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Im Schatten der Shoah | Israel | bpb.de

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Im Schatten der Shoah Deutsch-israelische Beziehungen gestern und heute

Jenny Hestermann

/ 16 Minuten zu lesen

Als sich die Bundesrepublik nach der Shoah, anders als die DDR, aus moralischer Verantwortung Israel annäherte, spielten auch realpolitische Erwägungen eine Rolle.

Deutsch-israelische Beziehungen sind berühmt dafür, kompliziert oder heikel zu sein. Die "besonderen Beziehungen", wie sie immer wieder genannt werden, entstanden im Nachkriegsdeutschland im Schatten der Shoah.

Bis heute sind die Beziehungen der beiden Länder sowohl etabliert als auch missverstanden und auf fragilem Boden gebaut. Aus pragmatischer Sicht gab es nach dem Zweiten Weltkrieg auf beiden Seiten gute Gründe, realpolitisch zueinander zu finden. Die Begleitmusik der Rhetorik von Moral, Freundschaft und Versöhnung lag dabei allein auf deutscher Seite. Israelis hingegen neigten mit der Entstehung der Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des nationalsozialistischen Regimes zum Boykott.

Seit ihrer Gründung 1949 strebte die Bundesrepublik Deutschland die Rückkehr in die internationale Gemeinschaft an – und Israel bemühte sich um die eigene Aufnahme. Kontakte zwischen Deutschland und Israel ließen sich daher auf Dauer nicht vermeiden. Da die Wirtschaft im jungen jüdischen Staat marode beziehungsweise nicht existent war, bei gleichzeitig sehr hohen Einwandererzahlen, war Israel dringend auf Hilfe von außen angewiesen. Die Bundesrepublik schien hier ein geeigneter "Partner"; von der DDR war hingegen keine Hilfeleistung zu erwarten, da sich der ostdeutsche Teilstaat als antifaschistisch begriff und damit auch als historisch unbelastet von der Verantwortung für den Völkermord. Im Rahmen des Ost-West-Konfliktes war die DDR schließlich dem von der Sowjetunion dominierten Block zuzuordnen und stellte die Beziehungen zu den Israel feindlich gesonnenen arabischen Staaten in den Vordergrund.

Erste Verhandlungen über Entschädigungszahlungen an Israel wurden von den amerikanisch-jüdischen Organisationen wie der Jewish Claims Conference und dem World Jewish Congress geführt. Nachdem es in Israel in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren zu mehreren Boykottaufrufen gegen Deutschland gekommen war, erfolgte eine Vereinbarung im sogenannten Luxemburger Abkommen von 1952. Hierin sagte die Bundesrepublik unter Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU), nach langen kontroversen Diskussionen im Bundestag, rund 3,5 Milliarden D-Mark Entschädigungszahlungen zu. In Israel formierten sich allerdings heftige Proteste dagegen, Geld vom Rechtsnachfolger der nationalsozialistischen Diktatur anzunehmen und damit den deutschen Anspruch auf "Wiedergutmachung" zu akzeptieren – der spätere Ministerpräsident Menachem Begin sprach gar von "Blutgeld". Es wurde in breiten Teil der Bevölkerung als eine Absolution von Deutschland und den Deutschen gelesen, als Akzeptanz des deutschen Versöhnungsanspruchs, der für Israelis so wenige Jahre nach der Shoah unerträglich schien. Ministerpräsident David Ben-Gurion und die internationalen jüdischen Organisationen argumentierten hingegen, dass die Annahme der Shilumim – so das hebräische Wort für schlichte Zahlungen, ohne einen Reparationsgedanken – vielmehr die Wiedererstattung der geraubten individuellen jüdischen Vermögenswerte an das nunmehr formierte jüdische Kollektiv, also Israel, bedeuteten.

Nach langen Debatten in beiden Ländern wurde das Luxemburger Abkommen am 10. September 1952 verabschiedet. Es regelte Güterlieferungen und Zahlungen von Westdeutschland an Israel im Wert von über drei Milliarden D-Mark über einen Zeitraum von 14 Jahren. Mit diesem Schritt gewann die Bundesrepublik moralisches Kapital für die Wiederaufnahme in die internationale (westliche) Gemeinschaft – Adenauers erklärtermaßen wichtigstes Ziel während seiner Kanzlerschaft. Zudem entstand, als positiver Nebeneffekt für Deutschland, in Israel ein Absatzmarkt für deutsche Produkte und Ersatzteile, der sich auch langfristig für Deutschland als lukrativ erwies.

