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Metamorphosen des Politischen: Griechenland nach den Wahlen

Vassilis S. Tsianos Dimitris Parsanoglou

/ 18 Minuten zu lesen

Obwohl die deutschsprachigen Publikationen über die Krise in Griechenland inzwischen eine kaum zu überblickende Fülle erreicht haben, wagen wir die Hypothese, dass das vorherrschende Sachwissen über die gegenwärtige Transformation des Landes sehr von einer ökonomischen – um nicht zu sagen ökonomistischen – Krisenanalytik geprägt ist. Im Folgenden möchten wir nicht ein weiteres Mal über die "wirklichen Gründe" der griechischen Krise sprechen. Stattdessen gehen wir von der Faktizität der Krise aus und versuchen, ihre politischen Auswirkungen und die Sorgenfalte der griechischen Bevölkerung mitzudenken: Wir werden die Konturen der Bruchstellen, die sich innerhalb der vergangenen Monate im Herzen des Politischen aufgetan haben, nachzeichnen. Diese Brüche sind zahlreich und lassen sich in vielerlei Hinsicht auf die einschneidenden sozioökonomischen Veränderungen in den vergangenen zweieinhalb Jahren zurückführen. Deutlich wird hierbei die Dynamik einer allseitigen gesamtgesellschaftlichen Radikalisierung.

Krise als Radikalisierungsbeschleuniger

Die Ereignisse im Dezember 2008 (massive landesweite Ausschreitungen und Unruhen nach der Erschießung eines 16-jährigen Demonstranten durch die Polizei) waren für viele Griechinnen und Griechen einschneidend und führten zu einer andauernden sozialen und gesellschaftlichen Polarisierung. Zum ersten Mal nach dem Bürgerkrieg in den 1960er Jahren bröckelte die parlamentarisch vermittelte Koexistenz unterschiedlicher sozialer Milieus. Die Militanz der Massendemonstrationen im Mai 2010, Juni 2011 und Februar 2012 markieren auch Stationen einer zunehmenden Radikalisierung der Gesellschaft. Diese geht allerdings weit über die formelle soziale und politische Dynamik hinaus, die bei den griechischen Parlamentswahlen (6. Mai und 17. Juni 2012) auch die politische Arena erfasste.

Die Wahlergebnisse wurden in vielerlei Hinsicht von polarisierten sozialen Kämpfen und gesellschaftlichen Antagonismen überschattet, die auch zur Erosion der bis dahin herrschenden parlamentarischen Hegemonie des Zweiparteiensystems führten. Der von den Medien unternommene Versuch, diese Antagonismen aus den Wahlkämpfen und Wahlkampagnen herauszuhalten, wirkte wie der letzte Atemzug des alten politischen Systems der Metapoliteusi. Metapoliteusi steht für den Übergang von der Diktatur zur Demokratie nach 1974 und markiert zugleich die zentrale normative Instanz eines gelungenen Demokratisierungsprozesses. Als politisches Narrativ wird die Metapoliteusi zudem mit einer Periode politischer und sozialer Errungenschaften assoziiert, die mit redistributiven, wohlfahrtsstaatlichen Politiken einhergehen. Mit der Wirtschafts- und Schuldenkrise etablierte sich in der öffentlichen Debatte ein neokonservativer Diskurs, der explizit die "Kultur" der Metapoliteusi für die Malaise der griechischen Gesellschaft verantwortlich machte, indem er die Anfänge der aktuellen Krise auf das Jahr 1974 zurückdatierte. Diese diskursive Verschiebung in der Wahrnehmung der neueren Geschichte Griechenlands umfasste sowohl neoliberale als auch andere radikalisiertere anti-etatistische Reflexe und Krisenbewältigungsideologeme.

Der Versuch, diese Antagonismen aus dem Wahlkampf herauszuhalten, war erfolgreich, aber voraussichtlich nur hinsichtlich einer kurzzeitigen Eindämmung der Stimmenverluste von etablierten Parteien. Exemplarisch zeigt sich dieser Versuch an jenem Diskurs, der sich gegen das „Brüsseler Memorandum“ wendet und das politische Spektrum dominiert: Keine politische Partei, außer einigen neoliberalen Splitterparteien, von denen keine die Sperrklausel von drei Prozent erreichte, vertrat in ihrem Wahlprogramm explizit die Inhalte des EU-Memorandums. Das Parteienspektrum des alten Establishments forderte geschlossen dessen "Neuverhandlung". Damit verbunden war offensichtlich der Versuch, die Politik des linken Wahlbündnisses SYRIZA (Vereinte Soziale Front), das im Mai 2012 zweitstärkste Partei wurde, zu neutralisieren, da es das Memorandum für ungültig erklären lassen wollte.

