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Mehr als Protektionismus Industriepolitik und die industrielle Revolution

Réka Juhász Claudia Steinwender

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Beispiele für aktive industriepolitische Einflussnahme des Staates lassen sich bis zu den Anfängen der Industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. Die Eingriffe waren zum Teil weitreichend und gingen deutlich über protektionistische Maßnahmen hinaus.

Industriepolitik steht derzeit ganz oben auf der politischen Agenda der EU und der Vereinigten Staaten. Mit dem Inflation Reduction Act, dem CHIPS and Science Act, dem European Green Deal oder dem European Chips Act versuchen Regierungen, grüne Industrien zu fördern oder die geopolitische Abhängigkeit ihrer Wirtschaft zu reduzieren. Über die Sinnhaftigkeit und Effizienz von industriepolitischen Maßnahmen wird heftig gestritten: Befürworter verweisen auf Beispiele erfolgreicher Industrialisierungsepisoden, die von teilweise tiefgreifenden staatlichen Interventionen geprägt waren – zum Beispiel in den asiatischen Tigerstaaten. Kritiker hingegen argumentieren, dass in diesen Phasen die Wirtschaft trotz und nicht wegen der Industriepolitik gewachsen ist und führen Beispiele an, in denen spezifische Wirtschaftsförderung nicht mit Wachstum verbunden war. In den vergangenen Jahren wurde eine Reihe von qualitativ hochwertigen Forschungsarbeiten zu diesem Thema veröffentlicht, die ein neues Licht auf die Debatte werfen.

Klar ist: Industriepolitik ist kein neues Phänomen. Beispiele aktiver staatlicher Einflussnahme lassen sich mindestens bis zu den Anfängen der Industriellen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. Dies ist in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen stellt sich die Frage, was wir aus der Geschichte über die Wirksamkeit von Industriepolitik lernen können. Zum anderen bedeutet das frühe Vorhandensein von Industriepolitik, dass die Staaten möglicherweise mehr Einfluss auf die geoökonomische Situation vor dem Ersten Weltkrieg hatten, als bisher angenommen.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelang es Großbritannien, in seiner Textilindustrie Schlüsseltechnologien zu entwickeln, die dem Land zu einem beispiellosen Wachstum verhalfen. Viele Länder versuchten in der Folge, diese britischen Technologien zu übernehmen und selbst eine heimische Produktion aufzubauen. Bis zum Ersten Weltkrieg gelang es einer kleinen Gruppe von Ländern weltweit, das Pro-Kopf-Einkommen Großbritanniens einzuholen und in einigen Fällen sogar zu übertreffen. Der Mehrheit der Staaten gelang dies nicht. In dieser Periode, die auch als Great Divergence bezeichnet wird, haben sich die Unterschiede in den Pro-Kopf-Einkommen weltweit erheblich vergrößert – und viele dieser Divergenzen bestehen bis heute fort. Eine zentrale Frage ist daher, welche Rolle die Industriepolitik in dieser Zeit gespielt hat.

Was ist Industriepolitik?

Es gibt keinen Konsens darüber, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Industriepolitik zählen. Wir halten eine weite Definition für hilfreich, um die historische Entwicklung zu skizzieren. Demnach steht Industriepolitik für "jene staatlichen Maßnahmen, die explizit auf die Veränderung der Struktur der Wirtschaftstätigkeit abzielen, um ein Ziel im öffentlichen Interesse zu erreichen". Im 19. Jahrhundert waren diese Ziele häufig wirtschaftliches Wachstum durch den Ausbau des Produktionssektors, das Erreichen der Technologieführerschaft in bestimmten Industrien oder zumindest das wirtschaftliche Aufholen gegenüber anderen Staaten. Moderne industriepolitische Ziele beziehen sich eher auf grünes, nachhaltiges Wachstum oder Innovationsführerschaft in technologieintensiven oder energieeffizienten Bereichen. Darüber hinaus versucht die moderne Wirtschaftspolitik auch die Entwicklung hochqualifizierter Dienstleistungssektoren zu fördern, während im 19. Jahrhundert der Fokus klar auf Produktionssektoren lag.

