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Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern aus ethnologischer Perspektive | Geschlechtsidentität | bpb.de

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Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern aus ethnologischer Perspektive

Susanne Schröter

/ 16 Minuten zu lesen

Ob zwei oder mehr Geschlechter anerkannt werden, ist vom jeweiligen kulturellen Kontext abhängig. In vielen Gesellschaften, vor allem außerhalb Europas, unterscheiden sich Geschlechterkonstruktionen von den uns bekannten Mustern.

Einleitung

Was einen Mann oder eine Frau ausmacht, ob zwei oder mehr Geschlechter anerkannt werden, inwieweit Körper, Sexualität und soziale Rollen als konstitutiv für Geschlecht gelten - all dies ist vom jeweiligen kulturellen Kontext abhängig und unterliegt Prozessen des kulturellen Wandels. In vielen Gesellschaften, vor allem außerhalb Europas, unterscheiden sich Geschlechterkonstruktionen und auch die Grenzverläufe zwischen den Kategorien "Mann" und "Frau" von den uns bekannten Mustern, gibt es temporäre oder auch dauerhafte Alternativen zu geschlechtlicher Eindeutigkeit, die als "drittes Geschlecht" bekannt wurden. Anhand einiger prominenter Beispiele sollen im Folgenden die Besonderheiten, aber auch die Gemeinsamkeiten des Phänomens erläutert werden.

Hijras und khusras

Zu den bekanntesten Formen des dritten Geschlechts gehören die indischen hijras, die in vielen lokalen Diskursen als Intersexuelle bezeichnet und mit einer vergangenen göttlichen Ordnung in Verbindung gebracht werden, von der man annimmt, dass sie ungleich besser war als die Gegenwart, weil sich die Gegensätze der Welt noch nicht herausgebildet hatten. Hijras gelten als mit übernatürlichen Kräfte begabt, die sie zum Guten oder zum Bösen einsetzen können. Eine ihrer vornehmsten Aufgaben besteht darin, Neugeborene zu segnen und die Kontinuität menschlicher Fruchtbarkeit zu sichern. Zu diesem Zweck besuchen sie Familien, in denen gerade ein Kind geboren wurde, tanzen, singen und führen Imitationen der Geburtsszene auf. Religiöse Handlung und Entertainment gehen dabei Hand in Hand. Für ihre Dienste erhalten sie Naturalien und Geld. Wie sehr diese Entlohnung im Vordergrund der Aktivitäten der hijras steht, wird daran ersichtlich, dass es auf solchen Festen häufig zu Streitigkeiten über die Höhe der Bezahlung kommt und dass hijras nicht nur auf Einladung einer Familie erscheinen. Sie ziehen eigenständige Erkundungen über zu erwartende Entbindungen ein und kommen, wenn eine Einladung ausbleibt, auf eigene Initiative. Diejenigen, die den bezahlten Segen verweigern, bedrohen sie mit einem Fluch. Säuglinge mit unbestimmtem Geschlecht sollen, so sagt man, von den hijras als ihresgleichen mitgenommen und in ihren Gemeinschaften aufgezogen werden.

Entgegen dieser idealisierten Konzeption spirituell begnadeter Intersexueller werden die meisten hijras allerdings nicht mit uneindeutigem, sondern mit eindeutig männlichem Geschlecht geboren. Sie sind Homosexuelle oder Transsexuelle, die hijras werden, da die indische Gesellschaft sexuelle männliche Devianz nur in dieser Form akzeptiert. Einige von ihnen lassen sich kastrieren. Die Ethnologin Serena Nanda vergleicht die kastrierten hijras mit dem Gott Shiva, der sich selbst kastrierte und seinen zur Erde geschleuderten Phallus zu einem reinen Symbol der Fruchtbarkeit transformierte. Ob entmannt oder intersexuell, hijras haftet in jeder der beiden Formen ein Aspekt des Göttlichen an: Sind sie Intersexuelle, so gelten sie von Natur aus mit dem Heiligen gezeichnet und stehen der Göttin nahe; sind sie Männer, so bringen sie sich selbst zum Opfer und symbolisieren die vollkommene Hingabe.

