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Europa und das Vereinigte Königreich | Brexit | bpb.de

Brexit Editorial Die verlorene Wette. Entstehung und Verlauf des britischen EU-Referendums Europa und das Vereinigte Königreich. Kleine Geschichte der Beziehungen seit 1945 Uneiniges Königreich? Großbritannien nach dem Brexit-Votum Am Rande der Verfassungskrise? Die rechtliche Grundlage des Brexit Doch nicht wie ein Fahrrad. Desintegrative Momente der europäischen Einigung Europäische Union in der Krise. Sichtweisen und Bewertungen in acht Mitgliedstaaten

Europa und das Vereinigte Königreich Kleine Geschichte der Beziehungen seit 1945

Julie Smith

/ 16 Minuten zu lesen

Im Beitrag werden die schwierigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU beleuchtet: von seiner anfänglichen Ablehnung sich zu engagieren über die verspätete Mitgliedschaft bis hin zur Entscheidung 2016, die Union zu verlassen.

Das historische Votum des Vereinigten Königreichs vom 23. Juni 2016, die EU zu verlassen, hat viele überrascht. Ein Jahrzehnt zuvor schien das Verlassen der Gemeinschaft eines langjährigen EU-Mitglieds noch undenkbar. Die Entscheidung des britischen Premierministers David Cameron, ein Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU abzuhalten, war zunächst ein Versuch, die Konservative Partei zusammenzuhalten. Dessen Mitglieder waren bei der EU-Frage zutiefst gespalten. Dass die Uneinigkeit in der Bevölkerung ebenso groß war, wurde erst nach dem Referendum deutlich – als Analysten und Politikerinnen zu verstehen suchten, wie und warum die Entscheidung für ein Verlassen der EU zustande gekommen war. In vielerlei Hinsicht verdeutlichte das Votum, dass sich das Land nie vollends auf die EU eingelassen hat.

Nach dem späten Beitritt 1973 gelang es dem Vereinigten Königreich nicht, die Union den eigenen Vorstellungen entsprechend zu gestalten – ganz im Gegensatz etwa zu Frankreich. Auch fand im Vereinigten Königreich die Gründungsvision vom Frieden keinen besonderen Nachhall, da es sich nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin als weltpolitisch relevanten Global Player sah. Das britische Verhältnis zur EU war folglich seit jeher von Zurückhaltung und Missverständnissen geprägt. Die Britinnen und Briten schienen ihre eigenen Interessen auf eine Weise verfolgen zu wollen, die mit der konsensorientierten Art der EU nicht in Einklang zu bringen war. Im Laufe der Jahre wurde "Brüssel" für britische Politiker zum Sündenbock, und britische Medien äußerten sich zunehmend kritisch über die EU. Als schließlich die Bürgerinnen und Bürger gefragt wurden, ob sie in der EU bleiben wollen, waren die Befürworter außerstande, das Bild einer jahrzehntelangen negativen Berichterstattung umzukehren.

Erste Schritte

1946 hielt der ehemalige Premierminister Winston Churchill in Zürich eine wegweisende Rede, in der er zur Bildung der "Vereinigten Staaten von Europa" aufrief. Zu dieser Zeit waren fast alle europäischen Staaten mit dem Wiederaufbau ihrer Wirtschaft und politischen Systeme beschäftigt. Churchills Vision nach sollten Versöhnung und Fortschritt in Europa von Frankreich und Deutschland angeführt werden. Das Vereinigte Königreich sollte den Prozess unterstützen – allerdings, wie etwa die USA, von außen. Während sich viele Europäerinnen und Europäer eine gemeinsame föderale Struktur vorstellen konnten, lehnten das Vereinigte Königreich und die skandinavischen Länder alle Maßnahmen ab, die die eigene Souveränität beschneiden könnten.

Als der Marshallplan an die Bedingung geknüpft wurde, dass die europäischen Staaten ein gemeinsames Konzept zur Verwendung der Gelder erarbeiten müssen, bestand das Vereinigte Königreich auf intergouvernementale statt supranationale Regelungen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (OECD) wurde schließlich entlang dieser Maßgabe gegründet. Britische Souveränitätsbedenken sorgten ebenfalls dafür, dass viele Ambitionen der Föderalisten, die sich in Den Haag 1948 zum Europa-Kongress trafen, bei der Bildung des Europarats gebremst wurden.