So sehr der Bundesregierung unter Adenauer an diesem "Wiedergutmachungsabkommen" lag, so wenig war der Bundeskanzler im Laufe der 1950er Jahre bereit, tatsächlich diplomatische Beziehungen zu Israel aufzunehmen. Als sich die Stimmung in Israel etwas zu Gunsten Deutschlands änderte, nachdem im Suezkrieg 1956 entgegen aller Befürchtungen die Zahlungen an Israel nicht eingestellt worden waren, ersuchte Ben-Gurion immer wieder um eine offizielle Formalisierung der Beziehungen bei seinem deutschen Gegenpart. Im sich zunehmend verschärfenden Kalten Krieg hatte die Bundesrepublik jedoch die Sorge, dass die arabische Welt die DDR als Staat anerkennen würde, sollte sie selbst diesen Schritt mit Israel gehen. Dies zu verhindern, war das Anliegen der sogenannten Hallstein-Doktrin von 1955. Sie formulierte den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik – eine internationale Anerkennung der DDR sollte verhindert werden, um die deutsche Wiedervereinigung in der Zukunft nicht zu gefährden.

Anstatt auf die offiziellen Gesuche Ben-Gurions einzugehen, wurden unter strenger Geheimhaltung durch Verteidigungsminister Franz Josef Strauß und dem Generaldirektor des israelischen Verteidigungsministeriums Shimon Peres Waffenlieferungen vereinbart. Erst sieben Jahre später, 1964, deckte die deutsche Presse diesen Vorgang auf. Der befürchteten Entrüstung aus der arabischen Welt begegnete Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) einerseits mit einer umgehenden Einstellung der Waffenlieferungen und andererseits mit einem Angebot an Israel zum Botschafteraustausch. Der ehemalige deutsche Botschafter Niels Hansen bezeichnete dies als "die Zerschlagung des Gordischen Knotens". Eine skandalöse Personalie im August 1965, knapp drei Monate nach Aufnahme der offiziellen diplomatischen Beziehungen, zeigte jedoch, was die deutsch-israelischen Beziehungen noch über Jahrzehnte hinaus prägen sollte: Der deutsche Botschafter Rolf Pauls war ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier, der durch das Fehlen seines linken Arms sichtlich kriegsversehrt war und damit in auffälliger Weise die Erinnerung an die "Vergangenheit die nicht vergehen wollte", verkörperte.

Während die Bundesrepublik in den 1960er Jahren ihr "Wirtschaftswunder" erfuhr, war Israel immer noch ein in der Region isoliertes und relativ armes Land. Die massiven Einwanderungswellen in den 1950er Jahren durch Juden und Jüdinnen aus dem Nahen Osten und Nordafrika sorgten zum einen für zahlreiche soziale Spannungen und zum anderen für eine weitere Schwächung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf. Der einzige Exportschlager zu jener Zeit waren Zitronen und Orangen aus Jaffa, die auch in Europa ein begehrtes Handelsgut waren. Israel suchte nach günstigen Zollbedingungen und Absatzmärkten, und somit waren die offiziellen Beziehungen zu Deutschland auch ein wichtiges Tor zur 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Über Deutschland sollte der Weg in die EWG gefunden werden – was mit Anträgen von israelischer Seite auch intensiv versucht wurde und 1975 im ersten Freihandelsabkommen der EWG mit einem nicht-europäischen Staat mündete.