Aller Heiligkeit zum Trotz ist der Alltag der hijras durch ein Leben am Rand der Gesellschaft gekennzeichnet. In der Vergangenheit dienten sie als Haremswächter, Ratgeber und Narren an den Höfen der Mogule, und es war ihnen erlaubt, obszöne und beleidigende Reden zu führen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Auch heute noch ist ihr gesamtes Auftreten burlesk, provokativ und strotzt vor sexuellen Anspielungen. Da mit Segnungen allein der Lebensunterhalt nicht bestritten werden kann, arbeiten hijras primär als aggressive Bettler und Prostituierte und drohen damit, ihr unverhülltes kastriertes Genital zu entblößen, wenn man ihnen die geforderten Almosen verweigert. Ihre Gemeinschaften, stets unter Führung eines Gurus, gleichen organisierten Bordellbetrieben, in denen Ausbeutungsstrukturen vorherrschen und die Führerinnen sich auf Kosten der anderen Mitglieder bereichern.

Obwohl der religiöse Hintergrund des Phänomens gern in den Vordergrund gestellt wird, ist die Motivation, hijra zu werden, nur selten religiös begründet. In einem eindrucksvollen Dokumentarfilm hat Michael Yorke einige hijras über einen längeren Zeitraum beobachtet und herausgearbeitet, dass sich in dieser Institution ein gesellschaftlich akzeptiertes Lebensmodell für männliche Homosexualität verbirgt, für das in der konservativen indischen Gesellschaft kein Platz ist. Dies gilt allerdings nur für Homosexuelle, die einen weiblichen Part für sich beanspruchen, Personen, die wir in unserem Kategoriensystem als Mann-zu-Frau-Transsexuelle bezeichnen. Für sie stellt die Gemeinschaft der hijras einen Schutzraum oder sogar eine neue Familie dar, die einen Ersatz für das Zuhause bietet, dass sie verlassen mussten. Hier können sie ihre Vorliebe für weibliche Kleidung und Make-up ausleben, eine neue Identität und einen angemessenen Rahmen für ihre erotischen Passionen finden. Häufig definieren sie ihre Entmannung auch als Beweis ihrer Hingabe an ihren männlichen Geliebten - für den sie ganz Frau sein wollen - und erwarten im Gegenzug für ihr Opfer seine Treue. Das angestrebte Ideal orientiert sich an der heterosexuellen Beziehung, und manche hijras adoptieren sogar Kinder, für die sie die Rolle einer Mutter übernehmen.

Obgleich das Phänomen der hijras im hinduistischen Kontext angesiedelt ist, hat die Religion keine konstituierende Funktion. Es gibt nämlich ein pakistanisch-muslimisches Äquivalent, das khusra genannt wird. Wie von hijras erzählt man sich von khusras, sie wären eigentlich Intersexuelle und würden intersexuelle Babys von deren Eltern fordern und in ihre Gemeinschaften integrieren. Die Anthropologin Hanya Rais bestreitet den Wahrheitsgehalt solcher Erzählungen und reduziert das Phänomen auf eine homosexuelle Subkultur. Khushras seien "individuals in whose male bodies a female spirit is trapped". Die Idealisierung der Intersexualität produziert eine eigene Hierarchie innerhalb der khusra-Subkultur, an deren Spitze, nach Rais, diejenigen stehen, die sich dem Kastrationsritual unterzogen haben, während khusras, die noch nicht kastriert sind, oder temporäre Homosexuelle (zenanas) als weniger rein gelten. Wie hijras begründen khusras das Besondere ihrer Existenz mit religiösen Erklärungen, denen zufolge das intermediäre Geschlecht, das weder Mann noch Frau sei, vor Gott privilegiert würde. Khusras behaupten, ihre Vorfahren hätten das Grab des Propheten Mohammed gepflegt; sie sind häufig Anhänger lokaler Heiligenkulte und praktizieren eine mystisch ausgerichtete Form des Islam. Wegen ihrer Frömmigkeit - viele wohlhabende khusras haben eine Pilgerreise nach Mekka unternommen - und ihrer guten Werke werden sie von der Bevölkerung, mit der sie leben, geachtet.