Für die Wählerinnen und Wähler lag das Dilemma darin, eine Entscheidung treffen zu müssen zwischen "verantwortungsbewussten multilateralen Verhandlungen mit unseren europäischen Partnern" und einer Politik des Alleingangs, wobei letztere – nach Meinung der SYRIZA-Gegner – Griechenlands Euromitgliedschaft gefährdet hätte.

Entlang dieser Linien haben die beiden ehemals großen Volksparteien PASOK und Nea Demokratia (ND) eine Strategie der Renationalisierung verfolgt: Sie beschworen die nationale Einheit als Voraussetzung dafür, "das Memorandum zu verändern, so gut wir können". SYRIZA diente ihnen dabei sowohl als negative Schablone als auch als vermeintliches Hindernis bei der Wiederherstellung einer nationalen Einheit.

Im Koalitionsvertrag der amtierenden Regierung aus ND, PASOK und Demokratische Linke finden sich dementsprechend kaum Verweise auf die Umsetzung von Maßnahmen, die im Memorandum gefordert werden, sondern eher allgemeine Kommentare zur Wirtschaftsentwicklung und zur Reform des öffentlichen Sektors. Der Koalitionsvertrag liest sich vielmehr so, als ginge es darum, einige der geforderten Sparmaßnahmen außer Kraft zu setzen (wie etwa die Forderung nach einer Abschaffung von Tarifverhandlungen oder weiteren Kürzung der niedrigen Pensionen). Doch die für den Herbst 2012 bereits beschlossenen Sparmaßnahmen, die als zwingende Voraussetzung für die Ausschüttung der nächsten Zahlungen aus dem Krisenpaket gehandelt werden, strafen die politische Rhetorik, mit der die gegenwärtige Regierungskoalition der Radikalisierung des sozialen Widerstands gegen die Sparpolitik standzuhalten versucht, Lügen. Sogar der spektakuläre Teilerfolg von SYRIZA bei den vergangenen Wahlen spiegelt diesen sozialen Druck nicht gänzlich wider.

Das Memorandum für ungültig erklären zu wollen, steht für die Krise, wenn nicht sogar für den sukzessiven Zusammenbruch der alten repräsentativen Politik, von den Gewerkschaften bis hin zu politischen Organisationen und Parteien. Die weitverbreitete Ablehnung der Sparpolitik geht einher mit einer, von der gesellschaftlichen Basis ausgehenden Neudefinition des sozialen Gehorsams, und zwar durch Werkzeuge und Handlungen, die nicht nur oppositionell sind, sondern der repräsentativen Politik des alten Zweiparteiensystems (Dikomatismos) diametral entgegenstehen. Hierzu gehören Forderungen nach direkten demokratischen Verfahren sowie neu aufkommende nicht-hierarchische und nicht-dauerhafte, also eher spontan gebildete Mobilisierungsstrukturen. Diese reichen von den landesweiten Unruhen 2008 bis hin zu den massiven Demonstrationen gegen die Sparmaßnahmen, von der Organisation und dem Zusammenschluss von Nachbarschaftsinitiativen, um Nahrungsmittel und Medikamente für arme Nachbarn zu sammeln und zu verteilen, bis hin zum Anzapfen von Stromanschlüssen, weil Leute die Einkommenssteuer nicht bezahlen können, die in Griechenland zusammen mit der Stromrechnung beglichen wird: Öffentliche Räume werden besetzt oder lokale Nachbarschaftstreffen einberufen.

Der Soziologe Asef Bayat spricht in diesem Zusammenhang vom spektakulären Aufkommen der social non-movements im Kontext des "Arabischen Frühlings", welche die Straße und auch den gesamten urbanen Raum beanspruchen. Auch in Griechenland haben sich in den vergangenen Jahren zahlreiche non-movements gebildet und sind „passive Netzwerke“ entstanden, die durch die kommunikative Präsenz und die beharrliche Wiederaneignung von öffentlichen Plätzen die Machtlosigkeit der öffentlichen Ordnung konterkarieren.

Doch die mit der sozialen Polarisierung einhergehende Radikalisierung ist kein Alleinmerkmal des SYRIZA-nahen gesellschaftlichen Blocks. Sie betrifft auch Teile der Wählerschaft, die dem nationalistischen und dem neofaschistischen Spektrum zuzuordnen sind. Deutlich wurde dies mit dem Aufstieg der neofaschistischen Partei Goldene Morgendämmerung, die bei den Wahlen im Mai und Juni 2012 sieben Prozent der Stimmen erhielt.

