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Ausnahmefall Deutschland. Die Debatte um einen Einsatz der Bundeswehr im Innern | Innere Sicherheit | bpb.de

APuZ Editorial Innere Sicherheit als Thema parteipolitischer Auseinandersetzung Soziale Tatsachen. Eine wissenssoziologische Perspektive auf den "Gefährder" Siegeszug der Algorithmen? Predictive Policing im deutschsprachigen Raum Ausnahmefall Deutschland. Die Debatte um einen Einsatz der Bundeswehr im Innern Autonome und Gewalt. Das Gefahrenpotenzial im Linksextremismus Objektive und subjektive Sicherheit in Deutschland Streit um die streitbare Demokratie.

Ausnahmefall Deutschland. Die Debatte um einen Einsatz der Bundeswehr im Innern

Thomas Wiegold

/ 10 Minuten zu lesen

Nach jeder Terrorwarnung im europäischen Ausland bestimmen Soldaten das Bild der staatlichen Reaktion in den Medien: Im Kampfanzug und mit dem Sturmgewehr stehen sie vor dem Eiffelturm in Paris, sichern die Grand Place in Brüssel oder das Kolosseum in Rom. In Deutschland dagegen wird die Bundeswehr zur militärischen Absicherung von Großereignissen, zur Bewachung von Einrichtungen oder zur Terrorbekämpfung nicht eingesetzt – auch wenn seit Jahren die innenpolitische Debatte darüber läuft, ob und unter welchen Umständen die Bundeswehr, mehr als bisher schon, im Inland eingesetzt werden darf.

Das Grundgesetz (GG) gibt dafür einen Rechtsrahmen vor, der sich von jenem in fast allen anderen Ländern unterscheidet: "Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt", bestimmt die Verfassung in Artikel 87a, Absatz 2. Der Grund dafür liegt in der deutschen Geschichte – und dabei nicht nur in der Zeit des Nationalsozialismus. Schon in Preußen und im Deutschen Kaiserreich wurde das Militär immer wieder dazu genutzt, im Inland staatliche Gewalt durchzusetzen – auch und gerade gegen politische Demonstrationen. "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten", schrieb der preußische König Friedrich Wilhelm IV. 1849. In der Weimarer Republik ließ der SPD-Politiker Gustav Noske als Reichswehrminister den Einsatz der Truppe gegen lokale Aufstände und zur Niederschlagung des Spartakusaufstandes 1919 zu. Berühmt wurde der Satz, den er dazu in seinen Memoiren zitierte: "Einer muss den Bluthund machen."

Nun ist die Bundesrepublik nicht das Deutsche Reich, und das Verhältnis der Bevölkerung zu den Streitkräften hat sich ebenso gewandelt wie die politische Situation. Das ist auch das Kernargument derjenigen, die immer wieder darauf pochen, dass in einem demokratischen Rechtsstaat die Sicherheit in bestimmten Fällen auch im Inland durch die Streitkräfte gewährleistet werden müsste.

Zäsur 9/11

Die Debatte nahm vor allem nach den Angriffen mit entführten Zivilflugzeugen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington am 11. September 2001 an Fahrt auf. Diese Art terroristischer Angriffe müsse zu einer Neubewertung des Einsatzes von Militär im Inland führen, lautete die Forderung.

Im Luftraum schien das zunächst nicht nur unstrittig, sondern geradezu zwingend: Allein die Bundeswehr verfügt über Flugzeuge und Raketen zur Flugabwehr, die einen entführten Airliner stoppen können. Das Luftsicherheitsgesetz von 2005, mit dem das geregelt wurde, erfuhr allerdings recht bald eine Einschränkung durch das Bundesverfassungsgericht: Der Abschuss einer solchen Maschine, in der auch Unbeteiligte sitzen und eben nicht nur Terroristen, sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.

Die Alarmrotten der Luftwaffe, die innerhalb von Minuten aufsteigen, um ein verdächtiges Flugzeug zu überprüfen, dürfen deshalb auch eine entführte Passagiermaschine nur abdrängen, aber weiterhin nicht abschießen. Offen bleibt jedoch, ob sich ein Bundeswehrpilot wirklich strafbar macht, wenn er durch einen Abschuss eines Flugzeugs zum Beispiel dessen gezielten Absturz über einem voll besetzten Fußballstadion verhindert. Auch die Politik hat darauf keine abschließenden Antworten gefunden: Der frühere Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) erwog öffentlich, in einem solchen Fall den Abschussbefehl zu geben und dann seinen Rücktritt zu erklären. Sein Nachfolger Franz-Josef Jung (CDU) dachte darüber nach, für dieses Szenario den Verteidigungsfall anzuwenden – was aber nie rechtlich umgesetzt wurde.