Die positive Konnotation des Intersexualismus, des Weder-Mann-noch-Frau-Seins, geht sowohl bei hijras als auch bei khusras auf spezifische religiöse Vorstellungen zurück, die entweder auf lokale Kulte beschränkt sind oder, wie im Hinduismus, Anschluss an verschriftlichte Ideen über das göttliche Pantheon gefunden haben. Dabei steht entweder die natürliche geschlechtliche Uneindeutigkeit mit der Konnotation des Zeichens als Auserwählte oder das Opfer im Vordergrund. In beiden Fällen fungiert das religiös legitimierte Muster als Vorlage für geduldete erotische Passionen, seien sie primär homosexuell oder transvestitisch, die in der jeweiligen Gesellschaft unterdrückt werden. Die Institution der hijras und khusras ist somit kein Zeichen von Liberalismus oder gar der Nicht-Existenz einer rigiden Geschlechterordnung, sondern ein Ventil für diejenigen, die aufgrund ihrer Biologie oder ihres devianten Begehrens aus dem vorgegebenen starren Rahmen herausfallen.

Two spirits

Ähnliches gilt für die indigenen Gesellschaften des nördlichen Amerikas, bei denen die Institution des dritten Geschlechts seit dem 16. Jahrhundert überliefert ist. Soldaten der kolonialen Armeen, Missionare, Siedler und Handelsreisende berichteten immer wieder über sogenannte Sodomiten, Mannweiber und Weibmänner, für die sich im 19. Jahrhundert der Sammelbegriff berdache durchsetzte. Aufgrund der problematischen Implikationen wurde er Ende des 20. Jahrhunderts von indianischen Aktivistinnen und Aktivisten kritisiert, und die Bezeichnung two spirit setzte sich durch. Ähnlich wie bei den hijras gibt es auch in vielen indianischen Gesellschaften Mythen, die auf einen idealisierten doppelgeschlechtlichen Zustand verweisen. Dies gilt beispielsweise für die Zuni im Nordwesten der USA. Sie verehren das Geistwesen Kolhamana, das aus der inzestuösen Verbindung eines Geschwisterpaares entstanden sein soll. Kolhamana erinnert an eine vorkulturelle Zeit, in der die Menschen als noch "ungekocht" galten. Als Mann/Frau sei er/sie wie ein Maiskolben mit zwei Herzen, sagen die Zuni, das Zweifache einer Art und daher ein vollkommenes Wesen. Die lebenden Manifestationen Kolhamanas waren die ihamanas, Personen, die männliche und weibliche Attribute auf sich vereinigen konnten. Die bekannteste ihamana des 20. Jahrhunderts war We'wah, die eine langjährige Freundschaft mit der Ethnologin Mathilda Coxe Stephenson unterhielt und in mehreren Publikationen verewigt wurde. We'wah pendelte Zeit ihres Lebens zwischen den Geschlechtern, war einerseits Mitglied eines religiösen Männerbundes und beteiligte sich wie ein Krieger an gewaltsamen Auseinandersetzungen, trug andererseits Frauenkleidung und verrichtete weibliche Arbeiten. Nach ihrem/seinen Tod wurde sie/er mit Frauenkleidung und Männerhose beerdigt.