Politische Verschiebungen

Schon bevor die Ergebnisse der ersten Hochrechnungen vom 6. Mai 2012 verkündet wurden, war klar, dass die politische Ordnung der sozialen Kräfteverhältnisse in Griechenland nicht mehr dieselbe sein würde. Es galt als sicher, dass das Zweiparteiensystem – bestehend aus der mehr oder weniger sozialdemokratischen PASOK und der mehr oder weniger konservativen ND – unter großem Druck stand. Das Ergebnis der Wahlen förderte jedoch nicht nur den historischen Tiefpunkt des Zweiparteiensystems zutage (beide bekamen zusammen 32 Prozent der Stimmen im Vergleich zu 77,5 Prozent im Jahr 2009), sondern auch die Etablierung eines neuen politischen Lagers, der radikalen Linken, deren stärkste Wahlergebnisse bislang um die fünf Prozent lagen.

Der Zusammenbruch des Zweiparteiensystems ging mit einer Fragmentierung der politischen Kräfte einher: Zum ersten Mal seit 1977 waren im Mai 2012 sieben Parteien im Parlament vertreten. Bei den Wahlen vom 17. Juni 2012 ließ sich eine Stabilisierung dieser Tendenz beobachten. Die Wahlen brachten auch neue politische Parameter mit sich: Die bis zu diesem Zeitpunkt größte Konfliktlinie zwischen ND und PASOK verschob sich nun auf die zwischen ND und SYRIZA, wobei ND nur einen knappen Vorsprung von 2,8 Prozent gegenüber SYRIZA erreichte. Damit war allerdings die Voraussetzung für die Bildung einer Regierungskoalition mit PASOK (12,3 Prozent) und der Demokratischen Linken (6,3 Prozent), einer rechten Abspaltung von SYRIZA, erfüllt. Doch interessanter als diese Wahlergebnis-Arithmetik ist die folgende Analyse der politischen Verschiebungen.

Verfall der Sozialdemokratie

PASOK ist innerhalb der vergangenen zweieinhalb Jahre in unerwarteter Weise geschrumpft. Mit einem Verlust von 30 Prozent bekam hauptsächlich sie das Unbehagen und die Wut der Wählerinnen und Wähler zu spüren. Dieses soziale Unbehagen sorgte für die Abwanderung von traditionell sozialdemokratischen Wählerlagern (wie Angestellte des öffentlichen Dienstes, Lohnabhängige und Bewohner der großen städtischen Vororte und Inseln) zu SYRIZA. Die frontale Konfrontation der PASOK-Regierung mit den (bis dato PASOK-nahen) Gewerkschaften, von ihr getragene wiederholte Einschnitte bei Renten und Löhnen sowie die von breiten Bevölkerungsschichten geteilte Sorge, dass sich die Finanz- und Staatskrise trotz Rettungspaketen und Memorandum verschärfen würde, stellen die wesentlichen Gründe für die Abkehr von der PASOK dar.

Gegenüber den auf den griechischen Staatsbankrott abzielenden Spekulationen und als Antwort auf die sukzessive Herabstufung der Kreditwürdigkeit durch Ratingagenturen verfolgte die PASOK-Regierung eine politische Strategie, die sich als eine Politik des sozialen Schocks charakterisieren lässt. Aus Platzgründen soll an dieser Stelle nicht auf die jüngsten Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds, den europäischen Partnern und der Europäischen Zentralbank (EZB) eingegangen werden. Denn der Fokus liegt hier vielmehr auf der Krisenbewältigung der PASOK zwischen 2009 und 2012 sowie deren Folgen für ihr Verhältnis zur griechischen Gesellschaft.

Im Namen einer der Krise geschuldeten "neuen Sachlichkeit" hat die sozialdemokratische PASOK die Kommunikation mit ihrer traditionellen Klientel und die Vertretung und Vermittlung ihrer Interessen radikal unterbrochen. Einige politische Kommentare versuchen die Verluste der PASOK als ein "normales Symptom" für eine Regierungspartei in Zeiten der Krise zu erklären – wie es etwa für die spanische Sozialistische Partei bei den Wahlen von 2011 Geltung hat. Doch die Höhe der Stimmenverluste wie auch die Intensität der Abwendung von breiten Wählerschichten lassen einen solchen Vergleich nicht zu. Im Gegenteil: Der Einbruch der griechischen Sozialdemokratie als eine der zwei tragenden Säulen des auf Europa ausgerichteten Zweiparteiensystems ist singulär. Das Fundament eines etatistischen linksliberalen Spektrums ist zusammengebrochen. Es stellen sich die Fragen, inwiefern diese Entwicklung umkehrbar ist und ob der Einsturz der sozialdemokratischen Säule auch die konservative Säule mit sich reißt.

