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Von der Ungleichzeitigkeit der Kultur oder: das "schwierige Geschäft, Grieche zu sein" | Griechenland | bpb.de

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Von der Ungleichzeitigkeit der Kultur oder: das "schwierige Geschäft, Grieche zu sein"

Danae Coulmas

/ 15 Minuten zu lesen

Kultur ist paradox. Dem Geist der jeweiligen Epoche entspringend, aber vom Zeitgeist unabhängig, durchzieht sie unsere Geschichte. Das bedeutet nicht, dass sie nicht aktuell, auf konkrete Ziele hin orientiert und engagiert, ja militant sein kann. Es bedeutet, dass Kultur auch losgelöst vom Zeitgeschehen wie ein Strom in eigenen Rhythmen fließt. In souveräner Ungleichzeitigkeit. Auch in "dürftigen" Zeiten, wie Friedrich Hölderlin es nannte, oder – wie wir heute zu sagen pflegen – in Zeiten der "Krise".

"Wozu Dichter in dürftiger Zeit!" – Hölderlins Werk ist die Antwort auf seinen eigenen, am Zeitgeist verzweifelnden Sinn. Auf ihn, den Deutschen, bezieht sich der griechische Dichter Odysseas Elytis in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Jahr 1979: "Wie soll ich mich hier nicht auf Friedrich Hölderlin beziehen (…). Es ist eben das Übel, das uns auch heute bedrängt, das ihn aufrufen ließ: Wozu Dichter in dürftiger Zeit! Die Zeiten sind, leider Gottes, seit eh und je für den Menschen dürftig gewesen. Aber auch seit eh und je hat die Dichtung ihre Funktion erfüllt." Die Dichtung hat ihre eigene Zeit. Sie ist "kämpferische Unschuld" und insofern ein Widerstand gegen den Lauf der Dinge in der Welt. Elytis avisierte hiermit einen allgemeingültigen und übergreifenden Anspruch der Kultur, was keineswegs ein rein griechisches Phänomen ist. Auch wenn sie als aufklärerisches Element zu Homer zurückführt: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno lokalisieren die Dialektik zwischen Mythos und Aufklärung bereits in der "Odyssee".

In Griechenland indessen scheint es so zu sein, als hätten es Geschichte und Geschichtsschreibung einerseits und die Kultur andererseits bewusst und besonders häufig gemieden, auf dem selben Weg zu gehen. Dies wird im Bereich der Literatur deutlich: Sie ist Erinnerung, Bewältigung, Korrektur, Prophetie und trägt zur Erhaltung des humanen und zuweilen nationalen Bewusstseins bei – eine Ungleichzeitigkeit der Kultur, die man in diesem Rahmen nur anhand einiger Beispiele aus der Literatur und den "dürftigen" Zeiten streifen kann.

Ein Beispiel betrifft die Kultur in ihrem gesellschaftlichen Sinne in weit zurückliegender Vergangenheit. Sie tritt in geminderter Form zugleich als Garant eigener Identität in einer außerordentlich langen Geschichtsperiode des Landes in Erscheinung: während der osmanischen Herrschaft (1453–1821). Als die Renaissance in Europa, sich an der griechischen Antike orientierend, die Fundamente der Neuzeit setzte, befand sich Griechenland für 400 Jahre unter einer weitestgehend fremden Herrschaft. Kultur reduzierte sich auf ein Minimum, das heißt auf zwei elementare Bereiche: den christlichen Glauben und die kommunale Selbstverwaltung durch gewählte Vertreter. Beides waren Zeichen der, wenn auch punktuellen Toleranz der Besatzer – gewährt in der Hoffnung auf eine geregelte Steuereinziehung durch die Untergebenen selbst.

Die griechische Sprache lebte als genuine Identität weiter und fand ihren höchsten Ausdruck in anonymen, zum Teil revolutionären Volksliedern (die Besonderheit griechischer Volkslieder beeindruckte unter anderem Johann Wolfgang von Goethe, der sich auch als ihr Übersetzer versuchte). In diesen anonymen Liedern werden einige Formen und inhaltliche Elemente der Antike tradiert; in ihnen floss der Strom unabhängig von der "Zeit" weiter, auch wenn mitunter die Gegebenheiten der Zeit besungen oder beklagt wurden.

