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Informationen zur politischen Bildung Nr. 354/2023

Soziale Herkunft und Bildung

Corinna Kleinert Kathrin Leuze Reinhard Pollak

/ 14 Minuten zu lesen

Bildung ist ein Schlüsselfaktor für sozialen Aufstieg. Doch die soziale Herkunft prägt den Zugang von Kindern zu Bildung entscheidend mit – und damit auch ihren zukünftigen sozio-ökonomischen Status.

Bildungsland „D“ (© Thomas Plaßmann/Baaske Cartoons Müllheim)

Bildung ist neben der Grundlage für Beruf und Einkommen noch viel mehr: Bildung ist das wichtigste Mittel, um Armut, Arbeitslosigkeit und Benachteiligung zu entfliehen, gesund zu bleiben und ein langes und gutes Leben zu führen, sich zu informieren und sich aktiv am sozialen, kulturellen und politischen Leben zu beteiligen. Aus Artikel 7 des Grund­ge­­setzes lässt sich ableiten, dass der Staat den Auftrag hat, jedem Kind die Erziehung und Bildung zu verschaffen, die es zur gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben benötigt. Daher liegen Schulen hierzulande in staatlicher Verantwortung. Kindergärten, Schulen, Ausbil­dun­gen und Hochschulen in Deutschland stehen allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kostenlos oder zumindest stark subventioniert zur Verfügung, und der Besuch von allgemeinen und beruflichen Schulen ist bis zum 18. Lebensjahr verpflichtend.

Bildung ist somit das vielleicht wichtigste Versprechen in unserer Gesellschaft, allen Heranwachsenden die gleichen Chancen zu gewähren, um im Leben erfolgreich zu sein und damit bestehende soziale Ungleichheiten zu verringern – wenn sie sich anstrengen und lernen. Das wird auch von Politiker:innen aller Parteien immer wieder betont. So sagte beispielsweise Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 auf der Festveranstaltung „60 Jahre Soziale Marktwirtschaft“: „Wir müssen die Bildungsrepublik Deutschland werden (…). Wohlstand für alle heißt heute und morgen: Bildung für alle.“

Quelle: ALLBUS (Die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften) 2021, 30- bis 75-jährige Bevölkerung, gewichtete Daten, eigene Berechnung

Tatsächlich aber hängt die Bildung, die Menschen erreichen, nicht nur von ihrer eigenen Anstrengung und Leistung ab, sondern auch von ihrer sozialen Herkunft – also der Bildung, dem sozialen Status und dem Einkommen ihrer Eltern. Gemeint sind hier immer Eltern bzw. Familien in einem weiten Sinne. Das können auch alleinerziehende Mütter und Väter, die Partner:innen der Mütter oder Väter oder andere Personen, die die Mutter- oder Vaterrolle für Kinder einnehmen, sowie Pflege- oder Adoptiveltern sein. Von Personen aus Familien mit einem niedrigen Bildungsniveau haben heute in Deutschland fast die Hälfte eine Berufsausbildung erreicht, 17 Prozent sind selbst ohne Ausbildung geblieben und ebenfalls 17 Prozent haben erfolgreich ein Studium absolviert. Von Personen aus Akademikerfamilien hat hingegen über die Hälfte studiert und fast niemand aus dieser Gruppe ist „ungelernt“ in den Arbeitsmarkt gegangen.

Wie hängen nun Bildung und soziale Ungleichheit zusammen? Zwei Punkte sind wichtig, um diesen Zusammenhang zu verstehen: Erstens bestimmt, wie eben gezeigt, die soziale Herkunft stark darüber, welche Bildung Kinder erwerben. Zweitens entscheidet die Bildung von Kindern und Jugend­li­chen über ihre zukünftigen Berufe und damit über ihre Chancen im Erwerbsleben (siehe Kapitel "Interner Link: Erwerbsarbeit, Berufe und soziale Ungleichheit"), ihren sozio-ökonomischen Status, ihr gesellschaftliches Ansehen und ihre Klassenposition in der Gesellschaft. In der sozialen Ungleichheitsforschung sind diese Zusammenhänge in den beiden blauen Pfeilen im sogenannten OED-Dreieck bildlich dargestellt.

Nach einer Vorlage von John H. Goldthorpe, On Sociology, Stanford, CA 2007

Häufig sind also Kinder aus benachteiligten Elternhäusern selbst gering gebildet und später ebenfalls benachteiligt, und umgekehrt besuchen Kinder aus Akademikerfamilien häufig ebenfalls Hochschulen und nehmen später hohe berufliche Positionen ein. Damit kommt der Bildung (E) eine vermittelnde Funktion dabei zu, dass sich soziale Ungleichheit in der Elterngeneration (O) in der nächsten Generation reproduziert (D). Bildung gilt aus diesem Grund in modernen Gesellschaften als zentrale „Ungleichheitsmaschine“ oder „Sortiermaschine“.

Die Bildungsexpansion, also der Trend zu immer höheren Abschlüssen, der in Deutschland in historischen Schüben erfolgt ist und bis heute anhält, hat an diesen Zusammenhängen nur wenig verändert. Das wird auch „Fahrstuhleffekt“ genannt: Jüngere Generationen sind zwar im Schnitt höher gebildet als ältere, aber die Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft, Bildung und sozialer Position im Erwachsenenalter sind nicht verschwunden, weil die Bildung in allen Herkunftsgruppen ähnlich stark gestiegen ist.

QuellentextWas ist Bildung und wie lässt sie sich messen?

Unterscheiden lässt sich zwischen Bildung im substan­ziellen Verständnis und Bildung im formalen Verständnis. Mit Bildung im substanziellen Verständnis sind Bildungsinhalte gemeint, also Wissen, Kompetenzen, Kenntnisse und Fertigkeiten. Bildung im formalen Verständnis meint zertifizierte Bildungsergebnisse, also Schul-, Ausbildungs- und Hochschulabschlüsse sowie Noten.