Auch wenn sowohl die OECD als auch der Europarat bei der Rekonstruktion Europas eine Rolle spielten, blieben beide Institutionen hinter den Bestrebungen vieler Föderalisten zurück. Frankreich war nicht bereit, ein drittes Mal mit anzusehen, wie das Vereinigte Königreich die Integration blockierte. Am 9. Mai 1950 rief Robert Schuman in einer nach ihm benannten Erklärung zur Bildung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) auf. Die EGKS sollte einen erneuten Krieg zwischen den europäischen Staaten materiell unmöglich machen. Der Fokus der Zusammenarbeit lag dabei auf Frankreich und Deutschland, andere Staaten wurden jedoch ermutigt, sich anzuschließen. Das Vereinigte Königreich hatte die Gelegenheit, entschied sich jedoch gegen den Beitritt und war nicht bereit, das unklar definierte Konzept eines "Supranationalismus" zu unterzeichnen. Auch hatte die 1945 ins Amt berufene Labour-Regierung gerade erst die Kohle- und Stahlindustrie verstaatlicht und war nicht gewillt, deren Rohstoffbestände mit denen anderer Staaten zu bündeln.

Außenpolitisch sah sich das Vereinigte Königreich weiterhin als Global Player. Diesen Aspekt unterstrich Churchill, als er 1948 von drei Kreisen sprach: die USA und die Anglosphäre, der Commonwealth sowie Europa. Für das Vereinigte Königreich war die besondere Beziehung zu den USA ein maßgeblicher Teil britischer Identität und Sicherheitspolitik – auch wenn diese Wahrnehmung nur selten auf Gegenseitigkeit beruhte. Der Commonwealth stand für das globale Engagement des Vereinigten Königreichs – so wenigstens dachte man in London. Europa galt inzwischen als drittrangiger Kreis. Das Vereinigte Königreich war in Churchills Augen "mit Europa, aber nicht Teil dessen". Diese Perspektive sollte die folgenden 70 Jahre fortbestehen. Schumans Vision einer friedlichen Kooperation wurde von den Briten nie in der gleichen Weise beherzigt wie von den EU-Gründerstaaten.

Britische Nachzügler

So wie das Vereinigte Königreich Anfang der 1950er Jahre der Montanunion fernblieb und sich von nachfolgenden Entwürfen für eine europäische Verteidigungsgemeinschaft distanzierte, hielt es sich auch gegenüber den Vorschlägen der Konferenz von Messina 1955 zurück. Während die sechs EGKS-Gründer (Frankreich, Deutschland, Italien und die Beneluxstaaten) in Messina durch ihre Außenminister vertreten wurden, schickte das Vereinigte Königreich einen Nachwuchsbeamten in die Verhandlungen. Bei den Gesprächen über die Bildung der Europäischen Atomgemeinschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde der Beamte nach kurzer Zeit wieder zurückgerufen. Die sechs Staaten schritten ohne Großbritannien voran.

Stattdessen unternahm London eigene Schritte zur Bildung einer alternativen Organisation, die die nationale Souveränität nicht einzuschränken drohte: die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA). Diese Schritte spiegeln die internationalen Präferenzen des Vereinigten Königreichs wider – sowohl die Präferenzen der 1950er Jahre als auch die von 2016. Damals wie heute war der freie Handel wegweisend. Allerdings erwies sich die EFTA schnell als untauglich. Während die Ökonomien der sechs EU-Staaten prosperierten, gelang dies den sieben EFTA-Gründungsmitgliedern (Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz und das Vereinigte Königreich) nicht. Kurz nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge begannen die Briten ihre Entscheidung, nicht an der Gemeinschaft teilzunehmen, zu überdenken – zumal die Suezkrise 1956/57 Differenzen mit den USA offenbarte und zeigte, dass auf den Commonwealth allein kein Verlass war.

1961 beantragte der konservative Premierminister Harold Macmillan die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft. Er wurde ermutigt durch einen Besuch bei US-Präsident John F. Kennedy, der deutlich machte, dass die USA keine Einwände gegen einen solchen Schritt hatten. Ganz im Gegenteil: Sie befürworteten das britische Engagement in der Europäischen Gemeinschaft.