Näher an unserer Zeit und Erinnerung liegt die "Kleinasiatische Katastrophe" in den 1920er Jahren. Getrieben von der Megali Idea (Große Idee), der Vorstellung einer weiteren Befreiung von Gebieten der heutigen Türkei, die einen hohen griechischen Bevölkerungsanteil hatten – und zunächst mit der politischen und militärischen Unterstützung der Entente Cordiale – unternahmen die Griechen einen Feldzug ans kleinasiatische Ufer und entfachten einen Krieg, der mit einer gewaltigen Vertreibung und einem Bevölkerungsaustausch endete, der für beide Seiten einer ethnischen Säuberung gleichkam. Verloren ging damals neben der Heimat auch ein unwiederbringliches Gut: eine örtliche Lebenskultur, die Griechen und Türken nachweislich verbunden hatte.

Über diese Zeit ist in den folgenden Jahren in Griechenland viel geschrieben worden. Doch das erste Buch, das frei von beiderseitigen aggressiven Vorurteilen war, erschien erst im Jahr 1962: "Blutgetränkte Erde" von Dido Sotiriou. So lange hatte es gebraucht, um Wahrheit und Schmerz auseinanderhalten und auch sich selbst anklagen zu können – es war ein politischer, versöhnlicher Akt von besonderem Belang.

Ähnlich verhält es sich mit der "Bewältigung" der geschichtlichen Ereignisse in den 1940er Jahren. Wobei die Literatur und die Volkslieder während der deutschen Besatzung (1941–1944) – naturgemäß als Widerstand im Untergrund – mit der Geschichte Schritt hielten und sich auch nach der Befreiung als thematische Einheit fortsetzten.

Eine solche "Bewältigung" in Bezug auf die griechischen Bürgerkriege (1943–1944 und 1946–1949) findet hingegen erst ein Lebensalter später statt. Noch in den 1950er Jahren wurde sie von der restaurativen Politik der Regierenden regelrecht verhindert, indem "Linke" – eine gängige Pauschalisierung von Andersdenkenden – verfolgt wurden. Ein Meilenstein hinsichtlich der direkten wie auch indirekten Aufarbeitung der eigenen Geschichte samt autobiografischer Traumata ist das schmale Werk von Thanassis Valtinos "Der Marsch der Neun" (erstmals 1963 mit dem Originaltitel "Der Abstieg der Neun" erschienen). Frei von jeglichen Ideologemen zeigt er die Tragödie des eigenen Volkes.

In der Gegenwart – in der Zeit der sogenannten Krise – scheint sich in Griechenland diese Art der Ungleichzeitigkeit von Kultur in umgekehrter Richtung zu bewähren: Dichter aus längst vergangenen Zeiten werden in Presse und Medien, in Parlamentssitzungen und politischen Pressekonferenzen zitiert. Erstaunliches taucht auf wie etwa das Gedicht "In einer großen griechischen Kolonie, 200 v. Chr.", geschrieben im Jahr 1928 – ein Jahr vor der weltweiten Wirtschaftskrise – von dem international bedeutendsten griechischen Dichter aus Alexandria, Konstantinos Kavafis (1863–1933). Darin ist die Rede vom schlechten Zustand der "Kolonie", von "Reformatoren", die nach allem "fragen und ermitteln", sich "radikale Änderungen in den Kopf" setzen, "einen Hang zu Opfern" haben und, nachdem sie "alles bestimmt und es beschnitten haben", fortziehen, der Dinge harrend – man wird sehen "was noch übrig bleibt nach/solchem Meisterstück der Chirurgie". Welch Parallele! Des Dichters Ironie weist im Voraus auf das Ergebnis der heutigen gutgemeinten Operationen und Meisterstücke der Chirurgie. Sie stürzten das Land in eine zunehmend tiefere Rezession – und Depression.

Kultur als Widerstand

Griechenland befindet sich gegenwärtig in einer besonders schwierigen Lage. Armut und Arbeitslosigkeit steigen, die Abhängigkeit von ausländischen Krediten, die ohne korrigierende Maßnahmen zum wirtschaftlichen Aufbau gewährt werden, führt zu einem weitverbreiteten Unbehagen. Die verschuldete Klientelgesellschaft steht zweifellos vor einem Umbruch, der sich aber nicht so schnell vollziehen kann, wie es nötig wäre.

