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Krise der repräsentativen Demokratie? | Parlamentarismus | bpb.de

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Krise der repräsentativen Demokratie?

Hubert Kleinert

/ 17 Minuten zu lesen

Seit einiger Zeit schon ist die Demokratie tüchtig ins Gerede gekommen. Allerhand Krisendiagnosen machen die Runde. Aus globaler Perspektive erscheint dies zunächst paradox. Schließlich ist die Zahl der Länder, in denen demokratische Wahlen abgehalten werden, seit dem Epochenbruch von 1989/90 stark angestiegen. Selbst in der arabischen Welt machen demokratische Bewegungen von sich reden. Diese Bewegungen finden wie eh und je in der Geschichte der Demokratie in der Forderung nach freien Wahlen für ein demokratisches Parlament ihren wichtigsten Bezugspunkt.

Zur gleichen Zeit freilich zeigen die klassischen Demokratien des Westens Auszehrungserscheinungen. Nicht nur, aber auch in Deutschland sind die Beziehungen zwischen politischen Eliten und der Bürgerschaft nachhaltig gestört, haben die klassischen Volks- und Großparteien Bindungskraft in die Gesellschaft verloren, sind Wahlbeteiligungsraten rückläufig und ist das Vertrauen in die Regelungskraft aller "etablierter" Politik zurückgegangen.

Während viele Institutionen der repräsentativen Systeme an Bedeutung und Legitimationskraft verlieren, findet die Forderung nach "plebiszitären" Elementen eine wachsende Anhängerschaft. Anlassbezogene Bürger- und Protestbewegungen vor allem gegen Großprojekte (wie "Stuttgart21" oder den Ausbau von Flughäfen) sind zum selbstverständlichen Teil einer politischen Kultur des Protests geworden, in der inzwischen auch die bürgerliche Mitte der Gesellschaft stark vertreten ist. Anzeichen von politischer Abstinenz und Apathie stehen neben einer wachen Bereitschaft zum Protest.

Auch die spektakulären Erfolge der Piratenpartei lassen sich als Ausdruck einer wachsenden Entfremdung zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und den Institutionen der repräsentativen Demokratie sowie als Sehnsucht nach einer anderen Form der Politik verstehen.

Dabei ist das Verlangen nach einer stärkeren und unmittelbaren Bürgerbeteiligung nicht ohne eine gewisse Paradoxie: Sind doch gerade in den vergangenen beiden Jahrzehnten viele solcher Elemente auf Kommunal- und Landesebene verankert worden. Inzwischen werden diese Vorschläge vermehrt auch für den Bund diskutiert. Viele sehen in Plebisziten ein Heilmittel gegen die grassierende Politik- und Parteienverdrossenheit. So spricht einiges dafür, dass die Barrieren in absehbarer Zeit fallen werden, die das Grundgesetz (GG) dagegen aufgebaut hat. Womöglich wird dabei sogar die Eurokrise zum Geburtshelfer werden: Wenn der mit Europa verbundene Souveränitätsverzicht nicht mehr durch das GG gedeckt sein sollte, würde eine dann nötige Volksabstimmung wohl kaum ein singulärer Vorgang bleiben.

Dabei ist der Bedeutungs- und Legitimationsschwund der Kerninstitutionen des repräsentativen Systems – Wahlen, Parteien, Parlamente und Regierungen – kaum vorrangig eine Folge des Mangels an Beteiligungsformen. Erstens haben sich längst andere Formen von Beteiligung und Kontrolle jenseits der bloßen Wahlhandlung etabliert, sodass es viel zu kurz greifen würde, unter dem Begriff der "direkten Demokratie" allein die Einführung von Volksabstimmungen zu verstehen. Andererseits ist nicht davon auszugehen, dass die Übernahme der entsprechenden Forderungen die Überzeugungs- und Regelungskraft der repräsentativen Institutionen einfach zurückbrächte. Deswegen muss die Frage nach den Chancen von Volksabstimmungen im Zusammenhang mit der Demokratieentwicklung insgesamt diskutiert werden.