Die Römischen Verträge erlaubten ausdrücklich, dass jeder europäische Staat die Mitgliedschaft beantragen konnte. Das formale Prozedere für eine Entscheidung über solche Anträge war jedoch nicht deutlich formuliert. Im Januar 1963 entschied der französische Präsident Charles de Gaulle die Sache einseitig, indem er auf einer Pressekonferenz erklärte, dem Vereinigten Königreich werde nicht gestattet, der Gemeinschaft beizutreten. Offensichtlich hatte er zuvor keinen der übrigen fünf Regierungschefs der Gemeinschaft konsultiert, doch widersprach keiner von ihnen der Entscheidung, und Bundeskanzler Konrad Adenauer unterschrieb den deutsch-französischen Élysée-Vertrag am 22. Januar 1963. De Gaulle zufolge bedrohte das Vereinigte Königreich die Balance innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Es bestanden außerdem Bedenken, das Vereinigte Königreich könne sich als Trojanisches Pferd der USA erweisen.

Labour-Premierminister Harold Wilson unternahm 1967 einen zweiten Versuch. Zu dieser Zeit sah sich das Land ökonomischen Schwierigkeiten ausgesetzt. Die Beweggründe für eine Mitgliedschaft waren also größtenteils ökonomischer Natur und spiegeln den vorwiegend geschäftlichen und wirtschaftlichen Blickwinkel wider, aus dem die Briten damals wie heute die europäische Integration betrachten.

De Gaulles Antwort kam umgehend: Die Briten könnten nicht erwarten, ohne Weiteres in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Und solange de Gaulle im Amt blieb, bestand darauf auch keinerlei Aussicht. Das änderte sich erst mit seinem Nachfolger Georges Pompidou. Dieser dritte Anlauf wurde noch unter Harold Wilson in die Wege geleitet und unter seinem konservativen Nachfolger Edward Heath erfolgreich vollzogen. Heath war einer der wenigen britischen Politiker, die sich vom visionären Charakter der europäischen Integration überzeugen ließen, und er war der einzige britische Premierminister der Nachkriegszeit, der die europäischen Beziehungen den transatlantischen voranstellte und so im Januar 1973 die Mitgliedschaft herbeiführte.

Deren Rahmenbedingungen waren jedoch zum Nachteil des Vereinigten Königreichs – vor allem die Richtlinien für Haushaltsbeiträge und für die Landwirtschafts- und Fischereipolitik. Diese Verpflichtungen waren allesamt bereits vor dem britischen Beitritt ausgehandelt worden. Heath sah in den ökonomischen Kosten einen lohnenswerten Preis für die politischen Vorteile der Mitgliedschaft. Doch nicht alle in seiner Partei dachten wie er, und auch in der Labour-Partei setzte sich allmählich der Gedanke durch, die Bedingungen seien schlecht.

Neuverhandlung und Referendum

Harold Wilsons oppositionelle Labour-Partei sprach sich, obgleich sie gespalten war, gegen eine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft aus. Wilson wurde von Parteikollegen überzeugt, dass Labour nur mit einer Volksabstimmung über den Verbleib zusammengehalten werden könne. Nach der letzten der beiden Unterhauswahlen 1974 und noch vor der Abhaltung eines Referendums leitete er die Neuverhandlung über die Bedingungen der britischen Mitgliedschaft ein. Jahre später wurde sie als "sogenannte Neuverhandlung" bezeichnet, da lediglich Feinjustierungen zugestanden wurden. Wilson hielt die Zugeständnisse für ausreichend, um für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäische Gemeinschaft zu werben und setzte für den 5. Juni 1975 ein Referendum an. Britische Wähler, die zunächst auf der Basis eines parlamentarischen Votums in die Europäische Gemeinschaft gekommen waren, erhielten nun die Möglichkeit auszudrücken, ob sie darin bleiben wollten oder nicht. Diese Option stand keinem anderen Staat zuvor oder seither offen, obgleich die meisten Länder, die den sechs Gründernationen in die Europäische Gemeinschaft folgten, Beitrittsreferenden abgehalten haben.