Entscheidend für die Annahme eines "dritten Geschlechts" war in indianischen Gemeinschaften allerdings nicht nur die sexuelle Präferenz, sondern eine generelle "Tätigkeitspräferenz". Two spirits strebten die soziale Rolle des anderen Geschlechts an, dessen Position im Arbeitsprozess und in der Familie, in der Politik und im Krieg. Wenn ein Kind dadurch auffiel, dass es sich nicht der dem biologischen Geschlecht entsprechenden sozialen Rolle verhielt, wenn ein Junge am liebsten mit Mädchen spielte, und ein Mädchen sich kämpferisch und wild gebärdete, dann galt dies in den meisten indianischen Gesellschaften als Hinweis auf eine mögliche Bestimmung zu einer nicht-stereotypen Geschlechterrolle.

Ein expliziter Verweis auf Doppelgeschlechtlichkeit ist in der Figur der nádleehé der Navajo enthalten, "jemand, der/die sich in einem ständigen Prozess des Wandels befindet". Ein nádleehé konnte ein Hermaphrodit sein oder ein Mensch, der sich aus eigenem Antrieb für ein ambivalentes Geschlecht entschied. Hermaphroditen galten den Navajo dabei als die Urform oder das Original aller nádleehé, während man von allen anderen als von denjenigen sprach, "die vorgeben, nádleehé zu sein". Ausschlaggebend für die Wahl einer nádleehé-Rolle war eine Tätigkeitspräferenz, so dass man die nádleehé, die keine Hermaphroditen waren, zusätzlich unterschied. Der Anthropologe Thomas Wesley spricht daher von fünf verschiedenen Geschlechterrollen der Navajo: Männer, Frauen, Hermaphroditen, weibliche nádleehé (womanly male) und männliche nádleehé (manly female).

Eine spezifische Form von Geschlechtsrollenüberschreitung für Frauen, die sowohl temporär als auch dauerhaft sein konnte, war die Kriegerinnentradition der manly-hearted women bei den Plains-Indianern. Die Mehrheit dieser Kämpferinnen wechselte aber nicht ihr Geschlecht, sondern bewegte sich lediglich erfolgreich im männlichen Terrain. Sie begleiteten Ehemänner, Brüder und Väter oder wurden vom Wunsch nach Rache eines Familienmitglieds in den Kampf getrieben. Wenn sie sich dort unerschrocken zeigten und sich vielleicht sogar durch das Töten eines Feindes einen Namen machten, nannte man sie manly-hearted, da man von einer Frau, der binären Geschlechterkonstruktion entsprechend, Furchtsamkeit erwartete. Manly-hearted women waren anerkannt und hoch geachtet, weil sie sich dort bewährt hatten, wo Männer Prestige erwerben. Ihre Identität als Frau sowie ihr soziales Geschlecht wurde von diesen Auszeichnungen nicht zwangsläufig tangiert. Allerdings gab es auch Ausnahmen, die eine vollständige männliche Identität annahmen und als Mann Frauen heirateten.

Wie im südasiatischen Kontext tangierte das Phänomen des dritten Geschlechts auch bei nordamerikanischen Indianern keinesfalls die heterosexuelle Norm, sondern bestätigte diese vielmehr. Homosexualität war verpönt, und sexuelle Kontakte waren nur zwischen Personen erlaubt, die als gegengeschlechtlich identifiziert waren. Traditionelle indianische dritte Geschlechter gehören weitgehend der Vergangenheit an, was nicht zuletzt auf den Einfluss von Kolonisatoren, Missionaren und einer Abwertung durch die hegemoniale weiße Kultur zurückzuführen ist. Trotz dieser Umstände erlebt das Phänomen derzeit eine politische Renaissance, auch motiviert durch indianische ethnologische Forschung und den Einfluss der panindianischen Schwulen- und Lesbenbewegung, die sich um Abgrenzung zur weißen urbanen Schwulen- und Lesbenkultur und die Rückbesinnung auf eine homosexuelle indianische Kultur bemüht. Letzteres stellt die Aktivistinnen und Aktivisten vor eine Reihe schwer lösbarer Probleme, von denen die traditionelle indianische Homosexuellenfeindlichkeit sicherlich die gravierendste ist. Homosexuelle Indianer und Indianerinnen bewegen sich heute weitgehend außerhalb dieses Rasters; sie sind urban sozialisiert und orientieren sich an der weißen Schwulen- und Lesbenbewegung. In ihren Familien und in den lokalen indianischen Kommunen werden sie deshalb mit Ablehnung und Diskriminierung konfrontiert.

