indien und die Bengalis aus Ostpakistan im neu geschaffenen Pakistan.

Diese Einstellung gegenüber der Demokratie hatte noch weitreichendere Auswirkungen. Sie hielt die Führung der Muslimliga davon ab, unmittelbar nach der Unabhängigkeit direkte allgemeine Wahlen zu organisieren. Das hatte zur Folge, dass die Wahldemokratie in Pakistan erst gar nicht richtig Fuß fassen konnte. Ohne Manipulation der Wahlen hätten höchstwahrscheinlich die Vertreter der Awami-Liga, der bengalischen Mehrheit, den Sieg davongetragen. Andere ethnische Gruppen schafften es nicht, politische Parteien zu bilden, die ihre Interessen vertraten, mit Ausnahme der Muttahida-Qaumi-Bewegung, die die aus Indien eingewanderten und Urdu-sprechenden Muhajir vertritt. Sie blieb die einzige bedeutende Partei, die Wähler aufgrund ihrer Sprache anspricht.

Pakistan ist offiziell eine islamische Republik, Indien hingegen versteht sich als säkularer Staat, dennoch hat die Religion in beiden Ländern erheblichen Einfluss auf die Politik. Das liegt zum einen daran, dass weder der Islam noch der Hinduismus die Trennung von öffentlichem und privatem Raum anerkennen, zum anderen daran, dass das politische Establishment dazu neigt, die Religion als Instrument zu nutzen, um das individuelle Wahlverhalten zu beeinflussen. Obwohl sich die Präsenz der beiden großen Religionen kaum auf die Gesamtentwicklung der politischen Systeme Indiens oder Pakistans ausgewirkt hat, hat die aktuelle Radikalisierung in Indien und der Aufstieg der BJP dafür gesorgt, dass sich der Staat vom Säkularismus entfernt – ein Grund, warum Indien auf dem Index von Freedom House schlechter eingestuft wurde.

Politische Bedingungen

Ein wesentliches Merkmal jeder Demokratie sind freie und gleiche Wahlen. Die Kontinuität des Wahlprozesses ist in Indien und Pakistan sehr unterschiedlich und offenbart die demokratische Kluft zwischen beiden Ländern. In den ersten fünf Jahren nach der Unabhängigkeit gelang es den herrschenden Eliten in Indien anders als in Pakistan, die Grundlagen für ein stabiles und funktionierendes Wahlsystem zu legen. Die Indische Verfassung trat 1950 in Kraft, die erste Parlamentswahl begann im Jahr danach. Die erste Verfassung Pakistans wurde neun Jahre nach der Unabhängigkeit verabschiedet, doch die ersten allgemeinen Wahlen, bei denen die Muslimliga gegen die Awami-Liga verlor, fanden erst 1970 statt. In dem Zeitraum, in dem Pakistan sich bemühte, die ersten Wahlen zu organisieren (und in den auch die beiden Militärdiktaturen von 1953/54 und von 1958 fallen), konnten die Menschen in Indien insgesamt vier Mal ihre Stimme bei Parlamentswahlen abgeben. Und jede Lok Sabha, die aus diesen Wahlen hervorging, konnte ihre Legislaturperiode auch vollenden.

Doch trotz der regelmäßigen Wahlen gelang es dem INC mehr oder weniger gezielt, die Macht in Indien zu monopolisieren, indem er ein System schuf, das bis 1967 Bestand hatte und bei dem eine Partei dominierte. Dieses System wird auch "Kongresssystem" genannt, weil die Kongresspartei die dominante Partei war und die "Wahlen in jener Zeit keinen fairen Wettbewerb boten (…) Man hatte die Wahl zwischen der allgegenwärtigen Kongresspartei und einer regional zersplitterten Opposition; oft kam die Opposition auch aus der Kongresspartei". In einer längerfristigen Perspektive gilt es aber zu bedenken, dass Indien seit 75 Jahren als Demokratie besteht und der INC, vor allem im Vergleich zur Muslimliga im benachbarten Pakistan, wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Demokratie in Indien Fuß fassen konnte.