Währenddessen wächst das Aufbegehren gegen das "politische System" und die immer noch steuerflüchtigen ökonomischen "Oligarchen" innerhalb und außerhalb des Landes. Überhaupt: Schuldzuweisungen betreffen nicht nur die mysteriösen "Märkte" und die namentlichen Bewertungsagenturen, sondern auch sie selbst: Denker der Nation und Intellektuelle jeglicher politischer Couleur sprechen von nationaler Dekadenz, vom Niedergang, von einer humanen Katastrophe, in die man durch die globale hedonistische Konsumgier getrieben worden sei, und immer wieder vom Verfall der Werte.

In der Krise fällt das Moralisieren leicht – auch das ist kein ausschließlich griechisches Phänomen. Der Pessimismus treibt seit jeher in schweren Zeiten und mit den immer gleichen Begriffen seine bösen Blüten. Dabei kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass dieser Diskurs noch in seinen Anfängen steckt: Denn die Situation bleibt trotz glänzender und kontroverser Analysen unfassbar. Für die Wissenschaft von Interesse, für die Bevölkerung existenziell.

Griechenland und Deutschland

Zu den bösen Blüten der "Krise" gehören die getrübten Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland in breiten Schichten der Bevölkerung beider Länder. Die Animosität der Griechinnen und Griechen gegenüber ihrem – wichtigsten – Kreditgeber ist nicht allein auf dessen Politik zurückzuführen, auch wenn das Brüsseler Mnimonio (Memorandum) von einem großen Teil des politischen Spektrums infrage gestellt wird, wie die Ergebnisse der Parlamentswahlen im Mai und Juni 2012 deutlich zeigten. Sie liegt vielmehr in der Art und Weise begründet, wie diese Politik zum Ausdruck gebracht wird, und vor allem im Verhalten der Medien – insbesondere der deutschen.

Man muss hier darauf hinweisen, dass die deutsch-griechischen Beziehungen im Laufe der Zeit schon immer ungewöhnliche Höhepunkte und unerfreuliche, ja, fatale Tiefpunkte aufwiesen. Deutschland ist das Land, in dem sich in früheren Jahrhunderten der europäische Philhellenismus am stärksten entfaltete und das nach der Gründung des neugriechischen Staates den ersten "König der Griechen" stellte: Otto von Wittelsbach. Trotz positiver Leistungen misslang sein Regieren aufgrund des Aufeinanderprallens zivilisatorischer und kultureller Gegensätze und wird auch heute noch Wawarokratia (Bayernherrschaft) genannt.

Das Pendel schlug auch im 20. Jahrhundert oft um. Zunächst in Richtung einer ernsthaften bilateralen Annäherung im Zeitraum zwischen den zwei Weltkriegen, von der die Griechen erheblich profitierten, unter anderem durch das Studium an deutschen Universitäten. Darauf folgten der Überfall der Nationalsozialisten auf Griechenland und die Besatzungszeit (1941–1944), die den radikalen Bruch jeglicher Beziehungen bedeuteten. Einige Jahrzehnte später gewährte die Bundesrepublik Deutschland den griechischen Demokraten ihre Unterstützung gegen das Militärregime (1967–1974): durch tägliche, in Griechenland gehörte, gegen die Junta gerichtete Sendungen der "Deutschen Welle" und durch konkrete Maßnahmen seitens der höchsten politischen Instanz und mit bleibender Wirkung – wie die Befreiung von Giorgos A. Mangakis auf Druck der deutschen Regierung. Die Haltung der Bundesrepublik half, die vom Krieg herrührenden Ressentiments abzubauen. Es brach eine Zeit des Vertrauens an.

Heute hingegen bestimmen gegenseitige Animositäten die öffentliche Meinung in beiden Ländern. Griechischerseits macht sich Kritik – oftmals zusammenhanglos – an der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands fest, besonders in Karikaturen und im Kabarett. In Deutschland bedient man sich hierfür seltsamerweise der griechischen Antike: Die Akropolis wird in unsäglichen Erzeugnissen, schlimmer als ein Lord Elgin es je vermocht hat, bildlich zerstört, den Griechen wird der Verkauf des Parthenon angeraten.

