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Erinnerung und Fiktion

Sandra Nuy

/ 15 Minuten zu lesen

Er wolle keine "Geschichtsstunde" geben, sondern die Geschichte auf seine eigene Weise erzählen, lautete die Erklärung von Regisseur Quentin Tarantino für seinen eher laxen Umgang mit der Faktizität historischer Zeitläufe. In seinem Film "Inglourious Basterds" (2009) erfand er die Vergangenheit neu und ließ Hitler samt Entourage einem Attentat zum Opfer fallen. Spätestens seither ist es unübersehbar, dass der Nationalsozialismus zugleich als eine historische Tatsache und als eine von dieser Wirklichkeit abweichende Erzählung gelten muss. Dieses Nebeneinander von history und story, Geschichte und Erzählung, beeinflusst die Weitergabe gesellschaftlich relevanten Wissens. Nachfolgende Generationen stehen nicht nur dem historiografisch rekonstruierten Geschehen gegenüber, sondern auch der Möglichkeitsform fiktionaler Erzählungen. Und nicht zuletzt angesichts des nahenden Endes der Zeitzeugenschaft schickt sich die mediale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in verschiedenen Genres an, die Weitergabe unmittelbarer Erfahrung abzulösen.

Dieser Prozess ist allerdings keine ganz neue Entwicklung. "Erfundene Erinnerungen" in verschiedenen Künsten und Medien spielen über die Jahre eine so zentrale Rolle in der gesellschaftlichen Selbstverständigung über die Bewertung der Zeit zwischen 1933 und 1945, dass mit einigem Recht bereits von einer "zweiten Geschichte" des Nationalsozialismus die Rede ist. Diese medial vermittelte Erinnerungsarbeit zeitigt jedoch auch einen visuellen und narrativen "Holocaust-Konformismus" (Imre Kertész), sodass die Überlebenden und ihre persönlichen Erinnerungen hinter den Erzählungen und Bildern, die über ihre Erlebnisse zirkulieren, zu verschwinden drohen.

Insofern, als dass die fiktionale Aufbereitung von Nationalsozialismus und Holocaust seit Jahrzehnten trotz aller kulturkritischen Einwände verlässlich ein Massenpublikum findet, stellt sich die Frage, was fiktionale Narrationen für die kollektive Erinnerung leisten können. Welche Vorteile bietet eine Fiktionalisierung und wo liegen die Grenzen des Erzähl- und Darstellbaren? Und: In welchem Verhältnis stehen Erzählung und Erinnerung? Diese Fragen sollen im Folgenden in drei Schritten diskutiert werden, Film und Fernsehen stehen dabei im Mittelpunkt der Darstellung. Zunächst werden in aller Kürze theoretische Überlegungen zu Medien des Erinnerns skizziert, um zweitens ausgewählte Ereignisse der "zweiten Geschichte" abzubilden und anhand der Beispiele aufzuzeigen, welche Vor- und Nachteile eine Fiktionalisierung von Vergangenheit bietet. Da der Vorgang des Erinnerns häufig als Rahmen für die Erzählung dient, soll schließlich drittens Erinnerung als Handlungsmaxime und dramaturgisches Prinzip innerhalb der Fiktion betrachtet werden.

Medien des Erinnerns

Im Zentrum gesellschaftlicher Erinnerung stehen Inhalt, Ausdruck und Weitergabe von kollektiv geteiltem Wissen; Gedächtnis kann also als "kollektive symbolische Konstruktion" gesehen werden. Doch ein kollektives Gedächtnis vermag nicht ohne das individuelle Gedächtnis auszukommen, und so konturiert die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann Gedächtnis als dreidimensionale Figur: Das individuelle Gedächtnis als neuronales Netzwerk im menschlichen Gehirn ist verknüpft mit kommunikativen Praktiken und somit sozial gerahmt und in einer weiteren Dimension kulturell codiert. „Während das soziale Gedächtnis eine durch Zusammenleben, sprachlichen Austausch, und Diskurse hervorgebrachte Koordination individueller Gedächtnisse ist, beruht das kollektive und kulturelle Gedächtnis auf einem Fundus von Erfahrung und Wissen, der von seinen lebendigen Trägern abgelöst und auf materielle Datenträger übergegangen ist.