Doch herrschte in diesem Jahrzehnt noch immer ein starkes Spannungsverhältnis zwischen der sehr pragmatischen israelischen Regierungspolitik – die nach Ben-Gurions Rücktritt als Premierminister 1963 auch weiterhin in den Händen der Arbeiterpartei lag – und den Gefühlen und Ansichten der Mehrheit der israelischen Bevölkerung, die nach wie vor alles Deutsche ablehnte. Das zeigte sich auch darin, dass die zivilgesellschaftlichen Kontakte maßgeblich von deutscher Seite aus vorangetrieben wurden. Bereits ab den späten 1950er Jahren, und verstärkt nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen, wuchsen die Netzwerke auf zivilgesellschaftlicher Ebene – im gewerkschaftlichen, kirchlichen und sportlichen Bereich.

Die Wissenschaftsbeziehungen standen dabei zwischen dem staatlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich: Ab 1959 bereits förderte die Bundesregierung das heute sehr renommierte Weizmann-Institut mit drei Millionen D-Mark, während die Zusammenarbeit im Bereich der Kernphysik stark von gegenseitigen nuklearen Interessen und geopolitischer Unterstützung geprägt war.

Acht Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen, im Juni 1973, reiste Willy Brandt (SPD) als erster deutscher Bundeskanzler zum offiziellen Staatsbesuch nach Israel. Zum ersten Mal in der israelischen Geschichte wurden zum Empfang am Flughafen die deutsche Flagge gehisst und die deutsche Nationalhymne gespielt. Obwohl sich Brandt, knapp drei Jahre nach seinem international beachteten Kniefall in Warschau, historisch sensibel zeigte und auch als Geste der Trauer und Anerkennung der Schuld einen Kranz in Yad Vashem niederlegte, prägte er gleichzeitig die "Normalisierung" der deutsch-israelischen Beziehungen. Seine Formel der "normalen Beziehungen mit besonderem Charakter" drückte aus, dass sich das Deutsche Auswärtige Amt in der geopolitischen Situation der frühen 1970er Jahre wieder mehr an den arabischen Staaten orientieren wollte, unter anderem um die wirtschaftlichen Folgen der Ölpreiskrise von 1973 zu minimieren. Für viele Israelis klang diese Formel hingegen nach einer Abkehr der von historischer Schuld geprägten deutsch-israelischen Beziehungen hin zu einem deutschen Selbstbewusstsein auf europäischer und internationaler Bühne, das mit Sorge und Unbehagen betrachtet wurde.

Als der Holocaustüberlebende Menachem Begin bei den israelischen Parlamentswahlen 1977 mit seiner Likud-Partei und den Stimmen der Misrachim, also den Israelis mit Wurzeln in Asien oder Afrika, die knapp 30 Jahre währende links-aschkenasische Regierung ablöste, kühlten sich die deutsch-israelischen Beziehungen für eine Weile deutlich ab. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) sprach sich mehrfach sehr kritisch gegenüber der Besatzung aus, die Israel seit 1967 über eroberte Gebiete hielt, und stimmte gleichzeitig Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien als mit Israel verfeindetem Land zu. Begin griff ihn daher mehrfach verbal scharf an, nicht zuletzt wegen dessen Forderung, die Gründung eines palästinensischen Staates zu erlauben.

Die schlussendliche Abkehr von der historischen Schuld als Band zwischen den beiden Ländern schien dann Bundeskanzler Helmut Kohls (CDU) Besuch im Januar 1984 zu bedeuten, als er auf sich selbst bezogen von der "Gnade der späten Geburt" sprach und damit in den Augen zeitgenössischer Beobachter die seit 1949 akzeptierte "Kollektivverantwortung" aufgab.

Die DDR und Israel

In den Jahren zwischen 1948 und 1956 pflegten osteuropäische Länder fruchtbare kulturelle und politische Beziehungen zu Israel. Die kurze Periode der "positiven Neutralität" auch der DDR gegenüber Israel schlug 1956 in offene Feindseligkeit und größtmögliche Distanz um, die bis in die Mitte der 1980er Jahre anhielt. In den 1950er Jahren versuchte Israel noch, mit der DDR direkte Verhandlungen aufzunehmen und forderte unter anderem 412 Millionen US-Dollar Entschädigung für die von den Nationalsozialisten verübten Verbrechen. Dieses Gesuch wurde am 9. Juli 1956 von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) abschließend abgelehnt – woraufhin eine lange Eiszeit zwischen der DDR und Israel begann. Der DDR-Außenminister Lothar Bolz erklärte am 22. Dezember 1956, man erwarte Reparationen von Israel für die Suezkrise, da schließlich die Bundesrepublik mit ihren Entschädigungen Israel überhaupt erst mit Waffen ausgestattet hatte. Diese Gleichsetzung des Holocaust mit der Suezkrise über die Frage, wer wofür Entschädigungen verdient, schien symptomatisch für den Fortgang des feindseligen Verhältnisses der DDR zu Israel in den folgenden Jahrzehnten.