Neugründung des konservativen Lagers?

Im Gegensatz zur PASOK war das konservative Lager in Griechenland lange Zeit gekennzeichnet durch hohe Stabilität der innerparteilichen Kohärenz sowie große Kontinuität seiner politischen Orientierung. Dazu gehörten die Liberalisierung der Wirtschaftspolitik durch eine Stärkung des Marktes und die Reduktion des wohlfahrtsstaatlichen Staatsinterventionismus. Trotz Spaltungen, die in der Regel mit der Konkurrenz von Führungspersönlichkeiten innerhalb der ND zu erklären waren, gelang es der Partei immer wieder, die unterschiedlichen Fraktionen zu bündeln und seinen hegemonialen Anspruch im politischen Mitte-Rechts-Lager aufrechtzuerhalten.

In den jüngsten Wahlen jedoch erlebte auch das konservative Lager eine ungewöhnliche Wählermobilität. Die Gründung der neokonservativen Partei der Unabhängigen Griechen im Februar 2012 wurde – ein Novum im rechten Lager – von einer Kampagne begleitet, die sich ausschließlich auf neue soziale Medien stützte. Mit Parolen wie "Nationale Unabhängigkeit und Stolz, Volkssouveränität, das Primat des nationalen Interesses“ und der unmittelbaren Zielvorgabe von „Annullierung des Memorandums und Zahlungsverzicht der durch Zinsknechtschaft verursachten illegalen Staatsschulden“ gelang es der neuen Partei, im Mai 10,6 Prozent und im Juni 7,5 Prozent der Stimmen zu erhalten.

Um diesen Wahlerfolg zu verstehen, müssen wir uns die sprunghaften, um nicht zu sagen wenig konsistenten Aussagen der ND-Führung unter Andonis Samaras, dem amtierenden Ministerpräsidenten, hinsichtlich der strengen Austeritätspolitik, die von Brüssel vorgegeben wird, vergegenwärtigen. Während die ND mit Verweis auf die deflationäre Politik der PASOK-Regierung im Parlament gegen das erste Memorandum aus dem Jahr 2010 stimmte, änderte sie ihre Position mit der Regierungskrise im November 2011. Damals trat Ministerpräsident Georgos Papandreou zurück, und es wurde eine Übergangsregierung unter Loukas Papadimou gebildet, an der sich auch die ND beteiligte. Die Partei der Unabhängigen Griechen gründete sich, als ND-Abgeordnete ihre Partei verließen und im Februar 2012 gegen das von der Parteiführung befürwortete zweite Brüsseler Memorandum und das neue Kreditabkommen votierten. Die Unabhängigen Griechen behaupten, die sogenannten patriotischen Volksrechte zu vertreten, was zu einem großen Teil auch die aktuelle ND-Führung für sich beansprucht. Die weitere Lebensfähigkeit dieser neokonservativen Partei wird sich allerdings an der Frage ihrer Attraktivität für nichttraditionelle konservative Wählerinnen und Wähler entscheiden.

SYRIZA: neuer (radikaler) Pol?

Als größte politische Überraschung kann sicherlich der spektakuläre Wahlerfolg der Linken gelten. Die Ergebnisse von SYRIZA mit 16,8 Prozent im Mai und 26,9 Prozent im Juni stehen für die größte Trendwende im politischen System. Für die Zeit vor und zwischen den zwei Wahlen stellte SYRIZA eine der zwei mächtigsten Regierungsalternativen in Griechenland dar.

Nach dem Ergebnis der ersten Wahlrunde (6. Mai) wurde schnell klar, dass die zweite Runde die bisher am meisten "europäisierte", das heißt europaweit verfolgte, nationale Wahl Griechenlands werden würde. Charakteristisch hierfür sind die eiligst erteilten und von europäischen Medien aufgegriffenen Wahlempfehlungen für Samaras und seine ND. Paradoxerweise zeigte die "Europäisierung" der Wahl vom 17. Juni 2012 auch die Grenzen der Solidarität mit Griechenland auf – ohne an dieser Stelle näher auf die "Politik der Angst" einzugehen, die eng mit dem Prozess der Europäisierung verbunden war: Denn bei den politischen und ökonomischen Eliten Europas schwang die Sorge vor einem Wahlsieg der linken SYRIZA mit. Am Tag nach den Mai-Wahlen, als die Gespräche für eine Regierungsbildung abgebrochen werden mussten, stellte der SYRIZA-Vorsitzende Alexis Tsipras fest, dass eine neue Wahlrunde zum kritischen Auslöser einer "Europäisierung von unten" werden könnte. Die Neuwahlen könnten zur Bühne für einen sozialen paneuropäischen Angriff gegen die Sparpolitik werden.