Es gibt einige Gründe für die Unterschiede zwischen der Arbeit des INC und der Muslimliga in der ersten Phase nach der Unabhängigkeit. Erstens resultierte die unterschiedliche Macht der beiden daraus, dass der INC eine Generation älter als die Muslimliga war und sich schon früher eine breite Unterstützung sichern konnte. Zweitens hatte die Muslimliga anfangs einen stark elitären Charakter, so bot die Liga in der ersten Zeit nur reichen Personen eine Mitgliedschaft an. Drittens war die Muslimliga gegenüber dem demokratischen Mehrheitsprinzip skeptisch, weil sie befürchtete, die Macht an die Awami-Liga zu verlieren, die die bengalische Mehrheit repräsentierte. Darüber hinaus könnte man argumentieren, dass der INC in Indien schlicht mehr Glück hatte als die Muslimliga in Pakistan. Während Jawaharlal Nehru als Führer der Kongresspartei 17 Jahre lang als Premierminister regierte, starb Muhammad Ali Jinnah, der einzige pakistanische charismatische Anführer, der in jener Zeit eine breite Unterstützung genoss, bereits ein Jahr nach der Unabhängigkeit.

(Un)Glückliche Geopolitik

Das indische Regierungssystem scheint relativ widerstandsfähig gegenüber äußeren Bedrohungen zu sein, die sein eigentliches Funktionieren kaum beeinträchtigten. Wie andere außenpolitische Entwicklungen zeitigten auch die schwierigen Beziehungen zu Pakistan nur geringe Auswirkungen auf die Demokratisierung. Allenfalls lässt sich ein schwacher Einfluss auf das Abschneiden der indischen Parteien bei Wahlen erkennen. So hatten etwa die Beteiligung Indiens an dem Konflikt, der zur Teilung Pakistans und der Entstehung des unabhängigen Bangladesch 1971 führte, oder die erste Ölkrise 1973 einen negativen Einfluss auf das Wahlergebnis des INC in den entsprechenden Wahlen.

Pakistan hingegen fand sich nach der Teilung in einer ungünstigen geopolitischen Situation, umgeben vom starken Indien, mit dem es nur zwei Monate nach der Unabhängigkeit zum Krieg um die Region Kaschmir kam, und Afghanistan, das die Grenzen zwischen beiden Ländern in Form der Durand-Linie nicht anerkennen wollte. In dieser Lage brauchte die Regierung in Islamabad Freunde – und fand sie in China und den USA. Aufgrund der Unterschiede in Bezug auf Status, Macht und Einfluss ging Pakistan mit beiden Ländern eine Art Klientelbeziehung ein, die den externen Druck auf den Staat noch verstärkte.

Die schwierigen bilateralen Beziehungen Pakistans zu Indien und Afghanistan verschärften das Machtungleichgewicht zwischen dem militärischen Establishment und den demokratisch gewählten Politikern, da das Militär seinen Einfluss in der pakistanischen Innen- und Außenpolitik ausbauen konnte. Doch auch in den Beziehungen zu den USA und China liegen Gründe für eine Schwächung der pakistanischen Demokratie. Maya Tudor argumentiert: "Die amerikanische Unterstützung autoritärer Regime hat die antidemokratischen Kräfte in Pakistan eindeutig gestärkt." Washington förderte das Militärregime unter Muhammed Ayub Khan (1958–1969) aufgrund seiner Wirtschaftspolitik, Zia-ul-Haq aufgrund seiner Unterstützung des afghanischen Dschihad (damals von der US-Regierung noch begrüßt) und Musharraf nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Derzeit stehen Chinas Vorstöße im Rahmen des Chinesisch-Pakistanischen Wirtschaftskorridors (CPEC), einem Bestandteil der chinesischen "Belt and Road Initiative", auch bekannt als Seidenstraßen-Initiative, und deren Auswirkungen auf die Demokratie im Mittelpunkt des Interesses. Westliche Experten und Akademiker argwöhnen, Beijing könne den Wirtschaftskorridor zur diplomatischen, strategischen und wirtschaftlichen Einflussnahme nutzen und undemokratische Methoden der Machtausübung und die Zensur kritischer Stimmen fördern, die sich gegen den CPEC wenden. Zudem könnten Chinas Vorstöße die Position des pakistanischen Militärs und des Sicherheitsapparats, denen bei dem Projekt eine wichtige Rolle zukommt, gegenüber der zivilen Führung stärken.

Schluss

Während die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan einschließlich des Kaschmirkonflikts in der Fachliteratur und in den Medien sehr häufig diskutiert werden, erhält die Entwicklung der Regime in beiden Ländern und ihr Vergleich weniger Beachtung. In den wenigen Veröffentlichungen zum Thema werden politische, soziokulturelle und externe Bedingungen genannt, die den Übergang zur Demokratie in Indien und Pakistan begünstigten und/oder hemmten. Die Analysen bestätigen unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren die dominante Rolle des politischen Umfelds, einschließlich der Unterschiede in den Unabhängigkeitsbewegungen der beiden Länder und in der Haltung zur Demokratie, sowie die Positionen der Staaten zur äußeren Sicherheit. Über die Rolle des kolonialen Vermächtnisses bei der Entwicklung der politischen Systeme und der kulturellen Bedingungen herrscht keine Einigkeit. Faszinierend sind allerdings manche Ähnlichkeiten bei der politischen Entwicklung beider Länder, auch wenn diese noch nicht hinreichend untersucht wurden, vor allem in Hinblick auf die Verringerung demokratischer Qualität in Indien aufgrund der von der BJP orchestrierten Hinwendung zum Hindu-Nationalismus.