Geschworene Jungfrauen

Die überwiegende Anzahl aller Phänomene des dritten Geschlechts betreffen Personen, die als Mann-zu-Frau-Wechsler bezeichnet werden kann. Nur in Ausnahmefällen übernehmen Frauen männliche Identitäten und Rollen. Daher ist das Beispiel der "geschworenen Jungfrauen" des südlichen Balkans ein ganz besonderes. Es handelt sich um Personen weiblichen Geschlechts, die einen männlichen Habitus pflegen und in ihrer männlichen Rolle von der Gesellschaft anerkannt werden. Geschworene Jungfrauen besitzen einen männlichen Namen, tragen männliche Kleidung, einen männlichen Haarschnitt, rauchen und trinken. Sie gehen ausschließlich "männlichen" Tätigkeiten wie pflügen, Holz hacken oder Heu machen nach, tragen Waffen und nehmen an Jagden und kriegerischen Handlungen teil. Ihre Verhaltensweisen entsprechen dem albanischen Männlichkeitsstereotyp, und man findet sogar ausgesprochene Mysogynisten.

Häufig haben sich die "geschworenen Jungfrauen" ihr Schicksal als Mann nicht selbst ausgesucht, sondern sind, nach dem Tod des Vaters oder Bruders oder schlicht weil sie die einzigen Erben eines Hauses waren, in diese Rolle hineingedrängt worden. Der Hintergrund eines solchen sozialen Geschlechtswechsels ist die patriarchale albanische Gesellschaftsordnung, die auf einer strengen geschlechtlichen Arbeitsteilung und der Vorrangstellung des Mannes basiert. Da die Aufgaben im Haus und auf dem Feld geschlechtsspezifisch definiert werden, ist es für Frauen wie für Männer unmöglich, alleine zu leben. Wenn eine Frau fehlt, hilft jemand aus der Verwandtschaft aus, doch ein Mann lässt sich nicht so leicht ersetzen. Er muss die Familie nach außen vertreten, muss in Konflikten Stärke demonstrieren, die Ehre der weiblichen Mitglieder des Hauses verteidigen und Angriffe gegebenenfalls mit der Waffe in der Hand zurückschlagen. Interessanterweise verbindet man die maskulinen Qualitten Stärke, Aggression, Mut und die Bereitschaft, im Kampf zu sterben, nicht mit einem spezifisch männlichen oder weiblichen Körper. So lange genügend Männer zur Verfügung stehen, ist es keine Frage, wer diese Aufgaben übernimmt, doch im Bedarfsfall traut man einer biologischen Frau durchaus zu, als vollwertiger Mann zu agieren.