Industriepolitik kann an drei Stellen ansetzen: Erstens können wirtschaftspolitische Maßnahmen den Zugang zu Inputfaktoren erleichtern, vergünstigen oder sichern. Dies betrifft je nach Branche den Zugang zu ungelernten oder qualifizierten Arbeitskräften, den Zugang zu Rohstoffen oder Halbfertigerzeugnissen oder – für die Produktivität sehr wichtig – den Zugang zu Maschinen, die eine effiziente Produktion ermöglichen. Alternativ oder ergänzend kann Industriepolitik auch versuchen, die Innovationskraft in einem bestimmten Sektor zu stärken, um die Produktivität zu erhöhen und damit Wachstum zu generieren.

Der zweite Bereich der Industriepolitik betrifft die Absatzmärkte: Mit welchen wirtschaftspolitischen Instrumenten kann der potenzielle Kundenkreis der Industrie vergrößert werden? Hier ist Handelspolitik wichtig: Freihandelsabkommen mit anderen Staaten ermöglichen exportorientiertes Wachstum. Alternativ kann versucht werden, die Industrie durch hohe Importzölle vor ausländischer Konkurrenz zu schützen – etwa, um einen latent vorhandenen Wettbewerbsvorteil auszubauen, oder es zu ermöglichen, dass Unternehmen voneinander lernen und dadurch die Produktivität der gesamten Industrie steigt. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Handelsschranken innerhalb des nationalen Marktes abzubauen, beispielsweise durch den Ausbau von Eisenbahnnetzen. Dies war im 19. Jahrhundert ein wichtiger Aspekt, da hohe Transportkosten oder auch intranationale Zölle häufig zu einer regionalen Fragmentierung der Staaten und damit zu kleinen Absatzmärkten führten, in denen hohe Produktivität durch Skalenerträge nur schwer zu erreichen war.

Der dritte Bereich schließlich betrifft die Struktur der Wettbewerbsfähigkeit der zu fördernden Industrie. Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten politischen Handelns: Beispielsweise kann man den Wettbewerb einschränken und Monopole, Kartelle oder Oligopole zulassen, wenn man glaubt, dass nur große Unternehmen Skalenerträge, Investitionen und Innovationen erzielen können. Andererseits kann man den Wettbewerb zwischen Unternehmen auch aktiv fördern, wenn man glaubt, dass dieser zu mehr Innovation führt. Nationalstaaten vertraten hier unterschiedliche Positionen. In Deutschland beispielsweise waren Kartelle legal, und abweichendes Verhalten von Kartellmitgliedern konnte gerichtlich geahndet werden. Japan folgte in den 1920er und 1930er Jahren dem deutschen Beispiel und ersetzte den Wettbewerb durch Kartelle – eine Politik, die auch in der Nachkriegszeit unter dem japanischen Ministerium für Internationalen Handel und Industrie fortgesetzt wurde. In Großbritannien und Frankreich waren Kartelle nicht ausdrücklich erlaubt, obwohl es in beiden Ländern eine Art Gentlemen’s Agreement zwischen Unternehmen gab, das den Wettbewerb einschränkte. In den USA hingegen, wo mit dem Sherman Antitrust Act von 1890 das erste Wettbewerbsrecht eingeführt wurde, waren Kartelle weniger stabil, auch wenn das Gesetz erst im Laufe der Zeit verstärkt angewandt wurde.

Die Industriepolitik des 19. Jahrhunderts war insgesamt weitreichend und umfassend: Laissez-faire-Politik war die Ausnahme, nicht die Regel. Viele Staaten versuchten, fast alle der oben genannten industriepolitischen Maßnahmen in unterschiedlichen Kombinationen umzusetzen.

Zollstruktur

Die Handelspolitik des 19. Jahrhunderts war ausgeklügelter als gemeinhin angenommen. Viele Länder verhängten niedrige Zölle auf industrielle Vorleistungen wie Maschinen, Rohstoffe oder Halbfertigerzeugnisse und schützten gleichzeitig ihre heimische verarbeitende Industrie durch hohe Zölle. Robert Walpole, der erste britische Premierminister, skizzierte dieses Vorgehen bereits 1721: "Es liegt auf der Hand, dass nichts so sehr zur Förderung des öffentlichen Wohlstands beiträgt wie der Export von verarbeiteten Waren und der Import ausländischer Rohmaterialien." Diese Zollstruktur nimmt die Erkenntnisse der modernen empirischen Handelsforschung vorweg, die den Zugang zu hochwertigen oder aber kostengünstigen ausländischen Vorleistungen als einen wichtigen Weg zur Produktivität von Unternehmen im Zuge der Globalisierung identifiziert hat. Vor allem Länder an der Peripherie der Industrialisierung wie Österreich-Ungarn oder Argentinien setzten diese Art der Zollstruktur um.