Zertifikate lassen sich sehr leicht messen, indem Menschen nach ihren Abschlüssen und Noten gefragt werden. Nicht immer wird Bildung aber zertifiziert, zum Beispiel beim Besuch von Weiterbildungskursen oder wenn Menschen für sich alleine im Internet lernen.

Bildung im substanziellen Sinne lässt sich kaum vollständig messen. Aber in den letzten Jahrzehnten wurden umfangreiche Tests entwickelt, um die Kompetenzen von Menschen in bestimmten Bereichen messen und weltweit vergleichen zu können. Am bekanntesten sind die PISA-Tests zu den Deutsch-, Mathematik- und naturwissenschaftlichen Kompetenzen für 15-Jährige. Ähnliche Tests gibt es auch für jüngere Kinder (PIRLS), für Erwachsene (PIAAC) und für Kompetenzen, die nicht vorrangig in der Schule erlernt werden wie beispielsweise für digitale Kompetenzen. Dennoch sollten getestete Kompetenzen nicht mit Bildung gleichgesetzt werden, denn Bildung umfasst deutlich mehr Bereiche wie Politik, Geschichte, Kultur oder Musik und Fähigkeiten wie Persönlichkeitsentwicklung oder soziale Fähigkeiten.

Corinna Kleinert, Kathrin Leuze, Reinhard Pollak

Faktoren zur Erklärung sozialer Ungleichheit

Insgesamt gibt es drei Faktoren, die erklären, warum es so ausgeprägte soziale Ungleichheiten in den Bildungsergebnissen gibt: erstens ungleiche Start- und Lernbedingungen zu Hause, zweitens ungleiche Bildungsentscheidungen von Familien und drittens ungleiche Bewertungen durch Lehrkräfte und andere „Entscheider:innen“. Die Ungleichheitsforschung nennt diese Faktoren die primären, sekundären und tertiären Effekte der Bildungsungleichheit.

Ungleiche Start- und Lernbedingungen in der Familie

Auch wenn Bildung landläufig oft mit Schule gleichgesetzt wird, wird sie nicht erst dort erworben. Die Grundlagen für eine erfolgreiche Schullaufbahn erlernen Kinder schon sehr früh im Leben, wenn sie sprechen lernen und wenn sie soziale Kompetenzen sowie sozial angepasstes Verhalten entwickeln. In den ersten Lebensjahren sind die Eltern die wichtigsten Personen. Von ihnen erlernen Kinder diese Fähigkeiten und Fertigkeiten. Kinder wachsen in Familien mit ganz unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen auf. In der Mehrzahl haben Paare in Deutschland einen ähnlichen Bildungsstand, sodass häufig doppelte Vor- oder Nachteile für Kinder in diesen Familien entstehen (siehe Grafik "Paare nach Bildungsstand, 2019" im Interner Link: Abschnitt "Gleich und gleich gesellt sich gern ...?" im Kapitel "Folgen sozialer Ungleichheit").

Wichtig ist zu betonen: Bei allen nachfolgend beschriebenen Unterschieden zwischen bestimmten sozialen Gruppen handelt es sich nur um Durchschnittswerte. Es gibt also beispielsweise im Mittel messbare Unterschiede im Verhalten von niedrig und hoch gebildeten Familien, aber es gibt gleichzeitig auch etliche Familien in beiden Gruppen mit einem ganz anderen Verhalten.

QuellentextNichts prägt eine Schule so sehr wie ihr soziales Umfeld

[…] Die Nordmarkt-Grundschule liegt an einem von Platanen umsäumten Platz, auf dem schon morgens ein paar Verlorene ihr Pils trinken. Sie hat einen gewissen Ruf. Unter Lehrkräften, die sich lieber nicht bewerben. Unter deutschen Familien, die sie meiden. 94 Prozent der Nordmarkt-Eltern bekommen Geld vom Amt oder haben es beantragt. Von den 420 Schülern haben 416 eine Migrationsgeschichte. Im Schnitt sprechen nur ein bis zwei Kinder pro Klasse gut Deutsch. Manche stapfen morgens hungrig durch das Tor und erzählen, dass ihre letzte Mahlzeit das Mensaessen am Tag davor war. Viele tragen zu kleine Schuhe.

Nichts prägt eine Schule so sehr wie ihr soziales Umfeld, nichts beeinflusst den Lernerfolg von Schülern stärker als deren familiäre Herkunft. Das kann man in der Dortmunder Nordstadt besonders drastisch beobachten. Aber auch in Duisburg oder Oberhausen, Bochum, Herne kämpfen Lehrerinnen und Sozialarbeiter jeden Tag gegen Sprach- und Bildungsarmut, gegen Perspektivlosigkeit.

Seit rund 20 Jahren prüft die Wissenschaft, wie gut Kinder hierzulande lesen, schreiben und rechnen können. Den aktuellen Leistungsstand in den Bundesländern haben die Forscher und Forscherinnen vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen am Montag vorgelegt. Der Befund war erschreckend: Nie zuvor war das Kompetenzniveau der Grundschüler so niedrig wie heute. In Berlin und Bremen kann jeder dritte Zehnjährige nicht richtig lesen und rechnen. Diese beiden Stadtstaaten bilden die Schlusslichter. Nordrhein-Westfalen, das vor 20 Jahren in den Ländervergleichen noch auf Platz sechs stand, ist mittlerweile fast zu ihnen abgerutscht. […]

Etwa zwei von drei Kindern im Ruhrgebiet wachsen in benachteiligten Stadtvierteln auf, heißt es im Bildungsbericht Ruhr 2020. In Dortmund leben rund 30 Prozent in Hartz-IV-Haushalten, in Gelsenkirchen über 40 Prozent – bundesweiter Rekord. „Von sozialen Brennpunkten zu sprechen ist eine Verharmlosung der realen Situation“, sagt der Soziologe Volker Kersting von der Ruhr-Universität Bochum. „Es handelt sich nicht um punktuelle, sondern um flächendeckende, massive Armut.“ […]