Aber zur selben Zeit besinnen sich deutsche Autorinnen und Autoren auf Hellas als Inspirationsquelle und begriffliches Reservoir. So Günter Grass in seinem Gedicht über "Europas Schande" – dem einige sein antikisierendes Engagement zum Vorwurf machten – und auch andere, die mit Nachdruck das antike Erbe Europas in den Vordergrund stellen und sich gegenüber der – alten wie auch modernen – griechischen Kultur persönlich verpflichtet fühlen, wie Durs Grünbein es zum Ausdruck brachte.

Rezeption Griechenlands und griechisches Bewusstsein

Die griechische Antike hat im abendländischen Raum eine grundlegende Bedeutung, die sich am deutlichsten in Deutschland manifestiert. Zunächst in der besonderen Tradition des Zu-den-Quellen-Gehens, womit wir nicht nur Martin Luther assoziieren, sondern die Beschäftigung der Deutschen vornehmlich mit Hellas. Dadurch wurden sie im Rahmen des deutschen Idealismus im 19. Jahrhundert führend und vorbildhaft für Europa. "Direkt zu den Quellen!" hieß nicht mit Vergil nach Rom, sondern mit Homer zu den Anfängen. Der Philhellenismus wurde später, zur Zeit des griechischen Befreiungskampfes im 19. Jahrhundert, zu einer regelrechten Bewegung, welche die breiten Massen erfasste und sich auch in anderen Ländern ausbreitete bis hin nach Russland und Amerika – man eilte an Ort und Stelle den bedrängten Griechen zu Hilfe, in der ersten Reihe die Deutschen.

Nicht so in der Zeit davor. Die Idealisierung von Hellas als "edle Einfalt und stille Größe", wie Johann Joachim Winckelmanns Satz über die griechische Kunst folgenreich lautete, erklärt vielleicht die ängstliche Ferne, die "Abstinenz" vom realen Griechenland: Während all die "Reisenden" nach Griechenland fuhren, blieben sie – Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Hölderlin und viele andere – dem Land ihrer Sehnsucht fern. Das tat nichts zur Sache, ebenso wenig wie die Tatsache, dass die "Gräkomanie" zum tyrannischen Einfluss wurde: Hellas blieb auch im 20. Jahrhundert ein Orientierungs- und Identifikationspunkt. Eine Position, die bei den Nationalsozialisten einen tragikomischen Zug erhielt: Sich im Rahmen ihrer rassistischen Arier-Ideologie als Nachkommen der alten Griechen propagierend, überboten sie sich zu Beginn der Besatzung gegenüber dem leidenden Volk an verbaler Freundlichkeit und Fraternisierungsgesten, bis sich Griechinnen und Griechen im bewaffneten Widerstand organisierten und die Deutschen mit Massakern an Zivilisten des "arischen" Volkes anfingen. Auch im Nachkriegsdeutschland blieb Hellas in der deutschsprachigen Literatur präsent, aus vielfältigen, teilweise auch politischen Motiven bei so bedeutenden Autorinnen und Autoren wie Christa Wolf und Heino Müller.

Die Griechen selbst erfahren ihr Verhältnis zur eigenen Antike naturgemäß als eine gegebene Zugehörigkeit, die sich aber im Laufe ihrer bewegten Geschichte mitunter als ambivalent erweist. Das Pendel schlägt auch hier große Bögen: mal als Legitimation eines in den 1920er Jahren aufkommenden, elitären Hellenozentrismus und einer mystischen Vision von Welterneuerung; mal als ein tief verankertes Gefühl von schwerer Bürde, so empfunden von einem der bedeutendsten Dichter der sogenannten Generation der 1930er Jahre und Nobelpreisträger für Literatur 1963, Giorgos Seferis: "Wer die schweren Steine trägt versinkt:/die Steine da ich hielt sie solang ich’s ertrug (…) Verwundet von meiner eigenen Erde/versengt von meinem eigenen Gewand."