Die Wirksamkeit von Protektionismus als Industriepolitik wird in der Forschung kontrovers diskutiert – eine eindeutige Bewertung ist aufgrund der komplexen Zusammenhänge schwierig. Einerseits zeigen länderübergreifende Studien, dass Länder, die im 19. Jahrhundert stärker vor Handel „geschützt “ waren, tatsächlich schneller wuchsen als offenere Volkswirtschaften. So konnte beispielsweise Frankreich aufgrund der napoleonischen Handelsblockade seine eigene Baumwollindustrie mechanisieren und entwickeln, was sich in einem langfristigen Wirtschaftswachstum niederschlug. Auf der anderen Seite konnte China, das ein Jahrhundert später durch den Ersten Weltkrieg ebenfalls vorübergehend vor Importen „geschützt“ war, erst eine eigene Textilindustrie aufbauen, als es nach dem Krieg wieder Zugang zu britischen Maschinen hatte. Dies deutet darauf hin, dass die Wirksamkeit von Protektionismus vom allgemeinen Entwicklungsstand der Industrie abhängt: Protektionismus funktioniert möglicherweise nur dann, wenn entweder die Weltspitze der Industrie noch nicht so weit fortgeschritten ist, dass ähnliche Technologien – etwa Maschinen oder Halbfertigerzeugnisse – eigenständig entwickelt werden können, oder wenn die hohen Zölle durch Technologiepolitik unterstützt werden.

Technologie- und Innovationspolitik

Technologie- und Innovationspolitik ist ein weiterer Bereich der Industriepolitik, in dem die Länder eine breite Palette moderner Instrumente eingesetzt haben. Vom bourbonischen Frankreich (1589–1830) bis zum Meiji-Japan (1868–1912) unterstützten viele Staaten auf unterschiedliche Weise den Erwerb und die Übernahme fortschrittlicher Technologien. Einige dieser Instrumente zielten darauf ab, die inländische Innovationskraft zu stärken. So wurden etwa in vielen Ländern Eliteuniversitäten gegründet, wie die École polytechnique in Paris oder die Humboldt-Universität in Berlin. Aber auch berufsbildende höhere Schulen wurden eingerichtet, um Fachkräfte auszubilden, die Maschinen und Technologien verbessern und weiterentwickeln konnten.

Ergänzend dazu wurden im 19. Jahrhundert nach und nach Gesetze zum Schutz des geistigen Eigentums, beispielsweise in Form von Patenten, eingeführt. Vor den 1790er Jahren gab es nur in Großbritannien, Frankreich und den USA einen gewissen Patentschutz. In anderen europäischen Ländern wurde intensiv über die Einführung eines Patentrechts diskutiert. Gegner argumentierten, dass die Schaffung staatlich geförderter Monopole den Wettbewerb reduzieren und die technologische Entwicklung schwächen würde. So schafften etwa die Niederlande ihre Patentgesetzgebung 1869 wieder ab, und die Schweiz führte Patentgesetze erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein. Als jedoch internationale Technologiemessen immer beliebter wurden, führten die allermeisten Länder nationale Patentgesetze ein.

Andere Länder, vor allem technologische Nachzügler, haben eher versucht, den Technologietransfer aus dem Ausland voranzutreiben. Dabei gab es jedoch zwei größere Hindernisse: Zum einen untersagte Großbritannien bis 1843 den Export von Maschinen und Industriewerkzeugen sowie bis 1825 die Auswanderung von Facharbeitern und Ingenieuren. Zum anderen zeigte sich, dass für den Betrieb ausländischer Maschinen auch Fachwissen erforderlich war, das nicht ohne Weiteres vermittelt werden konnte. Die Staaten haben sich verschiedener, nicht immer legaler Mittel bedient, um diese Hindernisse zu überwinden. Bücher über Technik und Wissenschaft wurden aus dem Ausland beschafft, übersetzt und verbreitet; ausländische Maschinen wurden vom Staat gekauft und einheimischen Unternehmen zur Verfügung gestellt; in anderen Fällen finanzierte der Staat sogar ganze Modellfabriken, die mit den neuesten Technologien und Organisationsmethoden ausgestattet waren. Um technologisches Wissen aus dem Ausland zu importieren, wurden illegale Spione entsandt und später, als es internationale Vereinbarungen zum Schutz von Patenten gab, auch legale Studienmissionen.