Viele politische Kommentatoren sehen den Erfolg des linken Wahlbündnisses als unmittelbare Folge der Transformationen auf dem Terrain der sozialen Kämpfe und der sozialen Polarisierungen in den vergangenen Jahren. Der auch nach den Wahlen anhaltende Erfolg und die Zustimmung für SYRIZA werden vielfach auf die Radikalisierung der sozialen Bewegungen und vor allem der "Bewegungen der öffentlichen Plätze", die in den vergangenen Jahren der Sparpolitik stark an gesellschaftlicher Akzeptanz gewannen, zurückgeführt. SYRIZA steht förmlich als Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen sozialen und politischen Dynamiken. Mit anderen Worten: Am Beispiel von SYRIZA lässt sich die Frage, inwiefern gesellschaftliche Transformationen im Kontext der gegenwärtigen Schulden- und Staatskrise sich in Transformationen des Politischen übersetzen lassen, am pointiertesten stellen.

Doch ist die Antwort darauf weder einfach noch definitiv. Zum einen lässt sich die relative Autonomie des Politischen schlicht nicht ignorieren: Das Politische ist keine reine Widerspiegelung des Sozialen, das allein durch die Interessenvermittlung durch die politischen Parteien wiedergegeben wird. Zum anderen sind wir geneigt, im Falle Griechenlands, wo in den vergangenen Jahren viele soziale und politische Ereignisse und Umwälzungen stattfanden, vorläufig die Unmöglichkeit der Inklusion des Sozialen ins Politische zu diagnostizieren.

Zum Hintergrund dieser Annahme: Auf einer Wahlveranstaltung von SYRIZA, auf der auch der marxistische Philosoph Slavoj Žižek und Alexis Tsipras sprachen, machte der Diaspora-Intellektuelle Costas Douzinas eine einleitende Bemerkung, in der er die Partei in feierlichem Ton aufforderte, anzuerkennen, dass sie den "Bewegungen der öffentlichen Plätze" verpflichtet sei: "Die Menschen, welche die Quartiere Griechenlands besetzt halten, werden am 17. Juni zu einem Volk werden, dessen Stimme SYRIZA an die Macht bringen wird." Selbst wenn wir diese Bemerkung – und selbstredend die Euphorie, welche sie in der besagten Versammlung auslöste – zumindest im Hinblick auf das von radikal-demokratischer Rhetorik durchdrungene neue Politikverständnis von SYRIZA ernst nehmen, zielt die weise Botschaft beziehungsweise die gut gemeinte Warnung Douzinas auf mehr als nur eine temporäre Transformation des politischen Spektrums und ein kurzfristig mobilisiertes Verhältnis von Volk und Bürgerschaft: Die Hunderttausenden sollten sich am 17. für die Wahl zum Volk zusammentun, nur, um sich dann sofort wieder aufzulösen in ihre vorherige Vielfalt.

Der politische Erfolg von SYRIZA basierte auf genau dieser Tatsache: Dass SYRIZA die Vielfalt weder zu repräsentieren vermochte, noch den Anspruch formulierte, die Vielfalt repräsentieren zu wollen, die mit ihren Kämpfen während der vergangenen Jahre so beharrlich und intensiv in den öffentlichen Raum eingedrungen ist. Wie die meisten anderen organisierten Kräfte der Linken – abgesehen von der national-bolschewistischen kommunistischen Partei KKE, die sich beständig auf ihrem angestammten einsamen Kurs hält und von 8,5 Prozent im Mai auf 4,5 Prozent im Juni fiel – konnten die Kader von SYRIZA gar nicht anders, als einigermaßen diskret in den neuen sozialen Auseinandersetzungen und Kämpfen aufzutreten. Sie strebten keinerlei Hegemonie über die Bewegungen an.

Auch wenn griechische und internationale, politische und wirtschaftliche Eliten sowie Medien versucht haben, SYRIZA als Vertreter der "gefährlichen politischen Klassen“ darzustellen und einen beinahe in Vergessenheit geratenen Antikommunismus schürten – in der Praxis sind die Widerstände und Interventionen von social non-movements (Asef Bayat) oft genau gegen die symbolische und normative Ordnung repräsentativer Politik und ihrer pazifizierenden Parteienkultur ausgerichtet.