Krisendiagnosen

Colin Crouch hat seine Diagnose im Begriff der "Postdemokratie" zusammengefasst. Danach würden die Institutionen des repräsentativen Systems formal zwar noch funktionieren. Real aber hätten sie ihre Macht längst an supranationale Strukturen und Akteure abgegeben. Aus dieser Sicht hat die Transformation der repräsentativen Demokratie in eine neue Form von Herrschaft bereits stattgefunden, und ihre Institutionen existierten nur noch als eine Art leere Hülle.

Auch für John Keane gehört in seinem monumentalen Werk "The Life and Death of Democracy" die repräsentative Demokratie der Vergangenheit an. An ihre Stelle sei eine monitory democracy getreten: "A form of post-representative democracy that is distinctively different from the assembly-based and representative democracies in past times." Charakteristisch für diese "post-parlamentarische" Ära sei ein rapides Wachstum verschiedener außerparlamentarischer Kontroll- und Einflussmechanismen. Diese führten dazu, dass die zentrale Rolle von Wahlen, Parteien und Parlamenten zugunsten der verschiedensten Formen zivilgesellschaftlicher Organisation und Kontrolle an Bedeutung verlören: "In the name of 'people', 'the public' or 'citizens' power-scrutinising institutions spring up all over the place. Democracy is no longer simply a way of handling the power of elected governments by electoral, parliamentary and constitutional means, and no longer a matter confined to territorial states."

Damit verbunden sei ein Übermaß, ja Überfluss an Kommunikation, die in den medialen Revolutionen ihre entscheidende Voraussetzung finde. In der monitory democracy seien Regierungen und Politik im Namen von Transparenz einem permanenten Durchleuchtungsprozess ausgesetzt, in dem auch die Grenzen zwischen Politischem und Privatem verschwimmen würden: "There seems to be no end of scandals; and there are even times, when scandals, like earthquakes, rumble beneath the feet of whole governments."

Hierzulande bestimmt bislang eine terminologische Unsicherheit die Analysen der Veränderungsprozesse. Die Meinung, dass die Institutionen des repräsentativen Systems gegenüber den Blütezeiten der Parteiendemokratie in den 1960er und 1970er Jahren einen Bedeutungsverlust erlebt haben, wird von vielen geteilt. Begriffe wie "Stimmungsdemokratie", "Mediendemokratie", "partizipatorische Demokratie", "deliberative Demokratie" oder "multiple Demokratie" versuchen, diese Veränderungen aufzunehmen. Doch ein allgemein akzeptierter Begriff für dieses Phänomen hat sich bislang nicht durchsetzen können.

Andere knüpfen ihre Analyse an den Verlust der Souveränität von klassisch nationalstaatlich verfassten Demokratien. Globalisierung und Europäisierung schüfen den Eindruck einer wachsenden Alternativlosigkeit politischer Entscheidungen. Da aber nur im nationalen Rahmen Demokratie nachvollziehbar ausgestaltet sei, unterminiere der Verlust an Souveränität und Steuerungskompetenz das Vertrauen in die repräsentativen Institutionen.

Wachsende Legitimationsprobleme werden auch als Folge einer veränderten Struktur von Öffentlichkeit gedeutet, in der sich das Verhältnis von Politik und Medien zum Nachteil der Politik verändert habe. Inzwischen bestimmten die Regeln medialer Inszenierung das Politikbild der Gesellschaft. Das dramaturgische Prinzip der Medien bringe ein Übermaß an negativer Politikberichterstattung hervor, das sich in wachsenden Ressentiments gegen die Politik widerspiegele. Der hektische Wettbewerb des "Quoten-Journalismus" begünstige dies zusätzlich.

In dieser "Mediengesellschaft" finde auch ein Rollen- und Funktionswandel der "intermediären Organisationen" wie Vereinen und Verbänden statt. Heute stünden sie weniger zwischen dem Einzelnen und dem Staat, sondern "eher als eine Veranstaltung vergemeinschafteter Individuen gegenüber dem Staat, als Kontrollinstanz und Stachel in deren Fleisch". Dies schwäche die Bedeutung von Parlamenten und Parteien.