Dennoch muss man jedwede Idealisierung eines problemlosen Geschlechts(rollen)wechsels infrage stellen. "Geschworene Jungfrauen" sind keine wirklichen Männer, sondern eben Jungfrauen, eine besondere Gattung der Zwischen-den-Geschlechtern-Stehenden. Die Begriffe muskobanja, "männliche Frau", zena covjec, "Frau-Mann", oder momak djevojka, "Mädchen-Junge", verdeutlichen dies. Meist nennt man sie jedoch tobelija, "die einen Schwur abgelegt haben", den Schwur nämlich, niemals zu heiraten oder eine sexuelle Beziehung einzugehen. Tobelija verharren in einem intermediären Status zwischen den Geschlechtern. Eine männliche Funktion bleibt ihnen immer versagt: die physische Reproduktion der Familie und eine eigene Sexualität. Offizielle Verlautbarungen betonen, dass diesbezügliche Vergehen mit dem Tod geahndet werden, doch nach dem Anthropologen René Grémaux soll es in der Praxis vorgekommen sein, dass "geschworene Jungfrauen" sich von ihrem Status verabschiedet und geheiratet haben. Ungeklärt ist, ob lesbische Beziehungen möglich sind und der Jungfrauenstand eventuell eine Nische für weibliche Homosexualität darstellt. Kommentierungen weiblicher Attraktivität sind den Jungfrauen im Rahmen ihres männlichen Habitus erlaubt, und Grémaux vermutet, dass die Institution der "Blutsschwesternschaft" ein weiteres Indiz dafür sein könnte. Eine soziale Alternative für eine traditionelle weibliche Lebensweise scheint die Jungfrauenschaft auf jeden Fall zu sein, denn entgegen der üblichen Rechtfertigungsnarrative sind nicht alle tobelija das Produkt eines familiären Männermangels. Einige haben sich für die Rolle der Jungfrau entschieden, um einer unliebsamen Heirat zu entgehen, andere, weil sie die weibliche Rolle ablehnen. Die Institution der tobelija macht solche Subversionen möglich, ist aber, darüber besteht in der Forschung kein Zweifel, keine institutionalisierte Nische für weibliche Rebellinnen. Der vornehmliche Zweck ist vielmehr die Aufrechterhaltung der patriarchalen heterosexuellen Ordnung in Zeiten des Männermangels.

Travestis

Eine Besonderheit "dritter" Geschlechtlichkeit stellen die brasilianischen travestis dar, die vordergründig nicht anders als viele hijras oder two spirits Homosexuelle mit einer weiblichen Identität zu sein scheinen. Der erste Eindruck trügt allerdings. Travestis verwandeln sich nämlich optisch tatsächlich in Frauen. Da sie glauben, dass "richtige" Männer eigentlich heterosexuell sind und Frauen begehren, versuchen sie, nach eigenen Aussagen, Frauen ähnlich zu werden. Zu diesem Zweck führen sie sich Östrogene in hoher Dosierung zu und injizieren Silikon in Brüste, Hüften, Oberschenkel und Po. Bis zu 20 Liter sollen dabei verwendet werden. Das Ergebnis ist ein perfekter weiblicher Körper mit männlichen Genitalien: ein künstlicher Weib-Mann. Travestis sind sehr stolz auf gelungene Ergebnisse, von denen sie behaupten, dass sie besser und vor allem "haltbarer" seien als die weibliche Natur. Auch sozial und sexuell stehen sie in jeder Beziehung zwischen den Geschlechtern.

Travestis klassifizieren sich selbst als bichas oder viados, als Männer, die sich penetrieren lassen und dadurch ihre Männlichkeit verlieren. Den Gegenpol zu viados bilden die homems, Männer, die penetrieren und auf diese Weise ihre Männlichkeit demonstrieren. Homems dürfen niemals die passive Rolle beim Sex einnehmen, wenn sie ihren Status als Mann nicht verlieren wollen, viados dagegen steht es frei, je nach Situation die eine oder die andere Rolle zu spielen. Travestis haben sexuelle Kontakte, in denen sie aktiv und solche, in denen sie passiv sind. Als Prostituierte begegnen sie Kunden, die penetriert werden wollen - und sie kommen diesen Wünschen gerne nach, wenngleich sie die Männer dafür verachten, dass sie keine homems sind. Private Beziehungen gehen sie ausschließlich zu "wirklichen" Männern ein. Eine Geschlechtsumwandlung lehnen sie ab, da sie nicht auf maskuline genitale Lust verzichten wollen. Sie distanzieren sich bewusst von Transsexuellen und verstehen sich eindeutig als Männer, wenngleich innerhalb eines Rasters, das zwischen zwei Klassen unterscheidet: solche, die beim Sex immer penetrieren, und solche, die unterschiedliche Positionen einnehmen. Implizit differenzieren sie Männlichkeit in eine eindeutige und eine uneindeutige Variante.