Was sich in Griechenland gerade ereignet, stellt eine einzigartige gesellschaftliche Radikalisierung dar. Der Aufstieg von SYRIZA schreibt sich unmissverständlich in die Dynamik dieser sozialen Polarisierung und Radikalisierung ein, ohne jedoch diese Tendenzen auf politischer Ebene gänzlich wiederzugeben.

Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil diejenigen, die vielfach auf Straßen und Plätzen demonstrieren, in einem begrenzten, aber sichtbaren Maße auch konservative und nationalistische Interessen vertreten. Die Unterschiede in den Protesten und der Mobilisierungen am Beispiel des "oberen" und des "unteren" Teils auf dem Syntagma-Platz sind emblematisch für diese "Kohabitation".

Aufstieg der Ultra-Rechten

Ein Novum in der griechischen Parteienlandschaft ist die neofaschistische Partei Goldene Morgendämmerung, die bei der Wahl einen relativ hohen Anteil von sieben Prozent der Stimmen erreichte. Es gelang ihr, die bis dato gemäßigte parlamentarische Vertreterin der Neuen Rechten, Orthodoxer Volksalarm, die aus einer Abspaltung der ND hervorging und nach dem Vorbild des französischen Front National die Vertretung des nationalistischen Lagers beansprucht, aus dem Parlament zu drängen. Sie scheiterte sowohl im Mai als auch im Juni 2012 an der Sperrklausel.

Bevor sie auf nationaler Ebene in den Blick geriet, etablierte sich die neofaschistische extreme Rechte zunächst auf lokaler. Dabei setzte sie auf eine Politik, die "wieder Ordnung herstellen" sollte, das heißt, sie wollte "diejenige Arbeit verrichten, die der Staat oder die Eliten" nach den Unruhen im Dezember 2008 nach ihrer Meinung nicht mehr zu leisten im Stande waren. Nach und nach eroberten neofaschistische Schlägertruppen Aghios Panteleimonas, ein Athener Stadtviertel, das als historisches Arbeiterwohnquartier bekannt ist. Das Viertel wurde zum Symbol für die "Rückeroberung und Wiederbesetzung unserer Städte" – um einen Ausdruck zu verwenden, dessen sich der amtierende Ministerpräsident, dem während der Wahlkampagne große Zuneigung aus Europa entgegengebracht wurde, wiederholt bedient.

Ihre Interpretation des Slogans "Den Platz vom Dreck befreien" versuchten die Neofaschisten auch in anderen Bezirken mit alternativen und informellen Sozialdiensten und -strukturen umzusetzen. Dabei knüpften sie gezielt, medienbewusst und zum Teil durch Mitglieder lokaler Polizeieinheiten geduldet am allgemeinen Gefühl der Unsicherheit in Städten an: Sie begleiteten ältere Leute, wenn sie ihr Geld an Geldautomaten abheben wollten, sie sorgten für "Ordnung" in multikulturellen Kindergärten, sie vertrieben Migrantinnen und Migranten aus von ihnen "besetzten“ Gebäuden, und sie attackierten schwarze Personen in der Öffentlichkeit. Das führte manchmal zu "Erfolgen", wie etwa um den Athener Attiki-Platz herum, und manchmal nicht, wie im Bereich des Athener Amerikis-Platzes, wo sie von Anarchistinnen und Anarchisten erfolgreich vertrieben wurden.

Die Methoden der neofaschistischen Gruppen haben eine qualitativ neue Dimension erreicht, was die Bekämpfung des Rassismus in Griechenland erschwert. Bisher tummelten sich rassistische und nationalistische politische Akteure aus dem Umfeld des neurechten Orthodoxen Volksalarms für gewöhnlich auf dem Feld des Ideologischen: Mittels eigener Medien versuchten sie, Angst zu schüren und einen rassistisch gefärbten Nationalstolz zu etablieren, um ihr Klientel am äußersten rechten Rand der ND anzuwerben. Die Goldene Morgendämmerung dagegen verzichtete in Konkurrenz und in Abgrenzung zum Orthodoxen Volksalarm gezielt auf das Primat der Diskursivität. Zur ideologischen Legitimation der Partei wurde ihr de facto rassistisches Handeln: Es bestand aus der Verfestigung von Alltagspraktiken im sozialen Raum und in der systematischen Ausbreitung dessen, was Gilles Deleuze und Felix Guattari "Mikrofaschismus" genannt haben.