Wie die aktuelle Forschung zeigt, hatten viele dieser Interventionen positive Auswirkungen auf die heimische Innovationskraft und den Technologietransfer aus dem Ausland. So führte beispielsweise das groß angelegte Technologieprogramm von Meiji-Japan zu einer Steigerung der dortigen industriellen Produktivität. In Deutschland führten die Einführung von Gewerbe- und Realschulen sowie die Gründung von Universitäten zu einer stärkeren Industrialisierung und zu mehr Unternehmensgründungen in den Landkreisen, in denen diese Bildungseinrichtungen angesiedelt wurden.

Patentschutz führte hingegen nicht zwangsläufig zu technologischem Fortschritt – und war dafür auch nicht immer notwendig: Länder ohne Patentschutz brachten auf den Technologiemessen zwischen 1851 und 1876 genauso viele oder sogar mehr Innovationen ein. Diese Innovationen stammten jedoch aus anderen Industrien, nämlich aus solchen, in denen Geheimhaltung eine sinnvolle Alternative zum Patentschutz war, zum Beispiel in der chemischen Industrie, bei optischen Instrumenten oder in der Uhrenindustrie. Internationale Vereinbarungen zum Patentschutz haben sich wiederum positiv auf Innovationen ausgewirkt und zu einem verstärkten internationalen Wissenstransfer geführt.

Infrastruktur

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die regionale, nationale und internationale Infrastruktur massiv ausgebaut. Der Eisenbahn kam dabei eine besondere Rolle zu. Mit ihr konnten notwendige Rohstoffe in die Industriegebiete gebracht werden. In Großbritannien wurden auf diese Weise beispielsweise Kohle aus den Bergwerken und Rohbaumwolle von den Häfen zu den Textilfabriken transportiert. Eisenbahnnetze wurden von den Industrieländern auch in rohstoffproduzierenden Ländern gebaut, um den Transport der Rohstoffe zu den Häfen zu ermöglichen. In einigen Fällen profitierten diese Länder aber auch selbst von dem ausländisch finanzierten Eisenbahnausbau. So wurde etwa die Eisenbahn in Brasilien von britischen Investoren für den Export von Kaffee und Mangan gebaut. Doch schon bald nutzten auch brasilianische Unternehmen die Eisenbahninfrastruktur, um Weizen aus Argentinien zu beziehen oder Baumwolle aus dem Landesinneren in die aufstrebenden Produktionszentren zu befördern. Die britische Entwicklung der brasilianischen Eisenbahnen war somit auch eine „unbeabsichtigte“ Industriepolitik für Brasilien.

Die Beteiligungsform der Staaten am Ausbau der nationalen Eisenbahnnetze war sehr unterschiedlich. Länder, die in der industriellen Entwicklung eher Nachzügler waren, wie Schweden oder Japan, nutzten die Eisenbahn ausdrücklich zur Förderung der Industrie. Johan August Gripenstedt, schwedischer Finanzminister von 1856 bis 1866, meinte dazu: „Wenn man unserer Industrie eine helfende Hand reichen will (…), so kann der Staat die Verbesserung des Landes nicht effizienter, angemessener, unparteiischer und herrlicher unterstützen, als durch eine entschlossene Maßnahme zur Errichtung von Eisenbahnen“. Einige Staaten wie Großbritannien oder Preußen überließen den Eisenbahnbau eher der Privatwirtschaft. Andere wiederum nahmen erheblichen Einfluss auf den Ausbau, auch wenn sie ihn nicht direkt finanzierten. Dies geschah beispielsweise durch die Vergabe von Landrechten und Konzessionen, durch Subventionen oder Gewinngarantien oder durch die Regulierung des Eisenbahnbetriebs.

In der wissenschaftlichen Forschung konnte an vielen Beispielen gezeigt werden, dass gerade Eisenbahnnetze viele positive Auswirkungen auf Wirtschaftswachstum und Industrialisierung hatten. Sie erschlossen weite landwirtschaftliche Gebiete innerhalb eines Landes für den Exportmarkt und ermöglichten Produktivitätssteigerungen durch eine stärkere Spezialisierung der Regionen innerhalb eines Landes. Diese Vorteile zeigen sich in den früh industrialisierten Ländern wie Großbritannien, in den später industrialisierten wie Schweden und Japan und sogar in den Kolonien wie Ghana und Britisch-Indien, wo die Entwicklung der Eisenbahn in erster Linie den Interessen der Kolonialherren und nicht der einheimischen Bevölkerung diente. Eisenbahnen führten auch zu mehr Innovation und Technologieübernahme, da Erfinder durch die verbesserten Transportmöglichkeiten mehr über technologische Bedürfnisse wussten und ihre Patente leichter verkaufen konnten.