Würden sie nach dem offiziellen Lehrplan unterrichten, sagt Alma Tamborini, „wäre es ein tägliches Scheitern“. Ein bisschen Lesen, ein bisschen Rechnen, ein sozialer Umgang miteinander – wenn die Schüler das am Ende der vierten Klasse könnten, sei ihre Arbeit erfolgreich gewesen. Tamborini, 41, leitet die Dortmunder Nordmarkt-Grundschule seit 2015. […]

Tamborini beschönigt nichts, Lamentieren aber hält sie für Zeitverschwendung. Die Schulleiterin und ihr Kollegium treibt eine Frage um: „Wie müssen wir uns verändern, damit wir zu unseren Kindern passen?“ Da immer weniger Eltern Stundenpläne lesen können, stehen morgens eben Frau Schroda und Frau Dimitrov am Schultor, Ordner in der Hand, darin die Abholzeiten für jedes Kind. Badeanzüge für den Schwimmunterricht? Gibt es in den meisten Familien nicht. Also muss der Förderverein ran. In dem sind nur Lehrkräfte, keine Eltern. […]

[…] 28 Prozent der Grundschüler im Revier sprechen laut Bildungsbericht Ruhr zu Hause kein Deutsch. Bei den Vorschultests scheitert rund ein Viertel der Kinder daran, einen Kreis oder ein Viereck zu zeichnen. An der Grundschule am Dortmunder Nordmarkt hatten beim letzten Sprachstandtest 93 Prozent der Kinder keinen altersgemäßen Wortschatz. […]

Auf dem Hof stehen zweistöckige Container, in denen einige Klassen untergebracht sind, auch die von Miriam de Castro. Die 38-Jährige hält Bildtafeln hoch, jeden Tag macht sie eine Viertelstunde Vokabelübungen, nur ein Kind kennt das Wort Dusche. Die Schüler in ihrer Klasse sind sieben oder acht Jahre alt, eine kleine Gemeinschaft, die mit Begeisterung ihrer Lehrerin folgt. Hier gebe es keine Grüppchenbildung, sagt de Castro. Aber die Kinder sprechen eben in Drei-Wort-Sätzen, wenn überhaupt. Als sie vor zwölf Jahren hier angefangen habe, sagt de Castro, seien am Nordmarkt vor allem Kinder der zweiten oder dritten Generation aus türkischen und portugiesischen Familien gewesen. „Viele waren im Kindergarten und sprachen Deutsch.“ Jetzt sei es eben anders. […]

Es gibt auch ein anderes Ruhrgebiet. Oft liegt es in derselben Stadt. Um von einer Welt in die andere zu wechseln, muss man nur in den Bus oder die Straßenbahn steigen und die A 40 überqueren. Man nennt sie auch Sozialäquator, er trennt den armen Norden vom reichen Süden des Reviers. In Dortmund, Duisburg oder Essen geht er mitten durch die Stadt.

Im Norden stammt die Mehrheit der eingeschulten Kinder aus armen Einwandererfamilien, die oft nicht gelernt haben, bis hundert zu zählen und einen Stift richtig zu halten. Nach vier Jahren wechseln die meisten von ihnen auf die Haupt- oder Gesamtschule. Südlich der A 40 gibt es fast keine Hauptschulen. Denn die meisten Schüler hier gehen sowieso aufs Gymnasium.

In wenigen Regionen Deutschlands dürfte sich die Biografie eines Kindes so genau anhand des Viertels voraussagen lassen: Gesundheitszustand, kognitive Fähigkeiten bei Schulbeginn, Schulabschluss. In der vergangenen Dekade ist der soziale Graben tiefer geworden. Laut „Bildungsbericht Ruhr“ [aus 2022] hat sich die Armut in den vom Bergbau geprägten Vierteln verschärft, gerade in Dortmund, Duisburg, Essen, Bochum und Gelsenkirchen. Für den Bildungsbereich stellt der Bericht eine „zunehmende Spreizung“ fest. So schaffen im Ruhrgebiet zwar stets mehr Schüler das (Fach-)Abitur, aber auch die Quote der Hauptschulabschlüsse und der Anteil der Schüler ohne Abschluss steigen.

Schulpolitik allein kann in Quartieren, wo sich Migration, Armut und fehlender Aufstiegswillen so massiv ballen wie in Teilen des Ruhrgebiets, keine Bildungswunder bewirken. Selbst die besten Schulen sind keine Schicksalskorrekturanstalten. Doch der Staat kann Ungleichheiten durch sein Bildungssystem entschärfen. Im Ruhrgebiet müssten dafür etwa Schüler im Dortmunder Norden mehr Hausaufgabenbetreuung und Lernangebote erhalten als im Dortmunder Süden, in Duisburg-Marxloh müssten sich die Schulen mit den kleinsten Lerngruppen finden und in Gelsenkirchen-Nord die Lehrerinnen mit den höchsten Gehältern. […]

Anant Agarwala / Martin Spiewak, „Im toten Winkel“, in: DIE ZEIT Nr. 43 vom 20. Oktober 2022

Eltern beeinflussen die Kompetenzen und den Schulerfolg ihrer Kinder auf ganz vielfältige Weise. Das sind die primären Effekte der Bildungsungleichheit. Erstens werden die Kinder höher gebildeter Eltern im Durchschnitt bereits mit einer Disposition zu höheren kognitiven Fähigkeiten geboren. Das liegt daran, dass kognitive Fähigkeiten zum Teil vererbt werden. Da höher gebildete Eltern im Mittel intelligenter sind als niedrig gebildete, gilt das in der Summe auch für ihre Kinder.

Das heißt aber nicht, dass genetische Unterschiede den Bildungserfolg von Kindern bestimmen, denn sie wirken teilweise im Zusammenspiel mit Umwelteinflüssen, darunter dem elterlichen Förderverhalten. Und hier finden sich ebenfalls systematische Unterschiede nach Bildung: Hoch gebildete Eltern gehen – wiederum: im Durchschnitt betrachtet – bereits im Säuglingsalter anders mit ihren Kindern um als niedriger gebildete Eltern. Sie sprechen anders mit ihnen, lesen ihnen häufiger aus Bilderbüchern vor und regen dadurch den Spracherwerb an. Sie spielen häufiger lernhaltige Spiele mit ihnen und verbringen weniger Zeit gemeinsam vor dem Fernseher. Sie unterstützen ihre Kinder stärker emotional, greifen seltener zu Disziplinierungsmaßnahmen und sorgen so dafür, dass ihre Kinder weniger Probleme mit Gleichaltrigen haben und sozial kompetenter sind.