Tatsächlich wurde die ideologische Legitimation der neofaschistischen Agenda erst möglich durch die Intervention von Regierungsmitgliedern in einen bereits polarisierten öffentlichen Diskurs: Wenige Wochen vor den Wahlen im Mai kündigten der damalige Minister für Gesundheit und Soziales Andreas Loverdos (PASOK) und der damalige Wirtschaftsminister Michalis Chrysochoidis (PASOK) als "Gegenmittel" zur "hygienischen Bombe, die Einwanderer und besonders die migrantischen Sex-Arbeiterinnen darstellen", die Errichtung von 30 Lagern für undokumentierte Migrantinnen und Migranten im ganzen Land an und riefen "Nulltoleranz" aus.

Inzwischen entfaltet die Goldene Morgendämmerung auch eine unübersehbare Präsenz in Schulen, Fußballfanklubs und Gangs. Offenbar arbeitet man hier auf die Etablierung einer distinguierbaren jugendlichen Subkultur hin, zu deren Bestandteil ein aggressiver Nationalismus und die Praxis rassistischer Gewalt gegen Migrantinnen und Migranten gehören.

Epilog: Gegenwart, die lange dauert

In seinem nüchternen Essay "Zur Verfassung Europas" verortet Jürgen Habermas die Krise in Griechenland auf dem Terrain der desintegrativen Dynamiken des europäischen Projektes. Erst die katastrophalen Folgen der Finanzmarktspekulationen, so Habermas, öffnete allen die Augen für den Konstruktionsfehler der Währungsunion: "Bei der Einführung des Euro im Jahre 1996 hatten einige noch auf die Fortsetzung des politischen Einigungsprozesses gehofft. Andere Befürworter glaubten an das ordoliberale Lehrbuch, das der Wirtschaftsverfassung mehr zutraut als der Demokratie. Sie meinten, dass die Einhaltung simpler Regeln für eine Konsolidierung der Staatshaushalte genügen müsste, um (gemessen an den Lohnstückkosten) eine Angleichung der nationalen Wirtschaftsentwicklungen herbeizuführen. Beide Erwartungen sind dramatisch enttäuscht worden. Die schnelle Aufeinanderfolge von Finanz-, Schulden- und Eurokrise hat die falsche Konstruktion eines riesigen Wirtschafts- und Währungsraums, dem aber die Instrumente für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik fehlen, sichtbar gemacht."

Habermas' Intervention formuliert einen imposanten Imperativ zur Redemokratisierung Europas, indem er das Potenzial einer zu verwirklichenden transnationalen Demokratie aufzeigt und die falsche Alternative eines postdemokratischen Exekutivföderalismus scharfsinnig kritisiert, der sich vielleicht sogar infolge der Eurokrise anbahne. Sein Appell adressiert unmittelbar die Dynamik und die Spannungen des demokratischen Aufstandes in (Süd-) Europa.

Expliziter als Habermas beobachtet Étienne Balibar den radikaldemokratischen Aufstand und sieht in der europäischen Staatskrise eine sukzessive Repräsentationskrise, die mit den Gefahren der Ausbreitung einer „Revolution von oben“ konfrontiert wird. Mit diesem von Bismarck entlehnten Begriff wird eine Umwälzung "des Machtgleichgewichts von Gesellschaft und Staat sowie Wirtschaft und Politik bezeichnet, welche der herrschenden Klasse zum 'präventiven Schutz' dienen soll. Und beschreibt nicht genau dies, was momentan mit der Neutralisierung der parlamentarischen Demokratie, mit der Institutionalisierung der Haushalts- und Fiskalpolitik durch die EU und mit der Sakralisierung der neoliberalen Orthodoxie geschieht?"

Étienne Balibar ist ein aufmerksamer Beobachter der komplexen Transformationen in der griechischen Gesellschaft: "Die große Frage ist, in welche Richtung 'die Bürgerrevolte' zielen wird. (…) Wird die Revolte versuchen, überall dort, wo das Krisenmanagement per Recht und Gesetz oder de facto Macht konzentriert, Gegenmächte aufzubauen, nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch autonom und, falls nötig, mit Gewalt? Wird sie sich damit begnügen, eine Wiederherstellung des alten sozialen Nationalstaats zu verlangen, der vom Schuldenmanagement zersetzt wird? Jede Wette, der ausschlaggebende Faktor, um diese Ungewissheiten auszuräumen, wird darin zu finden sein, inwiefern sich europaweit die Ungleichheiten und die Folgen der Rezession (insbesondere die Arbeitslosigkeit) ausweiten werden. Aber es wird an der Fähigkeit zur Analyse und Empörung der 'Intellektuellen' und 'Aktivisten' liegen, ob den Menschen dazu die symbolischen Mittel gegeben werden – oder nicht."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Karl Heinz Roth, Griechenland: Was tun?, Hamburg 2012; Vassilis K. Fouskas/Constantine Dimoulas, The Greek Workshop of Debt and the Failure of the European Project, in: Journal of Balkan and Near Eastern Studies, 14 (2012), 1, S. 1–31; Yanis Baroufakis, Der Globale Minotaurus, München 2011; Heiner Flassbeck, Zehn Mythen der Krise, Berlin 2012.