Die Briten stimmten für den Verbleib. Damit wurde die Zukunft des Landes im gemeinsamen Markt bestätigt, das Thema schien vorerst erledigt und es wurde für das Vereinigte Königreich Zeit, seinen Platz in der Europäischen Gemeinschaft zu finden – idealerweise in einer führenden Rolle "im Herzen Europas". So erhofften es sich zumindest aufeinanderfolgende britische Staatschefs. Die Gegner des europäischen Markts hielten im Laufe der kommenden vier Jahrzehnte jedoch an ihrem Standpunkt fest – zunächst zaghaft, dann immer lauter und häufiger, als immer neue Reformen die Europäische Gemeinschaft veränderten und die Idee eines "gemeinsamen Markts" der Realität einer politischen Union wich. Die Medien unterstützten die Skeptiker gekonnt, indem sie euroskeptischen Redaktionsrichtlinien folgten. Diese Position vertrat vor allem die Rupert Murdoch-Presse: allen voran die Boulevardzeitung "The Sun", das Sonntagsblatt "News of the World", aber auch die Blätter "Daily Mail" und "Daily Express", die nicht zum Murdoch-Imperium gehören. Unterdessen machten die Pro-Europäer in dem Glauben weiter, die Sache sei gewonnen und man könne sich nun auf die Arbeit mit den europäischen Partnern konzentrieren.

"I want my money back"

Das Votum 1975 ließ das Vereinigte Königreich trotzdem nicht zu einem Schlüsselakteur in der Gemeinschaft werden. Als der Labour-Politiker James Callaghan, der die Neuverhandlung als Außenminister geleitet hatte, 1976 Premierminister wurde, zögerte er, den Wechselkursmechanismus zu übernehmen, und setzte damit bereits früh ein Signal, dass das Vereinigte Königreich kein einfacher Partner werden würde. Als Margaret Thatcher im Mai 1979 sein Amt übernahm, sah sie die eine große Schlacht mit der Gemeinschaft vor sich, die es zu gewinnen galt. Ziel war es: einiges vom "Geld zurückzubekommen".

Die Zusammensetzung des gemeinschaftlichen Haushalts bedeutete für das Vereinigte Königreich einen finanziellen Nachteil, zumindest im Vergleich zu den anderen Mitgliedstaaten. Die stark industrialisierte britische Wirtschaft ließ einen bedeutenden Bruttobeitrag für die Gemeinschaft erwarten, bedeutete jedoch gleichzeitig relativ geringe Einnahmen aus der gemeinsamen Agrarpolitik, die in den 1970er Jahren den Großteil der Gemeinschaftsaufwendungen ausmachte. Dieses Thema hatte bereits zum Kern der Neuverhandlungen von 1974 gehört. Thatcher betrachtete die Aufteilung als große Ungerechtigkeit. Die Antwort der anderen Europäer lautete, es gebe kein Prinzip des juste retour, der angemessenen Gegenleistung. Diese Position wurde vor allem von Frankreich vertreten. Fünf Jahre lang überschattete die Frage des britischen Haushaltsbeitrags den Betrieb der Gemeinschaft, und angesichts der britischen Forderungen sorgten kurzzeitige Lösungen nur für eine vorübergehende Verschnaufpause.

Als Frankreichs Präsident François Mitterrand befand, es sei Zeit, die Sache zu lösen, wurde unter dem französischen Gemeinschaftsvorsitz schließlich ein Abkommen ausgehandelt. Frankreich befürchtete, dass die Briten ohne ein solches Abkommen Schritte zur Anhebung der Haushaltsobergrenze blockieren könnten. Das Ergebnis war der sogenannte Britenrabatt – ein Nachlass in Höhe von rund zwei Dritteln der Nettobeiträge. Der Bundesrepublik wurde gleichzeitig garantiert, als größter Nettobeitragszahler nicht die gesamten Kosten für den Rabatt tragen zu müssen. Die Lösung kam den Briten zwar gelegen, sie wurde aber nie in einer dauerhaften Umstrukturierung des europäischen Haushalts verankert geschweige denn vertraglich festgeschrieben. Der Britenrabatt wurde jedoch in jedem Finanzrahmen erneut genehmigt. Und so wurde die Sonderregelung 2016 zum Gegenstand der "Vote Leave"-Kampagne, deren Vertreter sich darauf beriefen, dass der Nachlass nicht garantiert sei. Obwohl dies, formal gesehen, korrekt ist, gab es keine Anzeichen dafür, dass andere europäische Staaten vorhatten, den Nachlass zu streichen. Doch die Zweideutigkeit führte dazu, dass die "Leavers" viele Wähler glauben machen konnten, das Vereinigte Königreich zahle weit mehr in die Gemeinschaft ein, als dies tatsächlich der Fall war.