Ausgewählte Tätigkeiten von Müttern mit ihren 2- bis 5-jährigen Kindern, 2019 (in Tagen pro Monat) (© Quelle: Bildungsbericht 2022, Tab. C1-8web; Daten: AID:A 2019)

Nicht alle diese förderlichen Verhaltensweisen geschehen bewusst, Kinder lernen vielmehr aus den Routinen und Praktiken ihrer Umgebung. Und viele dieser Unterschiede lassen sich darauf zurückführen, dass niedrig gebildete Eltern über weniger Geld und Zeit verfügen als hoch gebildete und es im Alltag dieser Familien daher oft mehr Probleme gibt. Das gilt zum Beispiel auch für viele Eltern mit Migrationshintergrund. Bei dieser Gruppe kommt noch hinzu, dass sie oft selbst nicht gut Deutsch sprechen und ihren Kindern daher nicht gut beim Erlernen der deutschen Sprache helfen können. In der Schule ist diese dann aber entscheidend.

Wenn Kinder größer werden, sind gemeinsame Mahlzeiten, das Zubettgehen oder die Zeit für Hausaufgaben in höher gebildeten Familien stärker geregelt und kontrolliert. Das fördert den Erfolg in der Schule. In diesen Haushalten wird in der Regel auch mehr über Bücher, anspruchsvolle Filme, Theater, Kunst und klassische Musik, aber auch über Wissenschaft und Politik gesprochen, sodass Kinder ganz selbstverständlich mit diesem Wissen aufwachsen. Ähnliche Unterschiede finden sich im Freizeitverhalten von Familien: Höhergebildete Eltern gehen mit ihren Kindern häufiger ins Theater, in Lesungen, in Konzerte oder in die Oper. Darüber erlernen Kinder Wissen, das in der Schule nützlich ist und in unserer Gesellschaft als „hohe Allgemeinbildung“ anerkannt wird.

Höher gebildete Eltern haben im Durchschnitt höhere Ansprüche und Erwartungen an die Schulleistungen und Abschlüsse ihrer Kinder und legen mehr Wert auf deren Bildung. Daher unterstützen sie ihre Kinder intensiver, wenn sie Schwierigkeiten in der Schule haben, zum Beispiel durch Nachhilfe. Höher gebildete Familien verfügen in der Regel auch über ein höheres Einkommen. Daher haben sie meist auch bessere finanzielle Mittel, um eine gute Bildung für ihre Kinder umzusetzen: Das heißt, sie können mehr Geld für Kulturveranstaltungen, Bücher, Notebooks und Tablets, Musikunterricht oder Nachhilfestunden ausgeben.

Auch in Familien mit Migrationshintergrund sind die Bildungserwartungen, die an Kinder gerichtet werden, überdurchschnittlich hoch. Hier können Eltern ihre Kinder aber häufig nicht so gut beim Lernen unterstützen, sei es aus Geld- oder Zeitmangel oder weil sie selbst keine Hausaufgabenhilfe leisten können. Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund können ihre hohen Bildungswünsche daher nicht immer umsetzen und wenn, dann ist dies mit sehr viel Eigeninitiative und Mehraufwand verbunden.

Kompetenzindex für Kinder mit niedrig, mittel und hoch gebildeten Eltern, 2021 (© Jan Skopek / Giampiero Passaretta, Socioeconomic Inequality in Children’s Achievement from Infancy to Adolescence: The Case of Germany, Social Forces 100(1) 2021, S. 86–112; https://doi.org/10.1093/sf/soaa093, Daten des NEPS)

Die vielen kleinen Unterschiede im Alltag von Kindern aus niedrig und hoch gebildeten Elternhäusern tragen dazu bei, dass die Schere in ihren Kompetenzen bereits im Vorschulalter aufgeht. Dies konnten Forschungen mit Längsschnittdaten aus Deutschland zeigen, bei denen die Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen nicht nur einmal, sondern immer wieder gemessen wurden. Im Verlauf der Schulzeit sind die Bildungsunterschiede zwar mal kleiner, mal größer, aber sie verändern sich nicht mehr wesentlich.

Wie ließen sich die primären Effekte verringern? Dazu gibt es unterschiedliche Positionen und Vorschläge. Die Schule, so zeigen es die gerade genannten Forschungsergebnisse, verringert die deutlichen Bildungsunterschiede bei Kindern unterschiedlicher Herkunft kaum. Aber natürlich könnte Schule so gestaltet sein, dass benachteiligte Kinder noch stärker und gezielter gefördert werden. Außerdem könnte es helfen, die Zeit auszudehnen, die Kinder in der Schule verbringen – also Ganztagsunterricht, so wie es in vielen europäischen Staaten üblich ist. Das hätte den Vorteil, dass Kinder die Hausaufgaben in der Schule machen und auch benachteiligte Kinder so eine gute Unterstützung bekommen könnten.

Erfolgversprechend könnte auch sein, stärker in frühe Bildung zu investieren – denn die wichtigste Lernphase von Kindern findet in den ersten Lebensjahren statt. US-amerikanische Programme wie das bekannte Perry-Preschool-Programm haben eine sehr gute Erfolgsbilanz: Diese Studie fand zwischen 1962 und 1967 in Michigan, USA, mit 123 Kindern aus sehr benachteiligten Familien statt. 58 zufällig ausgewählte Kinder wurden in das Programm aufgenommen, die übrigen 65 bekamen keine Förderung, das heißt, sie bildeten die Kontrollgruppe des Experiments. Das Programm selbst bestand aus einer intensiven täglichen Vorschule und wöchentlichen Besuchen von Sozialarbeiter:innen bei den Kindern zuhause. Auch deren Eltern wurden in das Programm einbezogen. Die ehemaligen Programmteilnehmer:innen hatten als Erwachsene deutlich häufiger als die Kontrollgruppe ein hohes Monatseinkommen und Wohneigentum und waren deutlich seltener auf staatliche Unterstützung angewiesen.