Denn ganz im Gegensatz zu der Entwicklung in Westdeutschland hatte die DDR kaum bis gar keine Kontakte zu Israel, zumindest keine offiziellen. Die Gründe dafür waren zweierlei: Zum einen sah sich die DDR als "antifaschistischer" Staat, der keine Rechtsnachfolge und damit auch keine Kollektivverantwortung für den Holocaust und die zwölf Jahre NS-Diktatur übernahm. Zum anderen war die DDR im Kalten Krieg klar in den sowjetischen Block integriert und gehörte damit zu jenem Staatenbund, der Israel als Feindstaat ansah. In den frühen 1950er Jahren hatte Israel, das damals noch stark auf seiner Identität als sozialistischer Kibbuz-Staat aufbaute, Beziehungen zu beiden deutschen Staaten sondiert. Schnell wurde allerdings klar, dass die DDR im Gegensatz zur Bundesregierung zu keinen Reparationsverhandlungen bereit war. Seit dem Suezkrieg von 1956, der die militärischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges auch auf den Nahen Osten ausweitete, wandte sich die politische Führung der DDR endgültig von Israel ab. In den folgenden Jahrzehnten bestanden die Bezüge vor allem in Polemiken gegen den jüdischen Staat, der als "unterdrückerischer Zionismus" mit Imperialismus und Kapitalismus gleichgesetzt wurde. Der gemeinsame Kampf gegen "Imperialismus, Kolonialismus, Neokolonialismus und Zionismus" schuf für die DDR Bündnispartner sowohl in der arabischen Welt als auch im Globalen Süden. Ein dezidiert antizionistisches Weltbild prägte fortan die DDR, die sich stattdessen um Kontakte zu den blockfreien arabischen Staaten bemühte. Die offene Ablehnung Israels kam den Beziehungen zur Arabischen Liga zugute. Schließlich diente die antiisraelische Polemik der DDR-Führung auch innenpolitischen Zwecken: Sie war Teil der Kampagnen gegen ideologische Dissidenten und Juden und Jüdinnen im eigenen Staat. Die jüdische Gemeinde in der DDR durfte sich, wie alle anderen Bürger und Bürgerinnen auch, nicht an internationale jüdische Organisationen wie das American Jewish Committee oder den World Jewish Congress wenden, die als "zionistische Organisationen" der Spionage für "amerikanischen Imperialismus" verdächtigt wurden. Zudem kooperierte die DDR nicht nur mit den offen mit Israel verfeindeten arabischen Staaten, sondern auch mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die ab 1964 einen bewaffneten Kampf gegen Israel führte – weswegen Israel sich 1973 wiederum gegen eine Aufnahme der DDR in die Vereinten Nationen aussprach.

Während all dieser Jahrzehnte bemühte sich die jüdische Gemeinde in der DDR zumindest um kulturelle Kontakte und arbeitete weiter auf eine Lösung auch der Entschädigungszahlungen hin. Erst als sich in der Gorbatschow-Ära ab Mitte der 1980er Jahre eine Öffnung des Ostblocks andeutete und Israel als militärischer und politischer Akteur im Nahen Osten unvermeidbar schien, wurden politische Kontakte zu Israel für die DDR-Führung attraktiv. Nach dem Mauerfall 1989 und der deutschen Vereinigung 1990 wurde schließlich die demonstrative Feindschaft aufgegeben, und die Volkskammer erklärte am 12. April 1990: "Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzeihung. Wir bitten das Volk in Israel um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande." Mit dem Siegeszug des kapitalistischen Westens war auch die Epoche der Nicht-Beziehungen zwischen der DDR und Israel beendet. Der Versuch seitens der DDR, in den letzten Jahren ihres Bestehens und noch im Jahr 1990 eine diplomatische Annäherung herbeizuführen, war ein strategischer Zug einer gewünschten Eingliederung in die westliche Gemeinschaft, nachdem sich die Zeichen der Zeit geändert hatten und die Sowjetunion bereits kurz vor ihrem Zerfall stand.