Vollendung des Markts

Als die Haushaltsfrage geklärt war, hoffte Margaret Thatcher, in der Gemeinschaft eine führende Rolle einnehmen zu können. Sie machte sich zum Ziel, den Binnenmarkt zu vollenden. Obwohl dies keine rein britische Initiative war, verbuchte das Vereinigte Königreich den entsprechenden Beschluss zur Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1985 und des sogenannten 1992-Programms als eigenen Erfolg. Da Frankreichs sozialistischer Präsident Mitterrand seinen Versuch, den Sozialismus einzuführen, aufgab und Deutschlands neuer Bundeskanzler Helmut Kohl von der Notwendigkeit überzeugt war, Europa wettbewerbsfähiger zu machen, ergaben sich Annäherungen in den politischen Präferenzen. Angesichts einer dynamischen Europäischen Kommission unter Mitterrands früherem Finanzminister Jacques Delors sowie unterstützenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs besaß das Projekt eine Reihe von Befürwortern. Einiges deutete darauf hin, dass das Vereinigte Königreich endlich, nach Jahren der Abwesenheit und späteren Marginalisierung, eine konstruktive Rolle einnehmen könnte.

Ein zentraler Aspekt der EEA prägte schließlich die britische Haltung gegenüber der europäischen Integration entscheidend: die Umsetzung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen. Obwohl sie bereits in den Römischen Verträgen vorgesehen waren, wurden sie seit den 1960er Jahren wegen Präsident de Gaulles Ablehnung nicht angewandt. Seine Haltung führte zum Luxemburger Kompromiss, der zwar qualifizierte Mehrheitsentscheidungen formal nicht ausschloss, in der Praxis aber dafür sorgte, dass sie nie zum Einsatz kamen. Die EEA setzte diese genau dort ein, wo sie für die Verabschiedung des 1992-Programms benötigt wurden. Den Souveränitätsverlust, den dieses Programm nach sich zog, akzeptierte Thatcher – zumal die Angst bestand, neue Mitglieder wie Spanien und Portugal könnten die Vollendung des Markts vereiteln, wenn sie ein Vetorecht hätten. Im Laufe der Jahre führten Vertragsreformen schrittweise zur Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen auf weitere Politikbereiche. Der wachsende Souveränitätsverlust sorgte im Vereinigten Königreich für immer größeres Misstrauen gegen die Europäische Gemeinschaft, und die Briten wurden immer skeptischer.

Delors sah in der EEA eine Gelegenheit, die europäische Integration durch eine Wirtschafts- und Währungsunion, die seit 1969 auf der Agenda der Gemeinschaft stand, sowie eine europäische Sozialpolitik voranzutreiben. Thatcher lehnte, wie Callaghan, sowohl die europäische Wirtschafts- und Währungsunion als auch die Idee einer europäischen Sozialpolitik entschieden ab und machte 1988 in einer Rede vor dem College of Europe in Brügge ihren Standpunkt deutlich. Delors aber wusste andere Mitgliedstaaten hinter sich.

Der Weg zu einer Währungsunion war bereits weitgehend eingeschlagen, als der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch des Kommunismus in Europa grundlegende Veränderungen herbeiführten und die Reformen in der Europäischen Gemeinschaft beschleunigten. Das Vereinigte Königreich wie Frankreich und die Niederlande begegneten der Aussicht auf eine deutsche Wiedervereinigung mit Sorge. Delors sah darin den idealen Zeitpunkt, um eine Wirtschafts- und Währungsunion zu realisieren und propagierte sie als Weg, das vereinte Deutschland fest in die politischen Strukturen Westeuropas einzubinden. Neben der Wirtschafts- und Währungsunion beschlossen die Mitgliedstaaten eine Zusammenarbeit in Sicherheits-, Justiz- und Verteidigungsfragen sowie in innenpolitischen Angelegenheiten.