Neben der Verbreitung der Eisenbahn und der Dampfschifffahrt wurden im 19. Jahrhundert mit der Telegrafie und der Telefonie die ersten Kommunikationsnetze aufgebaut. Das war revolutionär: Erstmals in der Geschichte der Menschheit konnten Informationen schneller „reisen“ als Waren. Die Kommunikationszeiten verkürzten sich drastisch, oft von Wochen oder gar Monaten auf wenige Tage. Das internationale Telegrafennetz erleichterte die Beschaffung von Inputs aus dem Ausland. Ein wichtiges Beispiel ist der transatlantische Telegraf, der die Beschaffung von Rohbaumwolle aus den USA nach Großbritannien effizienter und schneller machte. Die schnellere Kommunikation durch das Telegrafennetz verringerte auch das Risiko überregionaler und internationaler Handelsgeschäfte und die Volatilität der Preise, was die Produzenten dazu veranlasste, höherwertige Vorprodukte anzubieten.

Exportförderung

Die internationale Kommunikationsinfrastruktur ermöglichte nicht nur Effizienzgewinne bei der Beschaffung von Rohstoffen, sondern auch beim internationalen Verkauf von industriell gefertigten Produkten: Besonders ausgeprägt war dieser Effekt bei kodifizierbaren Produkten, also solchen, die sich besonders gut mit Worten beschreiben ließen. Dies war beispielsweise bei Baumwollgarn im Gegensatz zu bedruckten Baumwollstoffen der Fall.

Neben der Infrastruktur diente auch die Handelspolitik der Erschließung von Exportmärkten. So bildete sich in den 1860er Jahren in Europa ein System bilateraler Verträge heraus, das auf den anglo-französischen Cobden-Chevalier-Vertrag von 1860 zurückgeht. Obwohl dieser Vertrag oft als ein frühes Beispiel für den Übergang zum Freihandel in Europa interpretiert wird, zeigt die neuere Forschung, dass die Senkung der Zölle keineswegs universell für alle Güter erfolgte, sondern vor allem verarbeitete Fertigprodukte betraf. Insbesondere Länder wie Frankreich, die die Zollsenkungen strategisch auf ihre Exportindustrien ausrichteten, erzielten die größten Handelsgewinne. Auch koloniale Märkte kamen als Absatzmärkte infrage: So erhöhte Spanien gegen Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Kolonien die Zölle auf Importe aus Drittländern, was zu einem Anstieg der Importe aus dem Mutterland führte und die Innovation in der heimischen Textilproduktion förderte.

Auch andere wirtschaftspolitische Instrumente eigneten sich zur Exportförderung: So wurde die Schifffahrt subventioniert oder quersubventioniert, vor allem die Dampfschifffahrt. Asiatische Staaten wie Japan unterstützten die Handelsfinanzierung, und Deutschland führte vor dem Ersten Weltkrieg Exportsubventionen für die Schwerindustrie ein, die interessanterweise nicht vom Staat, sondern von Kartellen verwaltet wurden.

Auch ohne Handelsbarrieren war die Erschließung ausländischer Märkte oft schwierig: So wurden westliche Produkte in China häufig von japanischen Markenfälschern imitiert. Westliche Marken waren zwar in ihren Heimatländern und in den Unterzeichnerstaaten der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums geschützt. China gehörte jedoch nicht dazu. Als das Land schließlich 1923 sein erstes Markenrecht einführte, löste dies einen Anstieg der Importe aus westlichen Ländern aus. Westliche Unternehmen, die bereits in chinesischen Hafenstädten ansässig waren, profitierten von diesem Wachstum auf Kosten japanischer Unternehmen.