Besondere Aufmerksamkeit findet die Analyse von Transformationsprozessen der Parteiendemokratie. Im Mittelpunkt steht dabei die Beobachtung, dass die für die Ausübung der Volkssouveränität in Form von Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen zentralen politischen Parteien einen Funktionswandel und einen Einflussverlust durchmachen. Der erosionsartige Mitgliederverlust namentlich der Großparteien, verbunden mit einer starken Überalterung der verbliebenen Mitglieder, schmälere folgenreich die Rekrutierungsbasis für geeignetes politisches Personal. Gleichzeitig sinke die Fähigkeit der Parteien zur Interessenaggregation und politischen Orientierung sowie, damit verbunden, auch ihre Fähigkeit zur politischen Integration. Die modernen professionalisierten Parteien agierten stärker selbstreferenziell denn als Artikulationsinstanz von gesellschaftlichen Interessen oder sozialen Milieus. Ihre innerparteiliche Demokratie schwinde. Ehrenamtliche Aktivisten seien zunehmend funktionslos und ihre Programmatik habe ihre Orientierung und sinnstiftende Wirkung in die Gesellschaft hinein verloren.

Kein Zweifel, dass sich mit der veränderten Rolle der Parteien auch die Demokratie selbst im Umbruch befindet. Dies zeigt sich am starken Rückgang des politischen Organisationsgrads der Bevölkerung (der sich gegenüber den 1970er Jahren mehr als halbiert hat), im Einbruch der sozialen Verankerung der Parteien, im Bedeutungsverlust klassischer Konfliktlinien für das Wahlverhalten und in der damit einhergehenden Fragmentierung der Wählerschaft. Dabei erodierten die Parteibindungen – mit entsprechenden Rückwirkungen auf eine wachsende Zersplitterung des Parteiensystems und einem wachsenden Druck auf die Großparteien, sich auf immer komplexeren "Wählermärkten" zu behaupten.

Während die konstitutionelle Sphäre der Demokratie, die zwischen den 1950er und 1970er Jahren ihren eigentlichen Kern ausmachte, deutlich geschwächt ist, hat die außerkonstitutionelle Sphäre der Demokratie an Gewicht gewonnen. Das Verlangen nach mehr "direkter Demokratie" in Form von Volksbefragungen ist dabei nur eine Ausdrucksform.

Ursachen und Hintergründe

Niemand kann übersehen, dass eine Reihe von Bedingungen, die für den Erfolg der Parteiendemokratie und die Integrationskraft des repräsentativen Systems in Deutschland und anderen vergleichbaren Ländern nach 1945 vorlagen, so nicht mehr vorhanden sind. Neben dem hohen Maß an sozialer Integration durch den Erfolg des sozial gebändigten Kapitalismus ist hier die trotz der Tendenz zur „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) lange weiterwirkende Links-Rechts-Dichotomie und die noch die 1970er Jahre prägende Kraft eines "korporatistisch" verfassten Systems der primär sozialen und ökonomischen Interessen- und Organisationsvertretung zu nennen. Diese Muster der Interessenvertretung fanden ihre ökonomische Basis im Zeitalter der industrialisierten "Kolonnengesellschaft", für die Großorganisationen charakteristisch waren. Gestützt wurde dies zusätzlich durch die stärker autoritär geprägten Mentalitätsstrukturen der Älteren, die eher weniger zu Formen des Individualismus und der Selbstorganisation disponierten.

Mit dem Wertewandel sind seit den 1970er Jahren neben die klassischen "Cleavages" (wie soziale Verteilungsfragen oder Konfessionalismus versus Säkularismus) neue Konfliktlinien getreten. Gleichzeitig haben sozialstrukturelle Wandlungsprozesse, verbunden mit der Bildungsexpansion, eine allmähliche Auflösung angestammter Milieubindungen geschaffen, die immer auch Wählerbindungen gewesen waren. Werterevolution, Pluralisierung von Lebensstilen und der mit der Protestkultur von 1968 verbundene Schub in Richtung Gesellschaftskritik und Selbstorganisation haben die Voraussetzungen für die klassische Interessenaggregation im System der Volksparteien allmählich untergraben.