Auch Medien des fiktionalen Erzählens tragen zur Speicherung und Zirkulation von Wissen bei. Aus Studien des Sozialpsychologen Harald Welzer ist bekannt, dass für die Schilderung individueller Erlebnisse auf Erzählmodelle des Spielfilms zurückgegriffen wird. Um Kriegserinnerungen für die Zuhörerschaft dramaturgisch möglichst wirksam zu gestalten, richten nicht wenige Veteranen ihre Berichte an narrativen Grundmustern und Schlüsselszenen populärer Filme aus. Umgekehrt wird bereits soziales Erleben von eben diesen Medienangeboten geprägt: Kriegsfilme wecken Erwartungen, wie etwa ein Schützengraben auszusehen hat, und im Moment der tatsächlichen Situation wird diese mediale Erfahrung mit den realen Gegebenheiten abgeglichen. Dies geschieht durchaus mit einer gewissen Berechtigung, greift doch der Spielfilm wiederum auf "wirkliche" Erlebnisdarstellungen zurück. Daher gestaltet sich das Verhältnis von Erzählmodellen, Erlebnissen und Erinnerungen recht komplex und ist ähnlich einem Möbiusband ohne Anfang und Ende.

Klar bestimmbar ist allein der Umstand, dass die gesellschaftliche Organisation kollektiver Erinnerung von Technik, Ästhetik und Materialität der genutzten Medien abhängig ist. Diese sind keine neutralen Behältnisse der Aufbewahrung, im Falle des Films nimmt schon die Auswahl von Kameraeinstellung und -perspektive eine Interpretation des Abzubildenden vor. Filmisches Erzählen verdichtet Wirklichkeit zwangsläufig, da eine Auswahl der zu erzählenden Ereignisse getroffen werden muss, wobei sich im besten Fall eine erzählerische Klugheit einstellt, die gepaart ist mit einer Haltung, einem Standpunkt. Geschichten, die im Film über die Vergangenheit erzählt werden, haben – gemessen an Logiken der Alltagswelt – wahrscheinlich zu sein, nicht jedoch notwendig wahr.

Der Film oder, allgemeiner, die Medien schaffen somit nicht nur Räume, in denen die Auslegung von Vergangenheit verhandelt wird, sondern sie nehmen auch Einfluss auf das "Wie" der Erinnerung. "Stimmigkeit und Plausibilität" von persönlichen wie medialen Erzählungen über den Nationalsozialismus werden "zunehmend daran gemessen, inwieweit sie mit dem Bildinventar in Übereinstimmung zu bringen sind, das die Medien bereitgestellt haben".

Der Regisseur Steven Spielberg hat sich diese medial normierte Vergangenheitswahrnehmung zu eigen gemacht, als er sich entschied, "Schindlers Liste" (1993) in schwarzweiß zu produzieren. In einem Interview gab er zu Protokoll: "Wie dürfte ich unsere Erinnerung an den Holocaust dadurch zerstören, daß ich ihn (den Film, S.N.) in Farbe drehe, wo doch alle Zeugnisse schwarzweiß sind."

Claude Lanzmann, der mit seinem Dokumentarfilm "Shoah" (1985) den Erinnerungsdiskurs grundlegend verändert hat, nahm Spielbergs Film zum Anlass für eine öffentliche Intervention und erklärte es für unzulässig, die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden mit den Mitteln der Fiktion in Szene zu setzen: "Der Holocaust ist vor allem darin einzigartig, dass er sich mit einem Flammenkreis umgibt, einer Grenze, die nicht überschritten werden darf, weil ein bestimmtes, absolutes Maß an Gräuel nicht übertragbar ist. Wer es tut, macht sich der schlimmsten Übertretung schuldig. Die Fiktion ist eine Übertretung, und es ist meine tiefste Überzeugung, dass jede Darstellung verboten ist."

Lanzmann positioniert sich mit dem Fiktionalisierungsverbot sehr klar innerhalb des Diskurses über die künstlerische Darstellbarkeit des Zivilisationsbruchs Auschwitz und vertritt eine an Theodor W. Adorno geschulte kritische Denk- und Argumentationstradition, die weder eine künstlerische noch eine mediale Darstellung des Holocaust für zulässig erachtet. Die öffentliche Diskussion erzählerischer Medialisierungen von Nationalsozialismus und Weltkriegsgeschehen ist insgesamt zwar weniger normativ aufgeladen, doch auch hier eröffnet sich ein Spannungsfeld, in dessen Mittelpunkt Fragen der Angemessenheit und Authentizität stehen.