Nach der Wiedervereinigung

Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten war ein zentrales Ziel der bundesdeutschen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht. Indem das über 40 Jahre lang getrennte Land auch durch die Anerkennung der historischen Schuld wieder zusammenwuchs, untermauerte es in den Augen seiner Nachbarn die eigene wirtschaftliche Vormachtstellung in Europa. Nicht nur in den Nachbarländern, sondern auch in Israel, vor allem in den israelischen Medien und von Überlebendenverbänden, wurden der Mauerfall und die Vereinigung vornehmlich skeptisch beobachtet. Tatsächlich schien der neugeborene beziehungsweise wiedererstarkte Nationalismus – mit teilweise tödlichen Konsequenzen wie in Rostock-Lichtenhagen – die Sorgen zunächst zu bestätigen.

Ein weiteres kritisches Ereignis für das deutsch-israelische Verhältnis war der Zweite Golfkrieg 1992: Ab dem 18. Januar 1991 flogen irakische Kurzstreckenraketen auf Tel Aviv. Sechs Wochen lang zitterte die Bevölkerung vor einem befürchteten Giftgasangriff. Da Deutschland zuvor Chemikalien an den Irak geliefert hatte, die zur Produktion chemischer Waffen genutzt werden konnten, wurden in Israel Holocaust-Assoziationen geweckt. Um zu bekräftigen, dass Deutschland auch als vereinigter Staat für das Existenzrecht Israels eintrete, verpflichtete sich die Bundesregierung zu einer Schenkung von drei U-Booten. Dieses Versprechen wurde mit der Auslieferung der ersten beiden Boote 1999 und 2000 eingelöst.

In Fortführung der Grassroots-Aktivitäten aus den 1980er Jahren, in denen jüdische Gemeinden und Überlebende, unterstützt durch eine neue kritische Post-68er-Generation, Gedenken und Aufarbeitung gefordert hatten, etablierte sich in Deutschland in den 1990er Jahren auch auf staatlicher Ebene eine neue Erinnerungskultur. Erstmals wurde ernsthaft über die Schaffung eines zentralen Holocaust-Denkmals diskutiert, die Wehrmachtsausstellung 1995 zog große Aufmerksamkeit auf und kontroverse Diskussionen nach sich, an der Schnittstelle von Wissenschaft und politischer Bildung erhielten jüdische Studien und Holocaustforschung einen neuen Stellenwert. Diskussionen um die antizionistische Haltung der Neuen Linken und die antisemitischen Tradierungen in der Nachkriegsgesellschaft bis in die 1990er Jahre brachen auf und wurden erstmals öffentlich geführt.

In diesem Klima der gesellschaftlichen Weiteraufarbeitung der Vergangenheit wurde politisch ebenfalls auf den Ausbau der deutsch-israelischen "Freundschaft" gesetzt. Diese bezeichnete sowohl die sicherheitspolitische und militärische Unterstützung Israels als auch den weiteren konsequenten Ausbau der zivilgesellschaftlichen Beziehungen. Nicht nur die jeweiligen Staatspräsidenten reisten nun regelmäßiger in das andere Land, es wurden auch Städtepartnerschaften etabliert, und vielzählige Institutionen richteten Programme zu Bildungs- und Jugendreisen aus oder bauten diese weiter aus.

In den Folgejahren verfestigten sich die deutsch-israelischen Beziehungen weiter, etwa im wissenschaftlichen und militärischen Bereich, und überstanden auch Zäsuren wie den Mord am Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin am 4. November 1995 oder das langsame Scheitern des mit den Palästinensern mühsam ausgehandelten Osloer Friedensprozesses.