Anteil der Kinder in Tagesbetreuung nach Altersgruppen, Bildungsabschluss der Eltern sowie Migrationshintergrund des Kindes, 2020 (in Prozent)* (© Quelle: Bildungsbericht 2022, Abb. C3-3; Daten: Mikrozensus)

Ein solch aufwendiges Bildungsprogramm kann zwar nicht für alle benachteiligten Kinder aufgelegt werden. Aber Studien für Deutschland zeigen, dass Kompetenzunterschiede auch dann verringert werden könnten, wenn alle Kinder mit zwei Jahren eine Kita besuchen würden. Allerdings besuchen Kinder niedrig gebildeter Eltern und Kinder mit Migrationshintergrund eine Kita oder den Kindergarten seltener und wenn, dann später als Kinder höher gebildeter Eltern oder ohne Migrationshintergrund.

Gleiche Ausgangsbedingungen – ungleiche Entscheidungen

Auch wenn Kinder aus ungleichen Elternhäusern ähnlich schlau und strebsam sind und gleich viel wissen und können, sind diejenigen aus Akademikerfamilien in der Regel dennoch erfolgreicher in der Schule. Dies liegt vor allem daran, dass Familien mit unterschiedlicher sozialer Herkunft andere Bildungsentscheidungen treffen, die sogenannten sekundären Effekte. Das beginnt, wie gerade gezeigt, schon in der Kita und im Kindergarten, setzt sich am Übergang von der Grundschule in weiterführende Schulen fort und endet bei Entscheidungen zur Berufsausbildung und dem Studium. Primäre Effekte sind mit dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit vereinbar, weil Kinder in der Schule auf einem gleichen Maßstab nach ihren Leistungen beurteilt und sortiert werden. Dagegen liegt bei den sekundären Effekten eine Verletzung dieses Prinzips vor, weil Kinder mit gleichen Leistungen eben nicht die gleichen Chancen haben, am Ende auch die gleichen Bildungsergebnisse zu erzielen.

QuellentextBildungssystem und Bildungsübergänge in Deutschland

Immer dann, wenn Übergänge von einer Bildungseinrichtung in eine andere anstehen, entstehen wichtige Entscheidungspunkte für alle Kinder und Jugendlichen, die vom Bildungssystem vorgegeben sind. In Deutschland liegen diese am Übergang von der Grundschule zu weiterführenden Schulen, von diesen zur Berufsausbildung und dem Studium, aber auch zu den Möglichkeiten, weiter zur Schule zu gehen, zum Beispiel an Aufbauschulen wie die Fach- oder Berufsoberschule (FOS/BOS). Die erste Bildungsentscheidung findet in Deutschland deutlich früher statt als in anderen Ländern, wo Jugendliche häufig bis zum Alter von 16 gemeinsam beschult werden. Auch während des Besuchs einer Bildungseinrichtung können frühere Entscheidungen korrigiert werden, beispielsweise wenn Schwierigkeiten auf dem Gymnasium so groß sind, dass ein Wechsel auf eine Realschule sinnvoll erscheint, oder wenn Jugendliche merken, dass eine Berufsausbildung doch nichts für sie ist, und beschließen, stattdessen weiter zur Schule zu gehen, um das Abitur zu machen.

Corinna Kleinert, Kathrin Leuze, Reinhard Pollak

(© Quelle: Steffen Schindler, Universität Bamberg)

Dabei handeln Eltern und Kinder aus allen sozialen Gruppen durchaus rational, wenn sie solche Entscheidungen treffen. Aber sie kommen zu anderen Ergebnissen, weil sie die Kosten, die Erträge und die Erfolgserwartung systematisch unterschiedlich bewerten. Hier drei Beispiele:

  • Kosten: Niedrig gebildete Familien scheuen sich manchmal davor, dass ihre Kinder studieren, weil sie sie dann sehr lange finanziell unterstützen müssen. Wenn ihre Kinder eine Berufsausbildung machen, verdienen diese schon früher eigenes Geld.

  • Erträge: Niedrig gebildete Familien unterschätzen öfter die Einkommen, die Menschen in hochqualifizierten Berufen verdienen, und die Unterschiede zu weniger hoch qualifizierten Berufen. Hoch gebildete Familien tun das seltener, weil sie mehr Menschen in solchen Berufen persönlich kennen.

  • Erfolgserwartung: Höher gebildete Eltern trauen ihren Kindern eher zu, auf dem Gymnasium bestehen zu können, weil sie sie beim Lernen besser unterstützen können.

Verteilung von Grundschulnoten und Übergangswahrscheinlichkeiten aufs Gymnasium (für Kinder von Eltern ohne und mit Abitur, Simulation auf der Basis einer Studie von 1983) (© Steffen Schindler, Assessing the cumulative impact of primary and secondary effects on the way from elementary to tertiary education. A simulation study for Germany. Equalsoc Working Paper 2010/2)

Besonders wichtig ist bei diesen Entscheidungen das Motiv des Statuserhalts, denn es prägt die Einschätzung von Kosten, Erträgen und Erfolgserwartung subjektiv. Alle Eltern sind bestrebt, dass ihre Kinder sozial nicht „abrutschen“. Für hoch gebildete Eltern heißt das, dass sie sich für die Bildungswege entscheiden, die es ihren Kindern ermöglichen zu studieren. Für niedrig gebildete Eltern kann es hingegen ausreichend sein, dass ihre Kinder einen Hauptschulabschluss erreichen und im Anschluss daran eine Berufsausbildung abschließen. Diese unterschiedlichen Entscheidungslogiken führen dazu, dass insbesondere bei mittleren Grundschulnoten viel mehr Kinder aus höher gebildeten Elternhäusern auf das Gymnasium übergehen als aus niedriger gebildeten Elternhäusern. Bei einem sehr guten, aber vor allem bei einem sehr schlechten Notenschnitt unterscheiden sich die Übergangswahrscheinlichkeiten hingegen kaum.