Die Geschichte der Familie Weiss

Ein prominentes Beispiel für die Fiktionalisierung von Auschwitz, an dem sich eine intensive Auseinandersetzung entzündete, ist die amerikanische Fernsehserie "Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss" von Gerald Green (Buch) und Marvin Chomsky (Regie). Die Erstausstrahlung in der Bundesrepublik des Jahres 1979 war ein zäsursetzendes Medienereignis und veränderte auch die Rede über den Massenmord an den europäischen Juden. Sprach man bis dahin in der NS-Terminologie von "Endlösung" oder suchte das nach Adorno Unsagbare mit Umschreibungen zu sagen, so entfernte sich der Titel "Holocaust" (griech.: Brandopfer) alsbald aus seinem medialen Kontext und wurde zum Synonym der Massenvernichtung.

Narrativen Mustern des Melodramas und der Bildsprache Hollywoods folgend sah sich die Serie dem Vorwurf der Trivialisierung ausgesetzt. Die Judenvernichtung als "Seifenoper" darzustellen, sei geschmacklos und entferne das Publikum von dem Ereignis, statt es ihm nahezubringen, so das häufig zitierte Urteil des Schriftstellers Elie Wiesels: "Auschwitz kann nicht erklärt, noch kann es sichtbar gemacht werden."

So stark die intensiv geführte, öffentliche Diskussion im Vorfeld der Ausstrahlung von ästhetischen, politischen und moralischen Vorbehalten geprägt war, so außerordentlich war die Wirkung der Serie beim weltweiten Fernsehpublikum. Dem Historiker und Politologen Julius H. Schoeps galten die Zuschauerreaktionen als "Sensation ersten Ranges". Schoeps war Mitglied der Panel-Redaktion, die im Rahmen der Sendung "Anruf erwünscht" Fragen zu "Holocaust" beantworten sollte, und kam zu dem Schluss, dass die Serie für viele Bundesbürger der "emotionale Einstieg" gewesen sei, die "erste Begegnung mit den fast unvorstellbaren Greueln des NS-Systems".

In Form einer Familiensaga verknüpft "Holocaust" exemplarisch die Lebenswege der Protagonisten mit Stationen der Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden – aber auch mit jüdischem Widerstand. In die Erzählung der fiktiven Schicksale ist historisches Bildmaterial von Aufmärschen und Massenerschießungen montiert. Um die Orientierung zu erleichtern, wird mit einem eindeutigen Gut-Böse-Schema gearbeitet, durch eine Schuldzuweisung an die SS bietet die wenig komplexe Erzählstrategie ein hohes Identifikationspotenzial mit den Opfern. Abstrakte Zahlen werden in den Figuren individualisiert und ermöglichen unterschiedliche Grade an Empathie, so dass die Geschichte der Arztfamilie Weiss für eine bis dato unbekannte Emotionalisierung des Publikums sorgte. Dadurch wurde ein Erinnerungsprozess in Gang gesetzt, denn Gedächtnis und Erinnerung werden emotional indiziert, das heißt eine Bewertung von Erfahrungen und Situationen – gut, schlecht, neutral – erfolgt immer durch und mit Hilfe von Emotionen. Da diese Verknüpfung von Kognition und Emotion für das sich erinnernde Individuum so gut wie für Kollektive gilt, konnte "Holocaust" als Katalysator für eine erinnernde Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit wirken.

Die affektive Resonanz wurde begünstigt durch den Umstand, dass das deutsche Fernsehen Ende der 1970er Jahre noch ein ausschließlich öffentlich-rechtliches war und es weniger Medien gab, die um Aufmerksamkeit konkurrierten. Geschichten und Bilder, die in die Wohnzimmer gelangten, konnten so nicht nur emotional überwältigen, sondern auch für Anschlusskommunikation sorgen. Etwa zwei Drittel der im Rahmen einer umfangreichen Begleitstudie Befragten gaben an, in der Familie oder mit Bekannten und Arbeitskollegen über die Serie gesprochen zu haben.