  2. Vgl. Antonis Vradis/Dimitris Dalakoglou, Revolt and Krisis in Greece, London–Athen 2011; Vassilis S. Tsianos/Thanasis Marvakis, Griechenland, in: Karl-Heinz Dellwo (Hrsg.), Schrei im Dezember, Hamburg 2010, S. 11–19; Gregor Kritidis,Die Demokratie in Griechenland zwischen Ende und Wiedergeburt, in: Sozial.Geschichte Online, (2011) 6, S. 135–155.

  3. Das im Frühjahr 2012 unterzeichnete "Memorandum of Understanding" zwischen Griechenland, der Eurogruppe und dem IWF sieht Hilfszahlungen von 130 Milliarden Euro vor. Griechenland verpflichtete sich darin zu folgenden Reformen: a) Abbau der Staatsverschuldung bis 2020 auf 120 Prozent der Wirtschaftsleistung; b) innerhalb von zwei Jahren sollen 5,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) eingespart werden; c) Reform des Rentensystems; d) Kürzung von 150.000 Stellen im öffentlichen Dienst; e) Vereinfachung des Steuersystems und Abschaffung von Subventionen und manchen Privilegien; f) Kürzung der öffentlichen Gesundheitsausgaben auf unter sechs Prozent des BIP; g) Senkung der Mindestlöhne um 22 Prozent und Aussetzung der automatischen Lohnzuwächse; h) weitere Liberalisierung des Marktes sowie i) weitere Privatisierung von Staatsbetrieben und Einrichtungen. Vgl. Überblick auf: Tagesschau.de vom 12.6.2012, online: Externer Link: www.tagesschau.de/wirtschaft/griechenland2420.html (7.8.2012).

  4. Vgl. Asef Bayat, Life As Politics, Stanford 2010.

  5. Die eigentümliche Ambivalenz dieser Radikalisierung ließ sich auch an der politischen Topographie der Mobilisierungen auf dem Athener Syntagma-Platz im Sommer 2011 beobachten. Die Organisation des Protestraums vor dem Parlament war getrennt in den "oberen Platz" und den "unteren Platz". Oben liegt der Vorplatz des Parlamentsgebäudes an der Hauptstraße, die für mehr als zwei Monate blockiert war. Der untere Teil des eigentlichen Syntagma-Platzes liegt tiefer. Politisch gab es einen klaren Unterschied zwischen dem oberen und dem unteren Platz. Oben, näher am Parlament, haben die Leute beleidigende Parolen gegen das politische System und die Parlamentarier gerufen. Der untere Platz war der Raum der improvisierten Besetzung der -Bewegung, der Platz der Versammlungen und der Organisation. Der obere Platz dagegen war der Raum der direkten Konfrontation. Vgl. Vassilis S. Tsianos/Dimitris Papadopoulos/Margarita Tsomou, Athen: Metropolitane Blockade, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie, (2012) 61/62, S. 64–68.

  6. Vgl. Vassilis S. Tsianos/Dimitris Papadopoulos/Niamh Stephenson, This is class war from above and they are winning it, in: Rethinking Marxism. A journal of economics, culture & society, 24 (2012) 3, S. 448–457.

  7. Vgl. hierzu Anm. 5.

  8. Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, Frankfurt/M. 2011, S. 121.

  9. Étienne Balibar, Die Revolution von Oben, 2011, online: Externer Link: www.presseurop.eu/de/content/article/1205461-die-revolution-von-oben (7.8.2012).

  10. Ebd.

Dr. phil., geb. 1969; Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Fachbereich Sozialwissenschaften, Universität Hamburg, Allende Platz 1, Raum 136, 20146 Hamburg. E-Mail Link: vassilis.tsianos@wiso.uni-hamburg.de

Ph.D., DEA, geb. 1975; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre for Gender Studies der Panteion Universität, Projektkoordinator von "MIG@NET: Transnational Digital Networks, Migration and Gender". E-Mail Link: parsanoglou@gmail.com