Was ließe sich tun, um sekundäre Effekte zu verringern? Eine naheliegende Lösung wird in Deutschland schon seit Langem diskutiert: Übertritte auf unterschiedliche Schulformen könnten in höherem Alter stattfinden. In einigen Bundesländern findet der Übergang aus der Grundschule schon heute nach der sechsten Klasse statt. Eine längere gemeinsame Beschulung könnte aber auch Nachteile für benachteiligte Kinder haben, weil es in Klassen mit vielen unterschiedlichen Schüler:innen schwieriger ist, diese gezielt zu fördern. Außerdem besteht die Gefahr, dass gut betuchte Eltern ihre Kinder dann auf Privatschulen schicken, wo sie vermeintlich besser unterrichtet werden und wo sie unter ihresgleichen bleiben.

Eine andere Möglichkeit wäre, den Übergang an weiterführende Schulen wieder strikt an Leistungen in der Grundschule zu binden. Heute haben aber in fast allen Bundesländern Eltern (in unterschiedlichem Ausmaß) das Recht, sich über die Gymnasialempfehlung von Lehrer:innen hinwegzusetzen. Ganz allgemein wäre es wichtig, Eltern und später Jugendliche und junge Erwachsene bei ihren Entscheidungen zu beraten und sie über die Vor- und Nachteile aller alternativen Bildungswege gut zu informieren.

Gatekeeper in Bildungssystemen

Nicht nur Familien handeln je nach ihren Bildungserfahrungen unterschiedlich. Bildungstitel bestimmen auch in starkem Maße das gesellschaftliche Ansehen von Menschen, bilden die Grundlage für Stereotype, Abwertung sowie Diskriminierung und prägen so den Umgang von Menschen untereinander. Auch die sogenannten Gatekeeper, die Kinder beurteilen und Familien bei ihren Bildungsentscheidungen beraten, sind nicht frei davon. Dieser Begriff, der wörtlich übersetzt Torwächter bedeutet, veranschaulicht gut die Funktion dieser Personen: Sie überwachen „das Tor“ zur nächsten Bildungsstation und helfen mit, die Schüler:innen beim Übergang zu sortieren.

Eine besonders wichtige Funktion nehmen hier Lehrkräfte ein, weil sie über Noten, Gymnasialempfehlungen und Abschlüs­se entscheiden und Lernende sowie Eltern beraten. Auch wenn Kinder den Lehrkräften nicht erzählen, aus welcher Bildungsschicht sie kommen oder aus welchem Land ihre Eltern stammen, gibt es vielerlei Signale, anhand derer Lehrkräfte sich ein Bild von der Herkunft ihrer Schüler:innen machen: die Berufe der Eltern, ihre Nachnamen, ihr Umgang mit Sprache (Akzente, Dialekte), ihre Umgangsformen, ihre Kleidung oder das Wissen der Kinder über Kultur. Oftmals schätzen Lehrkräfte die nicht-kognitiven Fähigkeiten wie den Fleiß von Schüler:innen aus Akademikerfamilien höher ein und trauen deren Eltern eher zu, sie bei schulischen Problemen zu unterstützen. Aus diesen Gründen geben sie solchen Kindern eher eine Gymnasialempfehlung als anderen, insbesondere wenn die Schulleistungen im Mittelfeld liegen und daher für sich alleine genommen keine gute Entscheidungsgrundlage sind. Das sind die tertiären Effekte der Bildungsungleichheit.

Was ließe sich tun, um tertiäre Effekte zu verringern? Hier könnte es vor allem hilfreich sein, Lehrer:innen in Fortbildungen für ihre eigenen Stereotype zu sensibilisieren. Außerdem wäre es möglich, ein anderes Modell für die Vergabe von Gymnasialempfehlungen zu entwickeln, das stärker standardisiert ist, sodass der einzelnen Lehrkraft nicht mehr eine so große Rolle dabei zukommt. Aber das hätte vermutlich auch Nachteile, weil das die unterschiedlichen Potenziale von Grundschulkindern außer Acht ließe. Auch hier könnte es helfen, alle Kinder länger gemeinsam zu beschulen.

QuellentextManifestiert das deutsche Bildungssystem Ungleichheiten?

[…] Was ich werden wollte, fragte man mich […] [als 15-jährige Realschülerin, die plan-, ziel- und orientierungslos durch ihre Kleinstadt zog, rumhing, rauchte, auf den Boden spuckte]. Lange zuckte ich als Antwort darauf mit den Schultern. […] Doch irgendwann entstand aus einem Tagtraum ein vorsichtiger Wunsch: Grundschullehrerin. Als ich einem Lehrer davon erzählte, lachte er und zählte auf, was ich dafür brauchen würde (gute Noten, Abitur, ein Studium), was ich alles nicht hatte (Disziplin, Ausdauer, Struktur), was ich tun sollte (die Realschule beenden und lieber eine Ausbildung machen). […]

Fast wäre ich in meinem Hoodie versunken und ins Nichts gelaufen, da zog mich jemand an der Kapuze zurück.

Ob ich mir mal mein Zeugnis angeguckt hätte, sagte mein Stiefvater, der in unsere Familie gekommen war und, neben einem Faible für Ordnung und Struktur, als Einziger in der Familie die Erfahrung eines abgeschlossenen Studiums mitbrachte. Sei doch gar nicht so schlecht [...]

Sein dringender Rat an mich: auf jeden Fall das Abitur dranhängen, statt nichts zu tun. Der Pensionär und ich – seine pubertierende Stieftochter – waren damals alles andere als auf einer Wellenlänge. Aber wir teilten hier einen für mich weichenstellenden Moment: den Moment, in dem jemand an mich geglaubt hat. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich diesen Text heute als studierte Gymnasiallehrerin schreibe.