Die gleichermaßen privat wie in den Medien geführte Diskussion setzte eine gesellschaftliche Selbstverständigung über den Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus in Gang, die wirtschaftlich durchaus rentabel war und ist. "Holocaust" war als Produktion des Privatsenders NBC dramaturgisch auf die Unterbrechung durch Werbepausen ausgerichtet und markierte nicht nur den Beginn einer Emotionalisierung von Erinnerung, sondern auch einer Ökonomisierung und Kommerzialisierung.

Authentizität in der Fiktion

Seit "Holocaust" wurde eine fast unüberblickbar große Anzahl fiktionaler Produktionen über die NS-Zeit gedreht, die sich – bei allen ästhetischen und dramaturgischen Unterschieden im Detail – nach massenwirksamen Mustern der Dramatisierung, Individualisierung und Emotionalisierung mit wiederkehrenden Themen beschäftigen: Alltag, Krieg, Verfolgung, Hitler, Widerstand. Und seit der Jahrtausendwende auch: Flucht und Vertreibung.

Häufig erweisen sich die Filme als Mischformen aus biografischen Daten einzelner Akteure und fiktionaler Ausgestaltung. So brachte "Schindlers Liste" (1993) höchst wirkungsvoll Fiktion und biografisches Porträt zugleich auf die Leinwand. Millionen Menschen weltweit ließen sich durch die "wahre Geschichte" des Industriellen Oskar Schindler, der mehr als 1100 Jüdinnen und Juden das Leben rettete, zu Tränen rühren. Der "gute Nazi" Schindler wurde zur entlastenden Identifikationsfigur, die geglückte Rettung zum (be)rührenden Gegenstück des Massenmordes. Ungeachtet einzelner kritischer Stimmen überwog in der öffentlichen Meinung das Urteil, dass Spielberg es geschafft habe, einen massenattraktiven Film zu drehen, der das historische Geschehen adäquat wiedergibt und zugleich am Thema eigentlich desinteressierte Zuschauer in die Kinos zieht – also Aufklärungsarbeit leistet.

Der Eindruck der Angemessenheit und Authentizität hängt damit zusammen, dass sich Spielberg bei seinen Filmbildern an kollektiv geteilten visuellen Erinnerungen orientierte. Wenn also sinnbildliche Einstellungen und assoziative Montagen Züge, Schienen, geleerte Koffer, Stapel persönlicher Gegenstände, abgeschnittene Haare, Goldzähne und schließlich das Tor und die Rampe von Auschwitz sowie den Ascheregen aus dem Schlot des Krematoriums zeigen, knüpft der Film an Bekanntes an, konstruiert aber zugleich einen stärkeren Wirklichkeitseffekt durch eine ästhetische Überformung, welche die Bilder so aussehen lässt, wie man glaubt, dass sie aussehen müssen: schwarzweiß, kalt und bedrohlich – "Kitsch" nannte Imre Kertész diese Darstellung.

Das weltweite Medienereignis "Schindlers Liste" ließ nicht nur den Spielfilm als breitenwirksames Medium der Erinnerung konsensfähig werden, sondern ebnete auch zuvor tabuisierten Darstellungsformaten den Weg ins Mainstreamkino. Roberto Benignis mit drei Oscars ausgezeichnete Tragikomödie "Das Leben ist schön" (1997) etablierte Komik als ein legitimes dramaturgisches Mittel der Holocaustdarstellung, was auch bedeutete, dass die Shoah endgültig in der Populärkultur angekommen war.

Den sich daraus ergebenden Risiken einer Banalisierung des Holocaust steht ein andauernder Erfolg fiktionaler Filme beim Publikum gegenüber. Durch die thematische, dramaturgische und ästhetische Ausdifferenzierung eröffnet sich ein weites Panorama an Geschichten über Lebens- und Handlungsmöglichkeiten "unterm Hakenkreuz". Akteure und Ereignisse lösen sich dabei aus ihrem ursprünglichen Kontext und werden von jeder Generation neu interpretiert. So gesehen lässt sich der fiktionale Film als Form des Probehandelns begreifen; erzählt wird, wie es gewesen sein könnte.