An den Differenzen zwischen Union und SPD über den Einsatz der Bundeswehr im Innern scheiterte auch der Plan, nach dem Luftsicherheits- ein Seesicherheitsgesetz zu verabschieden: Auch auf See, zum Beispiel vor der Elbmündung, hat nur die Bundeswehr mit den Mitteln der Marine die nötigen Fähigkeiten, einen als Terrorwaffe gekaperten Tanker zu stoppen. Eine entsprechende rechtliche Regelung war zwischen den beiden Parteien schon weitgehend vereinbart, der Kompromiss scheiterte aber dennoch im letzten Moment.

Rahmen des Möglichen

Das heißt allerdings keineswegs, dass die Bundeswehr – jenseits eines Krieges oder einer kriegerischen Bedrohung im sogenannten Verteidigungsfall – im Inland nicht eingesetzt werden dürfte. Das Grundgesetz sieht dazu einige Regelungen vor, die wiederum durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts präzisiert und, nach Ansicht vor allem der Unionsparteien, auch ausgeweitet wurden.

Auf der niedrigsten Ebene besteht das Recht von Landesbehörden, die Bundeswehr zur – technischen – Amtshilfe anzufordern. Das betrifft die bekannten Beispiele der Soldaten, die bei einem Hochwasser Sandsäcke stapeln, oder der Hubschrauber von Heer und Luftwaffe, die bei Naturkatastrophen Rettungskräfte einfliegen oder in Not geratene Personen bergen. Eine solche Anforderung war zwar 1962 rechtlich umstritten, als der damalige Hamburger Innensenator Helmut Schmidt bei der schweren Sturmflut in der Hansestadt Bundeswehr-Hubschrauber anforderte und einsetzte; inzwischen ist das aber rechtlich wie praktisch kein Problem mehr.

Ebenso weitgehend unstrittig, aber auch eher theoretisch, ist der Einsatz der Soldaten beim sogenannten "inneren Notstand" – und dann auch mit dem Einsatz "militärischer Mittel", im Klartext: militärypische Waffen. Artikel 87a GG, der den Einsatz der Streitkräfte begrenzt, legt in Absatz 4 fest: "Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn die Voraussetzungen des Artikels 91 Absatz 2 vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen."

Gretchenfrage Terrorbekämpfung

Doch die aktuellen Bedrohungen sind aus Sicht der für die innere Sicherheit zuständigen Politiker und Beamten nicht "organisierte und militärisch bewaffnete Aufständische", auch nicht eine "drohende Gefahr für den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung" – sondern Anschläge von Terroristen, gezielt an einem oder mehreren Orten. Darf die Bundeswehr eingesetzt werden, um solche Anschläge zu stoppen?

Kernpunkt dieser Überlegungen ist ein Satz in Artikel 35 GG: "Zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall kann ein Land Polizeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte anfordern." Die Befugnisse, die die Bundeswehr in einem solchen Fall bekommt, werden seit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Juli 2012 unter anderen Vorzeichen diskutiert. In einer seiner seltenen Plenarentscheidungen, also einem gemeinsamen Beschluss beider Senate, verkündete das Gericht abweichend von früheren Entscheidungen eine neue Interpretation, die nach Auffassung vor allem der Union mehr Möglichkeiten für einen Einsatz der Bundeswehr im Inland eröffnet: Bei besonders schweren Unglücksfällen "katastrophischen" Ausmaßes dürften die Streitkräfte auch im Inland "spezifisch militärische Mittel" einsetzen – und im Unterschied zur technischen Amtshilfe auch hoheitliche Aufgaben übernehmen.

Zu solchen Unglücksfällen werden von der Großen Koalition auch Terrorangriffe gerechnet. Mit dieser Entscheidung aus Karlsruhe wurde in Einzelfällen erlaubt, was der Bundeswehr im Inland bislang verwehrt war: Schon das Sperren einer Straße mussten die Soldaten sonst der Polizei überlassen; ein bewaffneter Objektschutz zum Beispiel vor einem als mögliches Terrorziel eingeschätzten Kernkraftwerk kam nicht infrage.