Damit Jugendliche den für sie richtigen Weg finden, braucht es dringend jemanden, der nah dran ist, hinguckt und in den richtigen Momenten an der Kapuze zieht. In bildungsbürgerlichen Milieus übernehmen das meist die Eltern. An sogenannten Brennpunktschulen fällt diese Rolle dagegen oft den Lehrkräften zu. Doch das ist fatal. Denn obwohl ich dort unzählige engagierte Menschen kennengelernt habe: Niemand kann 30 orientierungslose Kinder gleichzeitig ermutigen und quasi nebenher noch so etwas wie Unterricht halten.

An der Kapuze ziehen bedeutet auf einer Hauptschule oder Mittelschule oder Gesamtschule ohnehin etwas ganz anderes als auf dem Gymnasium […]. Das wurde mir kurz nach meinem Referendariat an einem Gymnasium klar. Ich war damals gerade seit ein paar Tagen als Vertretungskraft an einer Haupt- und Realschule in Rheinland-Pfalz, in einem Betonklotz-Stadtviertel mit verranzten Kneipen. Dort begrüßte mich ein Schüler mit: „Oha, die Schlaue!“ […]. Er konnte sich nicht erklären, wieso jemand freiwillig an seiner Schule arbeiten wollte. Einer „Asischule“, wie er sie selbst nannte.

Denn meine Schüler waren sich ihres Stigmas sehr wohl bewusst. Sie verorteten sich wie selbstverständlich dort, wo sie von der Gesellschaft hingedrängt, wo sie von unserem Bildungssystem geparkt wurden: ganz unten. Sie spürten das, was das Bildungssystem mit seinen leeren Behauptungen über die eigene Durchlässigkeit zu kaschieren versucht: dass es ein Oben und ein Unten gibt und dass diejenigen, die unten starten, in der Regel auch dort bleiben.

Während die Elternschaft auf den Gymnasien zu mehr als 60 Prozent aus Akademikern besteht, sind es auf Hauptschulen gerade mal 17 Prozent. Mehr als die Hälfte der Eltern an Hauptschulen haben selbst einen Hauptschul- oder gar keinen Schulabschluss. Es ist, als hätten die Eltern magnetische Kräfte, die die Kinder entweder auf der einen oder anderen Seite halten. Nur wenige schaffen es, sich zu lösen – nach oben wie nach unten. Denn auch Akademikerkinder, die später Gleisbauer oder Friseur werden, sind rar.

Schafft es ein Kind nach der vierten Klasse aufs Gymnasium, kann man davon ausgehen, dass es ein sozioökonomisch stabiles Elternhaus hat. Kommt ein Kind – unwahrscheinlicherweise – trotz häuslicher Probleme aufs Gymnasium, wird es dasselbe vermutlich bald wieder verlassen. Es wird „ausgesiebt“, um im Gymnasiallehrerjargon zu sprechen.

Die Bedürfnisse von Kindern aufzufangen, die sich selbst schon lange aufgegeben haben, erfordert […] mehr als ein paar Gespräche im Türrahmen nach Unterrichtsschluss. Das persönliche Engagement vereinzelter Lehrkräfte kann unmöglich das Fundament eines gerechten und erfolgreichen Bildungssystems sein. Doch genauso läuft es derzeit. Unser Bildungssystem vertraut darauf, dass Lehrerinnen und Lehrer an sogenannten Brennpunktschulen Erziehungs- und Bildungsauftrag in Personalunion stemmen – und gibt ihnen gleichzeitig kaum strukturelle Hilfen an die Hand. Das funktioniert nicht. Kann nicht funktionieren. […]

[…] Unser Bildungssystem manifestiert soziale Ungerechtigkeit. Jeden Sommer taumeln Jugendliche […] aus der Schule heraus, einer tristen Zukunft entgegen, weil sich unser Bildungssystem allein auf die Kinder konzentriert, die wortwörtlich schon von Haus aus so viel mehr Chancen im Schulranzen haben. Für ein reiches Land wie Deutschland ist das nicht nur beschämend, sondern angesichts des steigenden Fachkräftemangels auch ganz einfach: dumm. […]

Der nächste Pisa-Schock reicht […] nicht aus. Ebenso wenig das unermüdliche Engagement vieler, vieler Menschen – Lehrerinnen, Sozialpädagogen, Psychologinnen, Schüler, Eltern, Hausmeister, aber auch Bildungswissenschaftler. Weil zu viele bedürftige Kinder auf zu wenige Lehrkräfte kommen. Weil es an Schulen keinen Platz und kein Geld für ausreichend Sozialarbeiter und erst recht nicht für Psychologinnen und andere nötige Fachkräfte gibt. Weil Haupt- und Realschulen, gerade die in ökonomisch schwachen Regionen, systematisch benachteiligt werden. Aufgrund der fehlenden politischen Unterstützung ist der Verschleiß an Lehrkräften dort extrem hoch. Sie stellen Versetzungsanträge oder treten die Stellen gar nicht erst an, weil sie von den Zuständen gehört haben. Die Folge: Die Schulen laufen chronisch unterbesetzt immer irgendwie weiter, eingebunden in ein Mangelmanagement. […]

Lisa Graf ist Gymnasiallehrerin und Autorin des Buches „Abgehängt. Von Schule, Klassen und anderen Ungerechtigkeiten“.

Lisa Graf, „Ausgesiebt“, in: Süddeutsche Zeitung vom 6. Januar 2023. Online: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/gesellschaft/bildung-neustart-lisa-graf-bildungsgerechtigkeit-e188738/

Schulsysteme und Bildung nach der Schule

Wahrscheinlichkeit, studiert zu haben, bei 20- bis 34-Jährigen, nach Bildung der Eltern (Chancenverhältnisse im Vergleich zu Eltern ohne Abitur oder Berufsausbildung, 2012) (© Quelle: OECD 2014, Table A4.1b, http://dx.doi.org/10.1787/888933115521, Daten: PIAAC, 2012)

Primäre, sekundäre und tertiäre Effekte – also ungleiche Start- und Lernbedingungen zuhause, ungleiche Bildungsentscheidungen von Familien und ungleiche Bewertung von Gatekeepern – erklären zusammengenommen gut, warum Bildungsungleichheiten in Deutschland im internationalen Vergleich besonders stark ausgeprägt sind. In Deutschland sind die Chancen zu studieren für junge Erwachsene aus Familien mit Abitur oder Berufsausbildung 2,4 Mal so hoch wie für junge Erwachsene aus Familien ohne Abitur und Ausbildung, aus Akademikerfamilien sogar 5,1 Mal so hoch. In Ländern wie Spanien, Irland, den Niederlanden und in Nordeuropa sind die sozialen Ungleichheiten teilweise deutlich geringer.