Dem Dokumentarfilm – oder allgemeiner: der faktenorientierten Wissensvermittlung – sind dabei engere Grenzen als der fiktionalen Erzählung gesetzt. Fehleranfällig sind jedoch beide Formen der Strukturierung kollektiver Erinnerung, da historische Komplexität quasi zwangsläufig reduziert werden muss – seien nun medienspezifische Erfordernisse oder pädagogische Erwägungen der Grund. Vor allem für jugendliche Zielgruppen sind didaktische Konzepte vonnöten, um angesichts der Konkurrenz um die Ressource Aufmerksamkeit überhaupt Interesse zu wecken. Lässt man die schulische Vermittlung außen vor, ist die Unterhaltung neben dem Tabubruch und dem Skandal ein probates Mittel der Aufmerksamkeitserzeugung. Das Histotainment, wie es sich im Fernsehen und hier im Besonderen in der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte unter der Leitung von Guido Knopp herausgebildet hat, sucht die Verbindung aus historischer Information und unterhaltender Aufmachung. Trotz scheinbarer Faktenorientierung teilen diese Formate mit dem Spielfilm das Risiko, durch Dramatisierungs- und Vereinfachungsstrategien in die Irre zu führen und falsche Vorstellungen über die Vergangenheit zu wecken.

Komplexe Auseinandersetzungen scheinen außerhalb des Kunstsystems der schriftlichen Form vorbehalten. Der massenattraktive Film setzt stattdessen (und verstärkt seit der Jahrtausendwende) auf die Inszenierung von Echtheit. Der Historiker Frank Bösch spricht in dem Zusammenhang von einer "Grenzauflösung zwischen historischem Quellenmaterial und inszenierten Szenen". Eine scheinbare Authentizität des Settings, Faktentreue, physiognomische Ähnlichkeiten von Schauspieler und verkörperter Figur sowie ein einfühlender Schauspielstil leisten der Verwechslung von filmischer Fiktion und historischer Wirklichkeit Vorschub. Dies ist zwar nachvollziehbar, da man sich der Eindrücklichkeit einer – im mimetischen Sinn gelungenen – schauspielerischen Darstellung nur mit hohem kognitiven Aufwand entziehen kann, führt aber bei der Deutung filmischer Erzählungen in die Irre. In dem Maße, wie man sich etwa von der schauspielerischen Brillanz eines Bruno Ganz ablenken lässt, übersieht man allzu leicht die Anmaßung, die in dem Film "Der Untergang" liegt – diejenige nämlich, vorzugeben, unwiderruflich zu wissen, wie es im "Führerbunker" wirklich gewesen ist, ohne die Glaubwürdigkeit oder auch nur die Selektivität des Gedächtnisses seiner Kronzeugen zu thematisieren.

Jener Film, der 2004 eine umfangreiche Diskussion darüber auslöste, wie menschlich Adolf Hitler dargestellt werden dürfe, greift im historischen Gewand Tendenzen der Privatisierung und Personalisierung gegenwärtiger Politikvermittlung auf. Als problematisch müssen damit verbundene Deutungen gelten: Durch die Gegenüberstellung von Führer und verführtem Volk wurde "eine öffentliche Lesart des Nationalsozialismus (eröffnet), die souverän die Forschung der letzten Jahrzehnte ignorierte", dass nämlich in weiten Teilen der Bevölkerung die Politik des "Dritten Reiches" zustimmungs- und konsensfähig war.

Gedächtnis in der Fiktion

Als Film pocht "Der Untergang" auf eine Glaubwürdigkeit, die durch Zeitzeugen bekräftigt wird, basiert doch das Drehbuch auf den Erinnerungen von Hitlers Sekretärin Traudl Junge und Joachim Fests Schilderungen der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs. Zu Beginn und am Ende des Films werden Ausschnitte aus einem Interview gezeigt, in dem die "echte" Traudl Junge kurz vor ihrem Tod 2002 über Schuld und Verantwortung reflektiert. Durch diese Rahmung wird die Erzählung über die letzten Tage des Krieges ähnlich einer Rückblende inszeniert, so dass Erinnerung einerseits als dramaturgische Strukturierung eingesetzt und andererseits als ein Garant für die Wahrhaftigkeit der Geschichte bemüht wird.