Kolonialismus

Wenn man über Industriepolitik im 19. Jahrhundert spricht, darf man natürlich den imperialistischen Kontext nicht außer Acht lassen. Die Kolonialmächte nutzten ihre Kolonien, um industriepolitische Ziele zu erreichen. Rohstoffe für die Industrie wurden in den Kolonien oft unter brutalen und ausbeuterischen Bedingungen beschafft. Darüber hinaus wurden sie als abhängige Märkte für die Produkte des Mutterlandes aufgebaut und unterstützten so die industrielle Entwicklung der jeweiligen Kolonialmacht. Da die Kolonien in den meisten Fällen gezwungen waren, sich auf die Produktion von Rohstoffen zu spezialisieren, konnten sie nicht selbst von der fortschreitenden Industrialisierung profitieren oder diese vorantreiben. Nur in wenigen Fällen wirkte sich die imperialistische Industriepolitik auch langfristig positiv auf die Wirtschaft der Kolonien aus, etwa durch den beschriebenen Bau der Eisenbahnen oder vereinzelt durch den Aufbau kolonialer Industrien. Selbst nominell unabhängige Länder wie das Meiji-Japan oder das kaiserliche China waren in ihren industriepolitischen Instrumenten, insbesondere bei der Festlegung ihrer Zölle, erheblich eingeschränkt.

Schluss

Die Nationalstaaten betrieben im 19. Jahrhundert eine umfassende Industriepolitik, die weit über Protektionismus durch hohe Zölle hinausging. Viele der eingesetzten Instrumente waren sowohl komplex als auch modern und nahmen zeitgenössische best practices vorweg, während andere eng mit dem imperialen Kontext verbunden waren. Die neuere Forschung hat auch gezeigt, dass viele, aber nicht alle dieser Maßnahmen erfolgreich waren. Allerdings könnte hier eine Publikationsverzerrung eine Rolle spielen: Über gescheiterte industriepolitische Episoden ist weniger bekannt. Zudem wurden vor allem einzelne Politikmaßnahmen auf ihre Wirkung hin untersucht. Da viele dieser Maßnahmen möglicherweise komplementär sind, müssten diese Wechselwirkungen weiter erforscht werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Joe Studwell, How Asia Works. Success and Failure in the World’s Most Dynamic Region, New York 2013.

  2. Vgl. Nisha Chawla, The World is in the Grip of a Manufacturing Delusion, 13.7.2023, Externer Link: http://www.economist.com/finance-and-economics/2023/07/13/the-world-is-in-the-grip-of-a-manufacturing-delusion.

  3. Für eine Zusammenfassung siehe Réka Juhász/Nathan J. Lane/Dani Rodrik, The New Economics of Industrial Policy, National Bureau of Economic Research, NBER Working Paper 31538/2023.

  4. Viele der Beispiele in diesem Text basieren auf Réka Juhász/Claudia Steinwender, Industrial Policy and the Great Divergence, NBER Working Paper 31736/2023.

  5. Vgl. Juhász/Lane/Rodrik (Anm. 3).

  6. Vgl. Clive Trebilcock, Industrialisation of the Continental Powers 1780–1914, London–New York 1981.

  7. Vgl. Chalmers Johnson, MITI and the Japanese Miracle. The Growth of Industrial Policy, 1925–1975, Stanford 1982.

  8. Vgl. Alfred D. Chandler, Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism, Cambridge MA 1990.

  9. Vgl. Friedrich List, The National System of Political Economy, New York 1841.

  10. Vgl. Luigi Pascali, The Wind of Change. Maritime Technology, Trade, and Economic Development, in: American Economic Review 9/2017, S. 2821–2854.

  11. Vgl. Réka Juhász, Temporary Protection and Technology Adoption: Evidence From the Napoleonic Blockade, in: American Economic Review 11/2018, S. 3339–3376.

  12. Vgl. Cong Liu, The Effects of World War I on the Chinese Textile Industry. Was the World’s Trouble China’s Opportunity?, in: The Journal of Economic History 1/2019, S. 246–285.

  13. Vgl. Trebilcock (Anm. 6); Jeff Horn, The Path Not Taken. French Industrialization in the Age of Revolution, 1750–1830, London 2006.

  14. Vgl. Sean Bottomley, The British Patent System During the Industrial Revolution 1700–1852: From Privilege to Property, Cambridge 2014, S. 1–30.

  15. Vgl. B. Zorina Khan, An Economic History of Patent Institutions, 16.3.2008, Externer Link: https://eh.net/encyclopedia/an-economic-history-of-patent-institutions.

  16. Vgl. Eric Schiff, Industrialization Without National Patents: The Netherlands, 1869–1912; Switzerland, 1850–1907, Princeton 1971.