Und wieder schlug das Pendel um, als die Militärjunta – eine reine Usurpation der Macht, ohne Massenbasis, ohne Ideologie – den Ahnenkult bis zur Perversion missbrauchte: Hellas musste, neben Byzanz, zu Zwecken der Propaganda herhalten, definitorisch verdichtet in der Selbstdarstellung als "Christlich-Griechische Zivilisation" (ellinochristianikos politismos). In einer Reihe antidiktatorischer Texte, gehalten in der Signalsprache der Geknebelten, lehnten einige der Autorinnen und Autoren einen derartigen Identitätsfaktor ab: "Ich pfeife auf dich und deine Gesetze (…) hatte Antigone dem aufgeblasenen Kreon ins Gesicht gerufen. (…) Wunderschön dein goldnes Zeitalter, Perikles! Ein wahrer Albtraum, wo die Menschen lieber sterben als in der goldenen Aura deiner Ära zu leben!"

Das "schwierige Geschäft, ein Grieche zu sein"

Bedeutete das einen tieferen Eingriff in das eigene Bewusstsein? Man hatte auch ohnedies schon früher ein "Griechenland ohne Säulen" in den Vordergrund zu stellen versucht, um sich von dem Bild zu emanzipieren, das die anderen von den Griechen hatten und das seit Winkelmann den Blick für die geschichtliche Realität und die Gegenwart trübte. In Wirklichkeit geht es um mehr: um verschiedene Facetten einer schwierigen Selbstfindung. Denn wer kannte schon jene Verletzung von Seferis: "Wohin ich auch reise, Griechenland verletzt mich"? Wer kannte jenes ekstatische Bild Griechenlands, das Elytis als "blendendes Licht" beschrieb? Wer kannte vor allem jene Wahrnehmung des Griechentums als Romiosini bei Jannis Ritsos?

Romiosini, so nennt Ritsos das Volk, dessen Würde er in Gesten eines bescheidenen, humanen Alltags entdeckt und verehrt, wie in seinem Kampf gegen die Unterdrückung. Wegen seines militanten Engagements über Jahrzehnte verfolgt, gefangen und deportiert, setzt Ritsos das Volk vor diesen biografischen Hintergrund: "Beweine sie nicht, die Romiosini, auch wenn sie in die Knie gezwungen wird." Sie richte sich ja wieder auf. Seine Rede sitzt tief im Bewusstsein der Griechinnen und Griechen.

Wie stellt man es an, Grieche zu sein? Die Dichter sprachen es auf ihre Weise aus. Bei Konstantinos Kavafis heißt es in mündlicher Überlieferung: "Ich bin nicht Grieche, ich bin griechisch." Eine Beteuerung, die uns zu einem griechischen Kulturpatriotismus führt, jenseits von geografischen Grenzen.

Das vielfältige Bild Griechenlands im 20. Jahrhundert könnte man vervollständigen mit Zeichen, die von international namhaften Griechen gesetzt wurden, wie Landschaften im Nebel in Filmen von Theo Angelopoulos, marxistische und heraklitische Philosopheme von Kostas Axelos, imaginär Institutionelles von Kornelios Kastoriadis, mathematisch strukturierte, elektronische Kompositionen von Iannis Xenakis. Nicht zu vergessen das Werk von Nikos Kasantzakis und sein Geschöpf Alexis Sorbas, der vor allem durch die filmische Interpretation zu einem missverstandenen Romanhelden wurde und der in Wirklichkeit nicht nur, wenn alles in Trümmern liegt, Sirtaki am Strand tanzt (mit den Schritten von Anthony Quinn), sondern einen Prototyp menschlicher Herzensgröße und Weisheit darstellt.

Das 20. Jahrhundert brachte über das Land, das immer in die Geschicke Europas miteinbezogen war, mehrere Kriege und Diktaturen, Vertreibung, Besatzung und Bürgerkrieg, war aber ein für die Kultur großes Jahrhundert. Es war voller Höhepunkte, die nicht nur in der Schöpferkraft von einzelnen Personen begründet waren, sondern auch aus einer eigenartigen Verschmelzung entstanden: Die griechische Kultur erreichte in den 1960er und 1970er Jahren eine Ebene, in der es keine Trennung mehr gab zwischen der sogenannten höheren und der anderen, der populären Kultur. Der Demos war plötzlich Teilhaber und Rezipient einer Einheit. Manos Hatzidakis und Mikis Theodorakis vertonten in der Tradition des Rebetiko, des Volksliedes der Städte, auch Verse von Dichtern, die Weltgeltung errungen hatten: Seferis, Elytis, Ritsos. Hohe Lyrik und populäre Musik vereinten sich in Liedern, die bis heute von allen gesungen werden wie hierzulande Schlager – ein einzigartiges Phänomen in Europa.