Die (scheinbare) Beglaubigung der Erzählung durch den Zeugen in der Gegenwart ist keine Seltenheit in den Filmen, die wirkliche Leidens- und Lebenswege fiktionalisiert erzählen. Treten in "Schindlers Liste" die Überlebenden auf, so wird die Rolle des Zeitzeugen in anderen Filmen von Schauspielern übernommen. Mit der Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit innerhalb der erzählten Zeit wird Authentizität suggeriert, selbst wenn sich realhistorische Ungenauigkeiten und Fehler in der Darstellung nachweisen lassen. Beispiele sind hier die melodramatische Liebesgeschichte zweier Frauen in "Aimée und Jaguar" von Max Färberböck (1998) oder der Film über die Proteste von Berliner Frauen gegen die Internierung ihrer Männer in "Rosenstraße" von Margarethe von Trotta (2003).

Wird in diesen Filmen der Akt des Erinnerns zum Antrieb einer Handlung mit quasi-dokumentarischem Charakter, so zeigen die Arbeiten George Taboris entgegengesetzte Formen des Erinnerns auf. Wie kein anderer Theatermacher hat Tabori die Erinnerung an die Shoah in den Mittelpunkt seiner Arbeit gerückt und dabei zugleich den Prozess aufgezeigt, wie Erinnerung eine literarische Gestaltung erfährt. Beispielhaft sei "Mutters Courage" erwähnt, die Geschichte seiner Mutter Elsa Tabori, die im Sommer 1944 aus Budapest deportiert wurde und überlebte, weil sie einem SS-Offizier erzählte, sie habe eigentlich einen Schutzpass des Roten Kreuzes, den sie aber leider zu Hause vergessen habe. "Mutters Courage", 1995 von Michael Verhoeven verfilmt, wurde im Mai 1979 in München uraufgeführt. Tabori wollte der Melodramatik von "Holocaust" etwas entgegensetzen – nämlich die Einsicht in die langsame Verfertigung der Erinnerung beim Sprechen. Auf der Bühne erzählen sich Mutter und Sohn gegenseitig die Rettungsgeschichte; oder besser: Der Sohn erzählt und die Mutter greift korrigierend ein: "Ich kann Dir meine Geschichte nicht erzählen. Was ich dir zuliebe behalten hatte, damit du eine Geschichte daraus machen kannst, habe ich inzwischen vergessen. Mehr als dich von Zeit zu Zeit korrigieren, kann ich nicht, wenn du das willst. Denn du neigst zu Übertreibungen und Schönfärbereien, mein Schatz, und nur weniges war so schön, wie du es heute hinstellst."

Erinnerung als soziale Praxis

George Tabori lässt keinen Zweifel daran, dass das Gedächtnis eine höchst unsichere Sache ist. Wenn Mutter und Sohn über Lesarten von Geschichte streiten, werden Erinnerungen in ihrer brüchigen Verlässlichkeit verbalisiert und über das Medium des Theaters versinnlicht. Gleiches gilt für den fiktionalen Film: Bilder, Töne und vor allem die Figuren, die durch Schauspieler verkörpert werden, machen historische Erfahrungen und Ereignisse sinnlich wahrnehmbar. Zugleich werden durch die filmische Dramaturgie kognitive und emotionale Aktivitäten des Publikums strukturiert.

Und noch etwas zeigt das Gespräch zwischen "Mutter" und "Sohn" Tabori: Gedächtnis ist immer auch soziale Praxis. Individuelle und kollektive Erinnerungen sind nicht nur abhängig von Sinnzuschreibungen, sondern werden durch Kommunikation immer neu ausgehandelt. Der Spielfilm tritt dabei als eine kulturelle Ausdrucksform auf den Plan, in welcher historisches Wissen durch fiktionale Geschichten vermittelt wird – ohne dass sich das ästhetische Medium Film in eine "Geschichtsstunde" verwandelt. Doch indem die erzählten Geschichten Anschlusskommunikation provozieren und gesellschaftliche Diskurse auslösen, bewahren sie die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für die Gegenwart.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Matthias Schmidt, "Ich bin die Anti-Walküre", Interview mit Quentin Tarantino, 7.5.2009, online: Externer Link: www.stern.de/lifestyle/leute/quentin-tarantino-ich-bin-die-anti-walkuere-662776.html (21.6.2012).