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zu Bengalen und der bengalischen Sprachentwicklung siehe auch den Beitrag von Carmen Brandt in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.)

  2. Vgl. Freedom House, Freedom in the World 2022 – India, Externer Link: https://freedomhouse.org/country/india/freedom-world/2022.

  3. Vgl. Subrata K. Mitra, India’s Counterfactual Democracy: Institutional Innovation, Political Capital and the Promise of Resilience, in: Jakub Zajączkowski/Jivanta Schottli/Manish Thapa (Hrsg.), India in the Contemporary World. Polity, Economy and International Relations, London u.a. 2014, S. 17; Ramachandra Guha, India After Gandhi. The History of the World’s Largest Democracy, London 2008, S. XXI.

  4. Aqil Shah, Pakistan: Voting Under Military Tutelage, in: Journal of Democracy 1/2019, S. 128–142, Externer Link: http://www.journalofdemocracy.org/articles/pakistan-voting-under-military-tutelage.

  5. Vgl. Freedom House, Freedom in the World 2022 – Pakistan, Externer Link: https://freedomhouse.org/country/pakistan/freedom-world/2022.

  6. Subrata K. Mitra, How Exceptional is India’s Democracy? Path Dependence, Political Capital, and Context in South Asia, in: India Review 4/2013, 227–244, hier S. 229.

  7. Philip Oldenburg, India, Pakistan and Democracy. Solving the Puzzle of Divergent Paths, New York 2010, S. 77.

  8. Sten Widmalm, Is India’s Democracy Really in Decline?, 6.4.2019, Externer Link: https://thewire.in/politics/is-indias-democracy-really-in-decline.

  9. Aitzaz Ahsan, Why Pakistan Is Not a Democracy, in: David Page (Hrsg.), Divided by Democracy, Neu-Delhi 2005, S. 75–144, hier S. 82f.

  10. Ebd., S. 84.

  11. Ebd., S. 141.

  12. Maya Tudor, The Promise of Power. The Origins of Democracy in India and Autocracy in Pakistan, Cambridge 2013, S. 21.

  13. Ebd., S. 22.

  14. Vgl. Census of India 2011, Externer Link: https://censusindia.gov.in/census.website.

  15. Die Zahlen beruhen auf den Ergebnissen des nationalen Zensus, der seit 1951 alle zehn Jahre durchgeführt wird. Siehe Externer Link: https://censusindia.gov.in/census.website/node/378.

  16. Vgl. Tudor (Anm. 12), S. 61–65.

  17. Rajni Kothari, The Congress "System" in India, in: Asian Survey 12/1964, S. 1161–1173.

  18. Yogendra Yadav, Electoral Politics in the Time of Change, India’s Third Electoral System, 1989–99, in: Economic and Political Weekly 34–35/1999, S. 2393–2394.

  19. Die Durand-Linie ist eine koloniale Grenzziehung aus dem Jahr 1893, benannt nach dem britischen Diplomaten Sir Mortimer Durand, einem Hauptarchitekten des entsprechenden Vertrags zwischen den Briten und dem damaligen Emir von Afghanistan. Vgl. Emran Feroz/Fazelminallah Qazizai, Afghanistan und die Durand-Linie. Der 130 Jahre alte Grenzkonflikt, 14.4.2021, Externer Link: http://www.deutschlandfunkkultur.de/afghanistan-und-die-durand-linie-der-130-jahre-alte-100.html (Anm. d. Red.).

  20. Tudor (Anm. 12), S. 31.

  21. Vgl. Agnieszka Kuszewska/Agnieszka Nitza-Makowska, Multifaceted Aspects of Economic Corridors in the Context of Regional Security: The China–Pakistan Economic Corridor as a Stabilising and Destabilising Factor, in: Journal of Asian Security and International Affairs 2/2021, S. 218–248.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Agnieszka Nitza-Makowska für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Assistant Professor für Asien-Studien am Collegium Civitas, Warschau, und hat zum Thema Demokratie in Indien und Pakistan promoviert.
E-Mail Link: agnieszka.nitza@civitas.edu.pl