  17. Vgl. Gary Saxonhouse/Gavin Wright, Technological Evolution in Cotton Spinning, 1878–1933, in: Douglas A. Farnie/David J. Jeremy (Hrsg.), The Fibre That Changed the World. The Cotton Industry in International Perspective, 1600–1990s, Oxford 2004, S. 129–152; David S. Landes, The Unbound Prometheus. Technological Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present, Cambridge 2014.

  18. Vgl. Réka Juhász/Shogo Sakabe/David Weinstein, The Industrial Revolution. Learning from the West and the Evolution of Comparative Advantage, 2023, unveröffentlicht.

  19. Vgl. Alexandra Semrad, Modern Secondary Education and Economic Performance. The Introduction of the Gewerbeschule and Realschule in Nineteenth-Century Bavaria, in: The Economic History Review 4/2015, S. 1306–1338; Jeremiah Dittmar/Ralf Meisenzahl, The Research University, Invention, and Industry. Evidence from German History, Centre for Economic Policy Research, CEPR Discussion Papers 17383/2022.

  20. Vgl. Petra Moser, How Do Patent Laws Influence Innovation? Evidence from Nineteenth-Century World’s Fairs, in: American Economic Review 4/2005, S. 1214–1236.

  21. Vgl. dies./Alessandra Voena, Compulsory Licensing. Evidence from the Trading With the Enemy Act, in: American Economic Review 1/2012, S. 396–427; Joerg Baten/Bianchi Nicola/Petra Moser, Compulsory Licensing and Innovation. Historical Evidence from German Patents after WWI, in: Journal of Development Economics 126/2017, S. 231–242.

  22. Vgl. Leigh Shaw-Taylor/Xuesheng You, The Development of the Railway Network in Britain 1825–1911, in: dies. (Hrsg.), The Online Historical Atlas of Transport, Urbanization and Economic Development in England and Wales c. 1680–1911, Cambridge 2018, Externer Link: http://www.campop.geog.cam.ac.uk/research/projects/transport/onlineatlas/railways.pdf.

  23. Vgl. Richard Graham, Britain and the Onset of Modernization in Brazil 1850–1914, Cambridge 1968.

  24. Zit. nach Thor Berger, Railroads and Rural Industrialization. Evidence from a Historical Policy Experiment, in: Explorations in Economic History 74/2018, Externer Link: http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0014498318302080.

  25. Vgl. David Andersson/Thor Berger/Erik Prawitz, Making a Market. Infrastructure, Integration, and the Rise of Innovation, in: The Review of Economics and Statistics 2/2023, S. 258–274.

  26. Vgl. Claudia Steinwender, Real Effects of Information Frictions. When the States and the Kingdom Became United, in: American Economic Review 3/2018, S. 657–696.

  27. Vgl. Ting Chen/Han Qi/Jin Wang, Railways, Telegraph and Technology Adoption. The Introduction of American Cotton in Early 20th Century China, Working Paper 2022, unveröffentlicht.

  28. Vgl. Réka Juhász/Claudia Steinwender, Spinning the Web. The Impact of ICT on Trade in Intermediates and Technology Diffusion, NBER Working Paper 24590/2018.

  29. Vgl. Markus Lampe, European Trade Policy in the 19th Century, in: Oxford Research Encyclopedia of Economics and Finance, 30.7.2020.

  30. Vgl. Dario A. Romero, An Empire Lost: Spanish Industry and the Effect of Colonial Markets on Peripheral Innovation, April 2023, Externer Link: https://darioaromero.github.io/images/documents/Papers/Romero_An_empire_lost_2021d.pdf.

  31. Vgl. Trebilcock (Anm. 6).

  32. Vgl. Laura Alfaro et al., Omnia Juncta in Uno: Foreign Powers and Trademark Protection in Shanghai’s Concession Era, NBER Working Paper 29721/2022.

  33. Vgl. Melissa Dell/Benjamin Olken, The Development Effects of the Extractive Colonial Economy. The Dutch Cultivation System in Java, in: Review of Economic Studies 1/2020, S. 164–203; Dave Donaldson, Railroads of the Raj: Estimating the Impact of Transportation Infrastructure, in: American Economic Review 4–5/2018, S. 899–934.

Lizenz

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ist Assistant Professor an der Vancouver School of Economics der University of British Columbia.

ist Professorin für Innovation und Internationalen Handel an der Volkswirtschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München.