  2. Vgl. Peter Reichel, Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München–Wien 2004.

  3. Vgl. ders./Harald Schmid/Peter Steinbach (Hrsg.), Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung, München 2009.

  4. Imre Kertész, Wem gehört Auschwitz? Zu Roberto Benignis Film "Das Leben ist schön", in: ders., Die exilierte Sprache. Essays und Reden, Frankfurt/M. 2003, S. 147–155, hier: S. 149 (zuerst in: Die Zeit vom 19.11.1998).

  5. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 33.

  6. Ebd., S. 34.

  7. Vgl. Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2005, insb. S. 185-206.

  8. Ebd., S. 189.

  9. Die ganze Wahrheit schwarz auf weiß. Regisseur Steven Spielberg über seinen Film "Schindlers Liste", in: Der Spiegel, Nr. 8 vom 21.2.1994, S. 183–186, hier: S. 185.

  10. In seinem 9,5-stündigen Film stellt Lanzmann die primäre Zeugenschaft in den Mittelpunkt und inszeniert Erinnerung und Erinnerungsbilder. Er zeigt die Orte der Vernichtung, wie sie sich in seiner Gegenwart darbieten und porträtiert Opfer, Täter und passive Mitwisser, die ihre Erlebnisse rückblickend und zum Teil "nachspielend" in Sprache verwandeln.

  11. Claude Lanzmann, Ihr sollt nicht weinen. Einspruch gegen Schindlers Liste, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.3.1994, nachgedruckt in: "Der gute Deutsche". Dokumente zur Diskussion um Steven Spielbergs "Schindlers Liste" in Deutschland, ausgewählt und mit einem Nachwort hrsg. von Christoph Weiss, St. Ingbert 1995, S. 173–178.

  12. Elie Wiesel, Die Trivialisierung des Holocaust, in: Peter Märthesheimer/Ivo Frenzel (Hrsg.), Im Kreuzfeuer: Der Fernsehfilm "Holocaust". Eine Nation ist betroffen, Frankfurt/M. 1979, S. 25–30, hier: S. 30.

  13. Julius H. Schoeps, Angst vor der Vergangenheit?, in: P. Märthesheimer/I. Frenzel (Anm. 12), S. 225–230, hier: S. 225.

  14. Ebd., S. 230.

  15. Vgl. H. Welzer (Anm. 7), S. 150.

  16. Auch dass die Ausstrahlung der Serie von einer intensiven Medienwirkungsforschung begleitet wurde, war ein Novum. Der WDR und die Bundeszentrale für politische Bildung hatten Marplan GmbH, Offenbach, damit beauftragt, eine dreistufige Studie durchzuführen. Vgl. Jürgen Wilke, Die Fernsehserie "Holocaust" als Medienereignis, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Die Fernsehserie "Holocaust" – Rückblicke auf eine "betroffene Nation", hrsg. von Christoph Classen, März 2004, online: Externer Link: www.zeitgeschichte-online.de/md=FSHolocaust-Wilke (29.6.2012).

  17. I. Kertész (Anm. 4), S. 151.

  18. Vgl. u.a. Sonja M. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film. Von "Triumph des Willens" bis "Inglourious Basterds", Berlin 2012; Tobias Ebbrecht, Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielefeld 2011.

  19. Interner Link: Frank Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von "Holocaust" zu "Der Untergang", in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 55 (2007) 1, S. 1–32, hier: S. 26.

  20. Ebd., S. 30.

  21. Es handelt sich jeweils um einen Ausschnitt aus "Im toten Winkel – Hitlers Sekretärin", einem Dokumentarfilm aus dem Jahr 2002 von André Heller und Othmar Schmiderer.

  22. George Tabori, Mutters Courage, in: Unterammergau oder Die guten Deutschen, Frankfurt/M. 1981, S. 139-178, hier: S. 152.

Dr. phil., geb. 1969; Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen, Seminar für Sozialwissenschaften, Adolf-Reichwein-Str. 2, 57068 Siegen. E-Mail Link: sandra.nuy@uni-siegen.de