Während es die primären Effekte überall auf der Welt gibt, werden Schüler:innen in Deutschland viel früher in unterschiedliche Schulformen aufgeteilt als in vielen anderen Ländern. Und damit kommt den ungleichen Bildungsentscheidungen der Eltern und den Urteilen der Lehrer:innen eine besonders große Bedeutung zu.

Schulen in Deutschland gelten daher noch stärker als in manch anderen Ländern als „Sortiermaschinen“. Das Bild der „Sortiermaschine“ verdeutlicht, warum Schulbildung, vor allem Schulabschlüsse und Noten, für den weiteren Lebensweg so wichtig sind: Das gilt für die Frage, ob Schülerinnen und Schüler bestimmte Berufsausbildungen einschlagen und studieren dürfen, welche Studienfächer ihnen offenstehen und auf welche Ausbildungsplätze sie gute Bewerbungschancen haben. Ausbildungsbetriebe, berufliche Schulen und Hochschulen nutzen Schulabschlüsse und Noten als Signale dafür, wie produktiv junge Menschen sind und was sie zu leisten imstande sind.

Kumuliertes durchschnittliches Lebenseinkommen (in Euro 2014) und höchster Bildungsabschluss (© Tobias Brändle / Philipp Kugler / Anne Zühlke (IAW): Lebenseinkommen von Berufsausbildung und Hochschulstudium im Vergleich, Tübingen 2019, S. 23; Daten: NEPS-SC6; https://www.iaw.edu/files/dokumente/IAW_Studie_Vergleich_Lebenseinkommen_Ausbildung_Studium)

Schulabschlüsse und Noten bestimmen stark darüber, mit welchen Berufen junge Menschen ins Arbeitsleben starten. Somit entscheiden Bildungstitel auch über die berufliche Sicherheit und über das Einkommen, das Menschen im Laufe ihres gesamten Lebens erzielen können. Damit sind wir beim zweiten blauen Pfeil des OED-Dreiecks (siehe OED-Grafik zu Beginn des Kapitels) angelangt: dem Zusammenhang von Bildung (E) und dem beruflichen Status als Erwachsene (D).

Das alles erklärt, warum viele junge Menschen heute nach ihrem ersten Schulabschluss weiter zur Schule gehen, um am Ende das Abitur zu erreichen. In Deutschland gibt es – und das ist vielen Menschen hier gar nicht bewusst – viele Möglich­kei­ten, einmal getroffene Entscheidungen zu korrigieren und Schul­abschlüsse nachzuholen. Neben der Möglichkeit, nach dem ersten Abschluss weiter auf eine allgemeinbildende Schule zu gehen, kann ein Abitur auch nach einem mittleren Schulabschluss auf der Fachoberschule und nach der Berufs­ausbildung auf der Berufsoberschule gemacht werden. Erwach­sene können ihr Abitur auf Abendgymnasien erwerben oder ohne Abitur studieren, wenn sie eine abgeschlossene Berufsausbildung und ausreichend einschlägige Erwerbserfahrung mit fachlicher Nähe zum Studium nachweisen können.

In der Masse nutzen vor allem Kinder aus weniger gebildeten Elternhäusern diese Möglichkeiten, weil die meisten Akademikerkinder das Abitur auf direktem Weg erreichen und daher auf diese Möglichkeiten häufig nicht mehr angewiesen sind. Studien haben jedoch auch gezeigt, dass die wenigen Jugendlichen aus höhergebildeten Elternhäusern, die Schulabschlüsse nachholen können, höhere Chancen haben, diese Wege tatsächlich einzuschlagen.

Individuell betrachtet, profitieren sie von den Nachholmöglichkeiten also wieder stärker als Kinder aus niedriggebildeten Elternhäusern. In der Summe führt das dazu – so das Ergebnis von Studien –, dass die vielen Nachholmöglichkeiten in Deutschland die Bildungsungleichheit nach sozialer Herkunft weder vergrößern noch verringern.

Das Bildungssystem wirkt folglich an vielen Stellen als Sortiermaschine. Den Auftrag, allen Kindern eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen, erfüllt es nur bedingt. Formal bietet es allen Kindern die Möglichkeiten, hohe Abschlüsse und gute Startpositionen für das eigene Leben zu erreichen. De facto aber gelingt es kaum, die bereits früh auftretenden Unterschiede bei den Kindern zu kompensieren.

Prof. Dr. Corinna Kleinert ist stellvertretende Direktorin des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (LIfBi) und Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt längsschnittliche Bildungsforschung an der Universität Bamberg. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit sozialen Ungleichheiten in Bildungs- und Erwerbsverläufen sowie mit den Übergängen Jugendlicher zwischen Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt.
Kontakt: E-Mail Link: corinna.kleinert@lifbi.de

Prof. Dr. Kathrin Leuze ist Professorin für „Methoden der empirischen Sozialforschung und Sozialstrukturanalyse“ am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. In Ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Geschlechterungleichheiten im Bereich Hochschulbildung, Arbeitsmarkt und Berufen sowie Eigentumsungleichheiten in Paarbeziehungen.
Kontakt: E-Mail Link: kathrin.leuze@uni-jena.de

Prof. Dr. Reinhard Pollak ist Leiter der Abteilung „Data and Research on Society“ am GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften und Professor für Soziologie an der Universität Mannheim. Seine Forschungsinteressen umfassen insbesondere Analysen zu Bildungsungleichheiten und zu unterschiedlichen Auf- und Abstiegschancen in der Gesellschaft. Darüber hinaus forscht er zur Digitalisierung der Arbeitswelten und zu Methoden der Umfrageforschung.
Kontakt: E-Mail Link: reinhard.pollak@gesis.org