Allerdings muss in solchen Katastrophensituationen die vorhandene oder befürchtete Gefährdung weit über eine gewöhnliche Gefahrensituation hinausgehen. Allein die Befürchtung, dass die Polizei überfordert sein könnte, reicht nicht aus. Auch den Einsatz der Bundeswehr gegen gewalttätige Demonstranten schloss das Verfassungsgericht aus: In solchen Fällen sei entscheidend, ob die beim inneren Notstand geltende Erlaubnis für die Bekämpfung von Aufständischen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährden, angewandt werden könne.

Für einen Einsatz der Bundeswehr mit hoheitlichen Befugnissen und notfalls auch mit militärischen Waffen muss deshalb eine "terroristische Großlage" in der Tat so weitgehend sein, dass eine ungewöhnliche Ausnahmesituation anzunehmen ist. Die wird dann allerdings durch die Bundesregierung und die Länder definiert. Entscheidend ist dabei, dass die Bundeswehr in solchen Fällen nicht eigenständig handeln kann – sondern immer nur auf Anforderung und damit auch unter dem Befehl des jeweiligen Bundeslandes (oder mehrerer Länder), das die Streitkräfte zur Unterstützung anfordert. Was Soldaten konkret tun sollen, entscheidet also nicht ein militärischer Kommandeur, sondern der zivile Einsatzleiter der Polizei oder des Landesinnenministeriums.

Bei der Erstellung des "Weißbuches zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr", das sicherheitspolitische Grundlagendokument der Bundesregierung aus dem Jahr 2016, hatte die Union diese Bestimmungen ausweiten und den Einsatz der Streitkräfte zur Terrorbekämpfung leichter ermöglichen wollen. Das scheiterte jedoch am Koalitionspartner SPD. Im Weißbuch wurde dann als Kompromissformulierung vereinbart: "Ausdrücklich zugelassen in Artikel 35 Absatz 2 Satz 2 und Absatz 3 des Grundgesetzes ist der Einsatz der Streitkräfte im Innern zur Hilfe bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen (Katastrophennotstand) auf Anforderung eines Landes oder auf Anordnung der Bundesregierung. Das Vorliegen eines besonders schweren Unglücksfalls kommt auch bei terroristischen Großlagen in Betracht. Durch das Bundesverfassungsgericht wurde dabei bestätigt, dass die Streitkräfte zur Unterstützung der Polizeikräfte bei der wirksamen Bekämpfung des Unglücksfalls unter engen Voraussetzungen auch hoheitliche Aufgaben unter Inanspruchnahme von Eingriffs- und Zwangsbefugnissen wahrnehmen können."

Erlaubtes will geübt sein

Die Möglichkeiten, die Bundeswehr bei Katastrophen, vor allem bei Terroranschlägen, innerhalb Deutschlands einzusetzen, sollen also nicht ausgeweitet werden. Aber was bereits jetzt erlaubt ist, soll auch geübt werden – denn aufseiten der Länder und der Polizei, aber auch aufseiten der Bundeswehr, herrscht ziemliche Unklarheit, was möglich ist und was nicht. Auch die Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen sind nicht eingespielt.

Eine erste solche Übung unter dem Namen GETEX (Gemeinsame Terrorismusabwehr-Exercise) fand im Februar 2017 statt. Mehrere sowohl unions- als auch SPD-regierte Bundesländer probten das Zusammenspiel mit der Bundeswehr in einem Szenario, bei dem die Polizei durch zeitgleiche Terrorangriffe in mehreren Städten an ihre Grenzen kam. Die Übung fand nur in den Lagezentren und am Computer statt, es wurden – bis auf kleinere Tests vor Ort – weder Polizisten noch Soldaten in Marsch gesetzt.

Allerdings, so zeigte sich bei dieser Übung, bestand der Bedarf der Länder an Hilfe der Bundeswehr vor allem in herkömmlicher technischer Amtshilfe. Nach Angaben von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen wurde die Bundeswehr 46 mal um Unterstützung gebeten – davon in 30 Fällen um rechtlich unstrittige Hilfe wie den Transport von Verletzten oder die Entschärfung von Sprengsätzen; in 16 Fällen um einen Einsatz von Soldaten für hoheitliche Aufgaben. Die Bundeswehr habe etliche dieser Anträge ablehnen müssen: Baden-Württemberg hatte den Einsatz des Bundeswehr-Kommandos Spezialkräfte (KSK) für eine Geiselbefreiung angefordert, obwohl ein Sondereinsatzkommando der Polizei das übernehmen konnte. Auch die Anfrage Bayerns, Soldaten für den Objektschutz vor Konsulaten bereitzustellen, wurde aus rechtlichen Gründen abgelehnt.