Debatten im 21. Jahrhundert

Der deutlichste Ausdruck für die gewachsenen deutsch-israelischen Beziehungen war die vielbeachtete Rede der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor der Knesset 2008, in der sie betonte, dass Israels Sicherheit "niemals verhandelbar", sondern "Teil der Staatsräson" der Bundesrepublik sei. Obwohl jener Begriff seit nun 15 Jahren juristisch und politisch leidenschaftlich debattiert wird, da große Unklarheit über die eigentlichen Konsequenzen dieser Aussage herrscht, gilt er seitdem zumindest atmosphärisch als ein Meilenstein. In Israel erzeugte die Rede ein sehr positives Echo. Seither finden regelmäßige Regierungskonsultationen der beiden Staaten statt, und es werden weiterhin enge wirtschaftliche, wissenschaftliche und militärische Beziehungen gepflegt. Auch an die Europäische Union ist Israel seit dem gemeinsamen Assoziierungsabkommen von 2000 näher herangerückt.

Mit dem verstärkten Zuzug junger Israelis nach Berlin seit den frühen 2000er Jahren – insbesondere nach breiten Sozialprotesten in Israel 2011/12 – scheint sich ein "normalisierter" Austausch zwischen beiden Gesellschaften zu verstetigen. Die wachsende Gemeinde von Israelis in Berlin ist ein Phänomen, das zwar teilweise für Kritik in Israel sorgte, aber in Deutschland als Teil einer weitergehenden und gewünschten "Normalisierung" gelesen wird.

Während in den vergangenen Jahren antisemitische Einstellungen in Deutschland und Europa wieder auf dem Vormarsch sind, nimmt auch die "Israelkritik" zu. Angesichts der jüngsten besorgniserregenden Entwicklung in Israel – mit einer rechtsgerichteten Regierung, die sich anschickt, das Justizsystem grundlegend zu ihren Gunsten zu verändern – wachsen in Deutschland auch die Stimmen derjenigen, die sich dadurch in ihrer grundsätzlich ablehnenden Haltung Israel gegenüber bestätigt fühlen. Seit jeher hat jedoch eine gesellschaftliche und politische Vielfalt der israelischen Gesellschaft existiert, die in all ihren Schattierungen in den verkürzten deutschen Debatten über Israel und das deutsch-israelische Verhältnis kaum wahrgenommen wird. Im Großen und Ganzen wird der Graben zwischen der um Dialog und Unterstützung Israels werbenden Bundesregierung einerseits und einem weitgehenden Unverständnis beziehungsweise offener Ablehnung des jüdischen Staates in der deutschen Bevölkerung andererseits größer.

Im fortschreitenden 21. Jahrhundert zeigt sich so im deutsch-israelischen Verhältnis eine zunehmende Diskrepanz: Während in der bundesdeutschen Bevölkerung in den 1960/70er Jahren eine große Begeisterung für den jüdischen Staat herrschte, stehen die Deutschen nach aktuellen Umfragen Israel eher kritisch gegenüber. Kontakte zu Juden, Jüdinnen oder Israelis gibt es außerhalb der Knotenpunkte Berlin, Frankfurt am Main und wenigen anderen Städten kaum. Antisemitische Grundhaltungen sind indes immer noch tief verankert. Gleichzeitig wurden seit Angela Merkels Rede von 2008 die Regierungsbeziehungen und viele Politik- und Wirtschaftsbereiche immer enger verknüpft.

Insbesondere die jüngeren Generationen kennen und begegnen sich aber immer weniger. Während in den vergangenen zehn Jahren die Jugend in Deutschland eher nach links gerückt ist und sich für internationale Debatten im Rahmen der postkolonialen Bewegungen interessiert, ist in Israel, gerade auch unter Jugendlichen, eine Hinwendung nach rechts zu beobachten. Dieser Rechtsruck manifestierte sich in dramatischer Weise in den Wahlen von November 2022 und der Bildung einer neuen Regierung im Dezember, die so weit rechts steht und so religiös und antiliberal beeinflusst ist wie keine andere vor ihr. Während das deutsch-israelische Verhältnis auf vielen Ebenen historisch gewachsen ist, zeigt sich hier eine neue Herausforderung für die bilateralen Beziehungen. Bisher standen diese unter der Prämisse Israels als liberal-demokratischer Staat mit einer lebendigen Zivilgesellschaft, dem rechtlich verankerten Schutz von Minderheiten und den zumindest in Teilen früherer Regierungen immer noch angestrebten Versuchen einer Zweistaatenlösung. Unter den Vorzeichen einer Aufkündigung dieser Prämisse im Jahr 2023 könnte sich auch die Positionierung Deutschlands als starker Partner Israels in Europa neu justieren. Die deutsch-israelischen Beziehungen balancierten bereits im 20. Jahrhundert auf einem schmalen Grat, bevor sie sich etablierten und schließlich normalisierten. Dieser Umstand wird sich so nicht wiederholen, doch handelt es sich um eine neue, unter Umständen gefährliche Situation.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Dan Diner, Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage, München 2015.