Thatchers Nachfolger, John Major, war nicht bereit, das Vereinigte Königreich auf eine europäische Gemeinschaftswährung zu verpflichten – eine Position, die durch die kurze und schmerzliche Periode der Mitgliedschaft des britischen Pfunds im Europäischen Währungssystem zwischen 1990 und 1992 gerechtfertigt zu sein schien. Beim Gipfel von Maastricht, auf dem der EU-Vertrag ausgehandelt wurde, zeigte sich, dass Vertragsreformen nicht garantiert waren, solange dem Vereinigten Königreich und Dänemark keine Ausnahmen bei bestimmten Verpflichtungen zugesichert wurden. Trotz des scheinbaren Erfolgs, mit dem John Major das Vereinigte Königreich aus einigen Verbindlichkeiten der zukünftigen EU herauszuhalten vermochte, erwies sich die Vertragsratifizierung in Westminster als Nagelprobe, da Parlamentsmitglieder aus den eigenen Reihen Einwände erhoben. Major gelang die Vertragsunterzeichnung, indem er die Vertrauensfrage stellte.

Doch die Diskussion um Europa spaltete nicht allein die Partei der Konservativen; auch Medien und Bürger wurden zunehmend skeptisch. Dazu traten Anfang der 1990er Jahre zwei neue Parteien auf den Plan: die nur kurzlebige Referendum Party und die United Kingdom Independence Party (UKIP). In der Regel ratifizierten die Briten internationale Verträge auf parlamentarischem Wege – wie es auch beim Beitritt zur Gemeinschaft der Fall war. Im Zuge des Maastricht-Prozesses wurden die Rufe nach einem Vertragsreferendum lauter. Major lehnte die Forderungen ab. Dieses Mal verstummten sie jedoch nicht mehr. Im Verlauf der 1990er Jahre sicherten die drei großen Parteien – die Konservativen, Labour und die Liberaldemokraten – öffentlich zu, einen britischen Beitritt zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion nicht ohne ein Referendum zu vollziehen. Als 1997 Tony Blair das Amt des Premierministers übernahm, erwarteten viele ein Referendum zur Beitrittsfrage. Doch die Zeit schien nie geeignet.

Als eine Reihe mittel- und osteuropäischer Staaten der Union beitreten wollten, wurden weitere Reformen notwendig, um sicherzustellen, dass Institutionen, die ursprünglich auf eine Gemeinschaft von sechs zugeschnitten waren, auch bei 25 und mehr Mitgliedstaaten funktionierten. Die Verträge von Amsterdam (1997) und Nizza (2001) wurden im Vereinigten Königreich auf parlamentarischem Wege und ohne große Kontroversen ratifiziert.

Als die EU indes durch ein Abkommen, das Vorschläge für einen Verfassungsvertrag beinhaltete, eine größere Nähe zu ihren Bürgern herzustellen suchte, kündigte Tony Blair an, er werde über diesen Vertrag ein Referendum abhalten. Die gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden verhinderten jedoch ein britisches Referendum, da vereinbart wurde, dass der Ratifizierungsprozess ausgesetzt werde, sollte der Vertrag in diesen beiden Ländern per Referendum abgelehnt werden. Als stattdessen im Dezember 2007 die europäischen Staatschefs den Vertrag von Lissabon unterzeichneten, sah Blairs Nachfolger Gordon Brown keinen Bedarf für ein Referendum. Es handele sich schließlich nur um eine Vertragsreform. Das britische Parlament ratifizierte den Vertrag von Lissabon und die Bürger des Vereinigten Königreichs hatten ein weiteres Mal kein Mitspracherecht.

Referendum 2016

Im Zuge der Vorbereitung zur Ratifizierung des Vertrags von Lissabon versprach der Chef der Konservativen, David Cameron, er werde ein Referendum abhalten, sollte er noch vor Vertragsratifizierung Premierminister werden. Er wurde fünf Monate nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (2009) Chef einer Koalitionsregierung, und ein Referendum hatte es nicht gegeben. Konservative Hinterbänkler im Parlament und Basismitglieder im Land setzten ihre Rufe danach fort. Der Aufstieg der UKIP und ihr Erfolg bei den Europawahlen 2009 ließen bei den Konservativen Wählerverluste befürchten, und sie reagierten darauf mit euroskeptischen Tönen. Cameron gelang es nicht, die Skeptiker zu beschwichtigen, vor allem nicht während der Koalition mit den EU-freundlichen Liberaldemokraten.