Man hat es eine "massenübergreifende Eigenartigkeit des griechischen Geistes" genannt und ist davon überzeugt, dass jeder Hirte in Arkadien "genau versteht, was diese Dichtung sagen möchte" – von Theokrit und Vergil bis Poussin, Goethe und Schiller. Nicht irgendein Hirte, wohlgemerkt, sondern "Die Hirten von Arkadien", wie die europäische Tradition es verlangt. "Et in Arcadia ego" – Auch ich war in Arkadien: Lange ist es her, dass Goethe dies und auch das andere schrieb: "Das Land der Griechen mit der Seele suchend." Man hat es nicht nur mit der Seele gesucht, sondern auch mit dem Spaten. Und man wurde fündig und nahm mit.

Griechenland und Europa

Die Griechen sind noch in ihrer großen Mehrheit überzeugte Europäer. Giorgos Mangakis, ein prominenter Gefangener der Militärjunta, schrieb in seinem 1972 aus dem Gefängnis herausgeschmuggelten "Brief an die Europäer", dass die "Würde des Menschen unbezwingbar" ist. Sie sei wie "eine hochempfindliche Stahlfeder im Inneren des Individuums". Diese Stahlfeder war damals der Geist Europas, der ihn und sein Land in schwierigen Zeiten stützte. Der europäische Geist, die gemeinsame Kultur als Widerstand an sich. Damals war dies möglich. Heute schwindet der Glaube an ihre Wirksamkeit – zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg. Und umso größer ist die Angst, dass dies langfristig eine größere Gefahr für Europa bedeuten könnte als eine Wirtschaftskrise, denn sie könnte auch die mächtigsten EU-Mitglieder erreichen und dadurch ein vereintes Europa in illusorische Ferne rücken.

Indessen fragt man sich weiter, wie man "Grieche" sein kann. Die Antwort ist nicht verwegen. Sie liegt im Aufblühen der Kultur in der "Krise". Sie setzt heute ihre Zeichen: Übergreifend und von hoher Qualität entfaltet sie sich überall in Griechenland, im Dorf, in den Städten, im verwahrlosten, verletzten Athen und verweist auf die Zukunft. Neben den "gekürzten" Möglichkeiten kulturellen Ausdrucks im offiziellen Gewand brodelt freiwillig und "ohne Geld" in allen Sparten der Kunst ein Leben voller Lust, das ein begeistertes Publikum mitreißt, ein Publikum, um das es hauptsächlich geht: Kultur entsteht jetzt weitgehend in der Gesellschaft und für sie, vielfältig und spontan, politisch oder nicht, in alten Foren, den öffentlichen und privaten, und in den neuen, den elektronischen mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten.

Und die Dichter? Noch unbekannt, werden sie bald die „kämpferische Unschuld“ namentlich weitertragen. In Griechenland. Weiter nach Europa. Vielleicht in die Welt. So war es immer gewesen. "Wie soll ich mich nicht auf Hölderlin beziehen?", wie Elytis einst sagte. Noch früher, im Jahr 1959 im geteilten Deutschland, schrieb der deutsche Dichter Peter Rühmkorf im Stil und Geist Hölderlins, um auf seine Art seinen Zeitgenossen zuzurufen, was heute gehört werden sollte, in Griechenland, aber auch in Europa: "Dass ein künftig Geschlecht euch anständig spreche./Größe von eurer Größe zu nennen weiß/und Nein von Eurem Nein." Das immerwährende Nein der europäischen Kultur.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Rede am 8.12.1979, online: Externer Link: www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/1979/elytis-lecture.html (17.7.2012). Das Hölderlin-Zitat stammt aus "Brot und Wein".