Travestis belassen ihre Anstrengungen, für homems attraktiv zu wirken, nicht bei der Umgestaltung des Körpers. Sie tragen aufreizende weibliche Kleidung, schminken sich und tragen lange Haare. Im Geschäft der Prostitution zahlen sich diese mimetischen Feminisierungen aus: je weiblicher, desto größer der Verdienst. Vom Verdienst wiederum sind die Chancen abhängig, einen ansprechenden boy friend zu finden. Diese werden regelrecht "eingekauft", mit Geschenken und finanziellen Zuwendungen bedacht und von anderen travestis abgeworben. Ein attraktiver Geliebter ist ein öffentliches Zeichen für wirtschaftlichen Erfolg. In dieser Hinsicht verkörpern travestis das brasilianische Macho-Ideal, wonach der Erfolgreiche die schönsten Frauen für sich monopolisieren kann. Die boy friends, die in der Vorstellung der travestis die eigentlichen Männer darstellen, werden in dieser Hinsicht auf die Stufe von Frauen gestellt, von abhängigen Personen, die dorthin wandern, wo es sich materiell auszahlt, während travestis als die eigentlichen Männer im sozialen Sinn agieren. Auch im Hinblick auf ihre viado-Kunden gebärden sich travestis alles andere als feminin: Sie sind brutal, gewalttätig und haben einen zweifelhaften Ruf als Beischlafräuber. Ihre Weiblichkeit reduziert sich auf den perfekt modellierten Körper, die Befolgung des Diktats der Mode und ein hegemoniales Stereotyp sexueller Praxis. Nimmt man die Selbstinszenierung der travestis in der Gesamtheit ihrer physischen, sozialen, emotionalen und sexuellen Aspekte, so ergibt sich ein Bild, das in jeglicher Hinsicht auf einer Kombination weiblicher und männlicher Attribute beruht - eine perfekte intersexuelle Konstruktion.

Resümee

Die vorgestellten Beispiele zeigen, dass Geschlecht und Geschlechtsidentität keineswegs ein universales Muster bildet, das sich biologisch fundieren ließe. Vielmehr existiert eine Vielfalt von Zwischenformen und Kombinationen zwischen den Polen eines Männlichen und eines Weiblichen, wobei auch diese Kategorien keineswegs eindeutig definiert werden. In der wissenschaftlichen Debatte wird die Existenz von drei oder mehr Geschlechtern häufig als Indikator für eine liberale Geschlechterordnung definiert, die man der vermeintlich repressiveren Ordnung westlicher Gesellschaften entgegensetzt. Das lässt sich allerdings empirisch nicht bestätigen. Die Existenz des dritten Geschlechts bestätigt vielmehr häufig explizit ein hegemoniales System heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit, welches Homosexuelle zwingt, ihr Geschlecht zu wechseln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Einige hijras sind weder kastriert noch intersexuell. Nach dem Soziologen A. M. Shah werden sie jedoch als Fälschungen (fake) eingestuft. Vgl. A.M. Shah, A note on the hijras of Gujarat, in: American Anthropologist (AA), 63 (1961), S. 1325-1330.

  2. Vgl. Serena Nanda, Gender diversity. Crosscultural variations, Prospects Heights 2000, S. 31.

  3. Vgl. Kira Hall, "Go and suck your husband's sugarcane!" Hijras and the use of sexual insults, in: Anna Livia/Kira Hall (eds.), Queerly phrased. Language, gender, and sexuality, Oxford 1997, S. 432ff.; Naqvi Nauman/Hasan Mutjaba, Two Baluchi buggas, a Sindhi zenana, and the status of hijras in contemporary Pakistan, in: Stephen O. Murray/Will Roscoe (eds.), Islamic homosexualities. Culture, history, and literature, New York 1997, S. 265.