  2. Vgl. Yeshayahu A. Jelinek, Deutschland und Israel 1945–1965. Ein neurotisches Verhältnis, München 2004, S. 39ff.

  3. Vgl. Niels Hansen, Aus dem Schatten der Katastrophe. Die deutsch-israelischen Beziehungen in der Ära Konrad Adenauer und David Ben Gurion. Ein dokumentierter Bericht, Düsseldorf 2002, S. 453ff.

  4. Vgl. Markus A. Weingardt, Deutsche Israel- und Nahostpolitik. Die Geschichte einer Gratwanderung seit 1949, Frankfurt/M.–New York 2002, S. 106ff.

  5. Vgl. Jenny Hestermann, Inszenierte Versöhnung. Reisediplomatie und die deutsch-israelischen Beziehungen 1957–1984, Frankfurt/M. 2016, S. 89ff.

  6. Hansen (Anm. 3), S. 691ff.

  7. Hestermann (Anm. 5), S. 109ff.; Referenz an die "Vergangenheit, die nicht vergehen will": Ernst Nolte im Historikerstreit 1986 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 6.6.1986.

  8. Vgl. Michael Wolffsohn/Tobias Grill, Israel. Geschichte, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Opladen 20168, S. 186ff. und S. 273ff.

  9. Vgl. Sabine Hofmann, Wirtschaft Israels, 28.3.2008, Externer Link: http://www.bpb.de/themen/naher-mittlerer-osten/israel/45097/wirtschaft-israels/?p=all.

  10. Vgl. Philipp Holtmann, Wie die Gewerkschaften der Nachkriegszeit die deutsch-israelischen Beziehungen aufbauten, 16.4.2015, Externer Link: http://www.boell.de/de/2015/04/16/wie-die-gewerkschaften-der-nachkriegszeit-die-deutsch-israelischen-beziehungen-aufbauten.

  11. Vgl. Eva Maria Verst-Lizius, Reisen nach Jerusalem. Westdeutsche Christen im "Heiligen Land" und Israel (1950er bis 1970er Jahre), Göttingen 2022.

  12. Vgl. Robin Streppelhoff, Gelungener Brückenschlag. Sport in den deutsch-israelischen Beziehungen, Sankt Augustin 2012.

  13. Vgl. Dietmar Nickel, Es begann in Rehovot. Die Anfänge der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland, Zürich 1989.

  14. Zum israelischen Atomreaktor Dimona vgl. Ari Shavit, My Promised Land. The Triumph and Tragedy of Israel, New York 2015.

  15. Vgl. Carole Fink, "The Most Difficult Journey of All". Willy Brandt’s Trip to Israel in June 1973, in: The International History Review 3/2015, S. 503–518.

  16. Vgl. Lily Gardner Feldman, The Special Relationship between West Germany and Israel, Boston 1984.

  17. Als Aschkenasim werden Juden und Jüdinnen sowie deren Nachfahren bezeichnet, deren Wurzeln in Mittel-, Nord- und Osteuropa liegen.

  18. Vgl. Menachem Begins Reaktion auf Helmut Schmidts Forderung zur Gründung eines palästinensischen Staates 1981, Externer Link: http://www.youtube.com/watch?v=pzOOHOibweE&ab_channel=ZOA.

  19. Vgl. Michael Wolffsohn, Ewige Schuld? 40 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen, München 1988, S. 44.