Im Januar 2013 hielt Cameron in London eine wegweisende Rede, in der er EU-Reformen versprach und sich verpflichtete, bei einem erneuten Wahlsieg 2015 die Bedingungen der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs neu zu verhandeln und anschließend, Ende 2017, ein Referendum über den Verbleib des Landes in der EU abzuhalten. Diese Verpflichtung war mutig, und es gab Spekulationen, Cameron habe selbst nicht erwartet, die Unterhauswahlen 2015 zu gewinnen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sein Versprechen zu halten. Angesichts der knappen Zeit für Verhandlungen sah sich Cameron nicht in der Lage, den Briten bedeutsame EU-Reformen zuzusichern, und das Paket für Neuverhandlungen wurde von vielen in seiner Partei als unzureichend betrachtet, um den Verbleib in der EU zu unterstützen.

Der Zwang einer einheitlichen Position des Kabinetts wurde aufgehoben, und Minister konnten, ihrem eigenen Standpunkt folgend, Wahlkampf für oder gegen den Verbleib in der EU betreiben. Die Wahlkampagnen waren geprägt von Hysterie und Übertreibungen. Dabei wurde über die ökonomischen Konsequenzen eines Austritts und die Kosten eines Verbleibs in der EU besonders heftig gestritten. Objektive Informationen gab es kaum, und die Bürgerinnen und Bürger hatten es schwer, auch nur eine Ahnung davon zu erhalten, was das Verlassen der EU für sie bedeuten könnte. Die Propagandisten drängten zu einem "Leave"-Votum, um, wie sie sagten, "die Kontrolle wieder zu übernehmen". Ihre Gegner sahen darin einen "Sprung ins Dunkle" und warnten davor, das Risiko eines EU-Austritts einzugehen. Am 23. Juni 2016 taten über 17 Millionen Wähler jedoch genau dies: Eine Mehrheit der Wahlberechtigten sprach sich dafür aus, die EU zu verlassen. Der Premierminister verließ seinen Posten und seine Nachfolgerin, Theresa May, postulierte: "Brexit heißt Brexit – und wir werden daraus einen Erfolg machen." Es gab keinen konkreten Plan für den Austritt, weder im Vereinigten Königreich noch bei den 27 anderen Mitgliedstaaten.

Erstmals regelt der Artikel 50 des EU-Vertrags den Austritt eines Staates aus der Gemeinschaft. Es wird deutlich, dass in der Regierung keine gemeinsame Vorstellung davon herrscht, welche Art von Beziehung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit gewünscht ist. Das Ergebnis des Referendums spiegelte die lang anhaltende Frustration der Briten wider, die unter anderem mit Fragen der Souveränität und der britischen Haushaltsbeiträge zusammenhingen. Was auf dem Wahlzettel noch so einfach schien, sollte sich als überaus kompliziert herausstellen. Es mag sein, dass das Vereinigte Königreich sich dafür entschied, wieder die Kontrolle zu übernehmen. Ob es wusste wofür, ist nicht ganz klar.

Übersetzung aus dem Englischen: Kirsten E. Lehmann, Köln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe ausführlich Julie Smith, The UK’s Journeys Into and Out of the European Union: Destinations Unknown, London 2017 (i.E.).

  2. Das Konzept sollte das Vereinigte Königreich daran hindern, die Entwicklung des europäischen Föderalismus weiter zu blockieren.

  3. Vgl. Hugo Young, This Blessed Plot. Britain and Europe From Churchill to Blair, London1998.

  4. Vgl. Julie Smith, The 1975 Referendum, in: Journal of European Integration History 1/1999, S. 41–56.

  5. Für eine Analyse der öffentlichen Meinung zum Brexit siehe Michael Ashcroft/Kevin Culwick, Well, You Did Ask … Why the UK Voted to Leave the EU, London 2016; Tim Shipman, All Out War: The Full Story of How Brexit Sank Britain’s Political Class, London 2016.

ist Direktorin des European Centre @ POLIS der Cambridge University und Mitglied des britischen Oberhauses. E-Mail Link: jes42@cam.ac.uk