  2. Vgl. Marilisa Mitsou, Literarisches Gedächtnis und Geschichtsschreibung in Griechenland: eine Parallele?, Beitrag zur Tagung "Erinnerungskultur und Geschichtspolitik der Okkupation Griechenlands 1941–1944", München vom 19.–21.7.2012.

  3. So werden angesichts der aktuellen Krise in Griechenland die Romane von Alexandros Kotzias "Erfundenes Abenteuer" (1985) und Maro Douka "In der Tiefe des Bildes" (1990) vermehrt genannt und wieder aufgelegt.

  4. Vgl. zur Zeitgeschichte den Beitrag von Loukas Lymperopoulos in dieser Ausgabe. (Anm. d. Red.)

  5. Etwa 1,2 Millionen Griechen mussten ihre Heimat in der heutigen Türkei verlassen, und etwa 380.000 Türken mussten aus ihren griechischen Heimatorten in die Türkei übersiedeln. Vgl. Richard Clogg, Geschichte Griechenlands im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1997, S. 130.

  6. Dido Sotiriou, Blutgetränkte Erde (Matoména chómata), Athen 1962. Der deutsche Titel lautet "Grüß mir die Erde, die uns beide geboren hat" (Dido Sotiriu), der türkische "Benden Selam (Ein Gruss von mir)" (Dido Sotiroglu).

  7. Thanassis Valtinos, Der Marsch der Neun, Berlin 1978. Vgl. auch ausführlicher: Danae Coulmas (Hrsg.), Griechische Erzählungen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 20012, S. 172–185.

  8. Vgl. Konstantinos Kavafis, Brichst du auf gen Ithaka …, Köln 20095.

  9. Otto Friedrich Ludwig von Wittelsbach (1815–1867), Sohn von Ludwig I. von Bayern; seine Regierungszeit begann 1832 und endete 1862 mit seiner erzwungenen Abdankung. Vgl. hierzu den Beitrag von Heinz A. Richter in dieser Ausgabe. (Anm. d. Red.)

  10. Giorgos A. Mangakis (1922–2011) war Professor für Strafrecht und wurde 1970 von der Militärjunta zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. 1972 wurde er nach Heidelberg berufen und anschließend mit einer Maschine der Bundeswehr nach Deutschland gebracht.

  11. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 25.5.2012.

  12. So Kai Hensel in einem Gespräch mit der Wochenzeitung "To Vima" vom 10.6.2012.

  13. Vgl. Durs Grünbein in einem Interview, in: ebd. vom 24.6.2012.

  14. Hermann August Korff, Geist der Goethezeit, Leipzig 1923. Vgl. auch: Esther Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik: Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945, Berlin 2004.

  15. Vgl. Eliza Marian Butler, Deutsche im Banne Griechenlands, Berlin 1948.

  16. Giorgos Seferis, Gymnopädie, II Mykene, in: ders., Poesie: griechisch–deutsch, Frankfurt/M. 19872, S. 67.

  17. Iro Lambrou, Die Exekution des Mythos … fand am frühen Morgen statt, in: Danae Coulmas (Hrsg.), Die Exekution des Mythos … fand am frühen Morgen statt, Frankfurt/M. 1973, S. 124f.

  18. Christian Enzensberger in seinem Nachwort zu G. Seferis (Anm. 16), S. 93.

  19. Jannis Ritsos (1909–1990) war 1977 Träger des Lenin-Friedenspreises.

  20. Jannis Ritsos, Achtzehn kleine Lieder der bitteren Heimat (Dekaochtó lianotrágouda tis pikrís patrídas), Athen 1973.

  21. Vgl. Marguerite Yourcenar, Présentation critique de Constantin Cavafy 1863–1933 suivie d’une traduction des Poèms, Paris 1958.

  22. Fatíma Jelówa, Leiterin der Abteilung für Neugriechische und Byzantinische Studien der Universität von Petersburg.

  23. Giorgos Alenxandros Mangakis, Freiheit, meine Geliebte, Baden-Baden 2001, S. 34.

  24. Peter Rühmkorf, Hymne, in: ders., Irdisches Vergnügen in g., Reinbek 1959, S. 51.

Geb. 1934; Publizistin, Schriftstellerin und Übersetzerin. E-Mail Link: dcoulmas@gmx.net