  20. Vgl. Angelika Timm, The Burdened Relationship between the GDR and the State of Israel, in: Israel Studies 1/1997, S. 22–49.

  21. Vgl. Jeffrey Herf, Undeclared Wars with Israel. East Germany and the West German Far Left, 1967–1989, Cambridge 2016, S. 38ff.

  22. Vgl. ebd., S. 24.

  23. Vgl. ebd., S. 30.

  24. Vgl. Avi Primor, "… mit Ausnahme Deutschlands". Als Botschafter Israels in Bonn, Berlin 1997, S. 153.

  25. Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik, Drucksache 4 vom 12.4.1990, S. 2.

  26. Vgl. Jenny Hestermann, Ein "Tag der tiefen Trauer". Israelische Reaktionen auf die Wiedervereinigung, in: Deutschland Archiv, 8.8.2014, Externer Link: http://www.bpb.de/189684.

  27. Vgl. Yves Pallade, Germany and Israel in the 1990s and Beyond: Still a "Special Relationship"?, Frankfurt/M. 2005.

  28. Vgl. Hans-Georg Stavginsky, Das Holocaust-Denkmal. Der Streit um das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" in Berlin (1988–1999), Paderborn 2002.

  29. Vgl. Hannes Heer, 20 Jahre Wehrmachtsausstellung: Thesen, Debatten, Folgen. Ein persönlicher Blick, in: Jens Westermeier (Hrsg.), "So war der deutsche Landser …". Das populäre Bild der Wehrmacht, Paderborn 2019.

  30. Dies wird zum Beispiel 1995 durch die Gründung des Fritz Bauer Instituts für die Geschichte und Wirkung des Holocaust in Frankfurt/M. und des Simon Dubnow Instituts für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig kenntlich.

  31. Vgl. Martin Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses, Frankfurt/M. 1994; Gerhard Hanloser (Hrsg.), "Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken". Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik, Münster 2004.

  32. Zentral war der Besuch von Staatspräsident Ezer Weizman in Deutschland im Januar 1996. Vgl. Deutscher Bundestag, Vor 25 Jahren: Israels Präsident Ezer Weizman spricht im Bundestag, 2021, Externer Link: http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw02-kalenderblatt-weizman-401320.

  33. Vgl. bspw. ConAct. Koordinierungszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch, 20 Jahre ConAct – 20 Jahre Kooperation mit der Israel Youth Exchange Authority, Externer Link: http://www.conact-org.de/20-jahre-conact.

  34. Vgl. bspw. das 1997 gegründete Exzellenz-Programm "Deutsch-israelische Projektkoordination" (DIP) des BMBF: Externer Link: http://www.cogeril.de/de/283.php.

  35. Vgl. Otfried Nassauer/Christopher Steinmetz, Rüstungskooperation zwischen Deutschland und Israel, Berlin 2003.

  36. Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Knesset am 18. März 2008 in Jerusalem, Externer Link: http://www.bundesregierung.de/-796170.

  37. Vgl. Fania Oz-Salzberger, Israelis in Berlin, Berlin 2016.

  38. Vgl. Johannes Becke, German Guilt, White Guilt: The Politics of Reforestation and the Return of the Gardening State. Response to Hannah Tzuberi, "Reforesting Jews: The German State and the Construction of ‚New German Judaism‘", in: Jewish Studies Quarterly 3/2020, S. 225–239.

  39. Vgl. European Union Agency for Fundamental Rights, Antisemitism. Overview if Antisemitic Incidents Recorded in the European Union 2011–2021, Luxemburg 2022, Externer Link: https://fra.europa.eu/en/publication/2022/antisemitism-overview-2011-2021.

  40. Zur Diversität der israelischen Gesellschaft siehe auch den Beitrag von Natan Sznaider in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  41. Vgl. Jenny Hestermann/Roby Nathanson/Stephan Stetter, Deutschland und Israel heute. Zwischen Verbundenheit und Entfremdung, Gütersloh 2022.

  42. Vgl. ebd.

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ist promovierte Historikerin und Leiterin des Israel-Büros der Heinrich Böll Stiftung in Tel Aviv. E-Mail Link: jenny.hestermann@il.boell.org