Ausblick

Der Einsatz bewaffneter Soldaten im Inland ist zwar seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2012 wahrscheinlicher geworden, und angesichts der terroristischen Bedrohung stellt sich die Politik auch darauf ein, auf diese Möglichkeit zurückzugreifen. Doch in Deutschland werden wir auch auf absehbare Zeit nicht wie in Frankreich und anderen europäischen Ländern Soldaten in Tarnuniform und mit Sturmgewehr durch die Straßen der Großstädte patrouillieren sehen, und vor dem Reichstagsgebäude wird so schnell keine Fallschirmjägerkompanie zur Sicherung aufziehen. Die öffentliche Haltung dazu, vor allem aber die rechtlichen Grenzen, bleiben hierzulande andere als in unseren Nachbarstaaten.

Hinzu kommt: Der Bundeswehreinsatz im Innern wird nicht allein durch Recht und Grundgesetz begrenzt. Die deutschen Streitkräfte sind in den vergangenen Jahren weiter reduziert worden. Allein seit dem Großeinsatz der Soldaten beim Hochwasser an der Elbe 2013 ist die Truppe um 15.000 Männer und Frauen geschrumpft. Und auch die Zahl der Standorte ist deutlich verringert worden. Als Verteidigungsministerin von der Leyen beim Amoklauf in München 2016 vorsorglich Bundeswehrsoldaten in Alarmbereitschaft versetzte, richteten sich einige von ihnen auf einen langen Anmarsch ein: Von Stetten am kalten Markt in Baden-Württemberg wären die Soldaten mehr als 200 Kilometer unterwegs gewesen.

Dennoch wird die Debatte über den Bundeswehreinsatz im Innern weitergehen – und der Verlauf wird nicht zuletzt vom Ausgang der Bundestagswahl 2017 abhängen. Bereits im Januar 2017, noch vor der Prüfung der Zusammenarbeit von Bundeswehr und Polizei im Rahmen der GETEX-Übung, hatte die Bayerische Staatsregierung einen erneuten Vorstoß zur Änderung des Grundgesetzes erwogen: Der Einsatz der Streitkräfte im Innern sollte ausdrücklich zur Terrorbekämpfung erlaubt werden. Solche Pläne stoßen derzeit nicht zuletzt beim Koalitionspartner SPD auf Widerstand. Nach GETEX wandte sich zum Beispiel der sozialdemokratische Innensenator Bremens, Ulrich Mäurer, ausdrücklich gegen eine Übung, bei der Soldaten auch praktisch den Einsatz unter den geltenden rechtlichen Bestimmungen erproben sollten: "Es ist nicht unsere Aufgabe, die Bevölkerung zu verunsichern." Nach der Wahl könnte eine Neuauflage der Großen Koalition bei einer stärkeren Union die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Befürworter einer Ausweitung der Möglichkeiten für einen Bundeswehreinsatz im Inland verschieben. Andererseits würde sowohl eine Koalition aus Union und FDP ebenso wie eine Regierung unter Beteiligung der Grünen und Linken nach deren öffentlichen Aussagen kaum dazu neigen, die Befugnisse der Streitkräfte im Inland auszuweiten.

Allerdings dürfte die politische Debatte auch davon abhängen, wie die Terrorgefahr in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Deutschland ist trotz des Anschlags mit einem Lastwagen auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 von größeren und vor allem zeitgleichen verteilten Terrorangriffen bislang verschont geblieben. Wenn solche Terrorakte nach dem Vorbild der Anschläge in Paris oder in Brüssel auch hierzulande stattfinden, könnte diese Wahrnehmung sich grundlegend verändern – und auch die Voraussetzungen für eine Ausweitung des Rahmens für Bundeswehreinsätze im Inland schaffen.

ist Journalist. Zu seinen Themenschwerpunkten Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, Militär und Bundeswehr schreibt er auf seinem Blog "Augen geradeaus!". Externer Link: http://augengeradeaus.net