  4. Vgl. Michael Yorke, Eunuchs - India's third gender. Video, BBC, London 1991. Vgl. auch George M. Carstairs, Hijras and Jiryan. Two derivatives of Hindu to sexuality, in: British Journal of Medical Psychology, 29 (1959), S. 128-138.

  5. Hanya Rais, The socio-economic organization of the khusra community of Rawalpindi, unveröff. Diss., Quaid-e-Azam Universität, Islamabad 1993, S. 28.

  6. Vgl. Jonathan N. Katz, The invention of heterosexuality, New York 1995.

  7. Der Begriff geht auf das persische barah = Lustknabe zurück. Vgl. Henry Angelino/Charles L. Shedd, A note on berdache, in: AA, 57 (1955) 1, S. 121-126.

  8. Vgl. Elsie C. Parsons, The Zuni La'mana, in: AA, 18 (1916) 4, S. 521-28; dies., The last Zuni transvestite, in: AA, 41 (1939), S. 338-340; Mathilda C. Stephenson, The Zuni Indians. Their mythology, esoteric fraternities, and ceremonies, in: Twenty-third Annual Report of the Bureau of American Ethnology 1901-1902, Washington 1904, S. 1-608.

  9. Vgl. u.a. Sabine Lang, Männer als Frauen - Frauen als Männer: Geschlechtsrollenwechsel bei den Indianern Nordamerikas, Hamburg 1990; Lüder Tietz, Crooked circles and straight lines, in: Susanne Schröter (Hrsg.), Körper und Identität. Ethnologische Ansätze zur Konstruktion von Geschlecht, Münster 1998, S. 101-130.

  10. Sabine Lang, Wer oder was ist eigentlich homosexuell?, in: Sabine Strasser/Gerlinde Schein (Hrsg.), Intersexions. Feministische Anthropologie zu Geschlecht, Kultur und Sexualität, Wien 1997, S. 67-109, hier: S. 82.

  11. Willard W. Hill, The Status of the Hermaphrodite and Transvestite in Navaho Culture, in: AA, 37 (1935), S. 273-279, hier: S. 273.

  12. Vgl. Thomas Wesley, Navajo cultural constructions of gender and sexuality, in: Sue-Ellen Jacobs/ders./Sabine Lang (eds.), Two-spirit people. Native American gender identity, sexuality, and spirituality, Urbana 1997, S. 156-173., hier: S. 160.

  13. Vgl. Claude E. Schaefer, The Kutenai female berdache: courier, phrophetess, and warrior, in: Ethnohistory, 12 (1965), S. 225ff.

  14. Vgl. S. Lang (Anm. 10), S. 74.

  15. Vgl. René Grémaux, Woman becomes man in the Balkans, in: Gilbert H. Herdt (ed.), Third sex, third gender. Beyond sexual dimorphism in culture and history, New York 1994, S. 271.

  16. Vgl. ebd., S. 270.

  17. Vgl. ebd., S. 271.

  18. Vgl. Antonia Young, Women who become men. Albanian sworn virgins, Oxford 2000, S. 72.

  19. Vgl. Andrea Cornwall, Gendered identities and gender ambiguity among travestis in Salvador, Brazil, in: dies./Nancy Lindisfarne (eds.), Dislocating masculinity. Comaparative ethnographies, London 1994, S. 111-132; James N. Green, Beyond carnival. Male homosexuality in twentieth-century Brazil, Chicago 1999; Don Kulick, Travesti. Sex, gender and culture among Brazilian transgendered prostitutes, Chicago 1998.

Dr. phil., geb. 1957; Professorin für "Ethnologie kolonialer und postkolonialer Ordnungen", Institut für Ethnologie, Goethe-Universität Frankfurt, Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt/M. E-Mail Link: s.schroeter@em.uni-frankfurt.de