Dabei ist die Schwächung der Rolle von Großorganisationen wie Kirchen und Gewerkschaften Ursache und Wirkung zugleich. Der Korporatismus zentralistischer Interessenorganisationen mit einer überschaubaren Zahl politischer Einflussakteure wich einer "neuen Unübersichtlichkeit", in der sich die im Repräsentativsystem organisierte Politik zunehmend mit der Widerständigkeit zersplitterter Partikularinteressen konfrontiert sah. Während die politische Integrationsleistung von Großorganisationen zurückging, veränderte sich das Politikbild der Gesellschaft und verschoben sich Engagementmotive von der Fixierung auf Gesellschaftsbilder und weltanschauliche Fundamente auf anlassbezogene Projektorientierung einer kritischer und selbstbewusster gewordenen Bürgerschaft. Ulrich Beck hat diese Veränderungen der "reflexiven Moderne" schon vor 20 Jahren analysiert: Während die "alte Politik" in Gestalt von Parteien, Parlamenten und Gewerkschaften an Kraft verlöre, werde das "Politikmonopol der etablierten Institutionen der klassischen Industriegesellschaft" durch eine neue "Subpolitik von unten" aufgemischt.

Dieser Prozess hält an und hat sich mit den medialen und digitalen Revolutionen zugespitzt. Während die mediale Politikpräsentation mehr hysterische Aufregungskonjunkturen hervorbringt als Maßstäbe zur Beurteilung komplexer Sachverhalte, hat der Siegeszug des Internets die Fundamente des demokratischen Systems in zwiespältiger Weise beeinflusst: Wo einerseits neue Chancen und Foren von politischer Information und Beteiligung geöffnet und auch genutzt werden, finden sich andererseits auch wachsende Erscheinungen von Flüchtigkeit und Maßstablosigkeit. Auch treten Bedürfnisse nach Unterhaltung und Konsum stärker in den Vordergrund. Besonders die "zweite digitale Revolution" hat mit dem interaktiven Potenzial des Web 2.0 die Möglichkeiten für netzgestützte Diskussionsforen geschaffen, auf die politische Repräsentanten zur Mobilisierung ihrer Anhänger ebenso zugreifen wie die einfachen Internetnutzer auf der Suche nach Gleichgesinnten. Nicht wenige sehen mit der politischen Vernetzung im virtuellen Raum neue Beteiligungschancen verbunden. Von ganz neuen Varianten der Basisdemokratie wird geschwärmt. Mit der Piratenpartei hat sich gar eine neue politische Kraft diese Hoffnungen zu eigen gemacht – mit einigem politischen Erfolg.

Bei allen Chancen sollte jedoch die demokratische Kraft des Internets nicht überschätzt werden. So stellt sich die Frage nach der Repräsentativität von Web-Partizipation ebenso wie die nach der Dauerhaftigkeit des politischen Engagements. Und der Zugang zum Netz kann bislang nicht allen Teilen der Bevölkerung gleichermaßen gesichert werden, was die ohnehin vorhandenen Gefahren einer Demokratie der gebildeten Mittelklassen weiter verschärft. Mit der Stimmabgabe am Bildschirm, heißt es, ließen sich Wahlbeteiligungsraten steigern. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht schon 2009 die Stimmabgabe an Wahlcomputern gestoppt, weil die Geräte keine Überprüfbarkeit der Ergebnisse gewährleisten konnten. Und zum Wesen der Demokratie gehören auch physische Präsenz, Rhetorik und Ausstrahlung, Konfrontationen von Angesicht zu Angesicht, Emotionen und soziale Erlebnisse. Dafür bietet das Netz keinen Ersatz. Entsprechend sind die Wirkungen des Internets auf die Demokratie zweischneidig. Ganz gewiss aber ist dem Medium selbst ein hohes Maß an Egalitarismus und Enthierarchisierung eigen. Auch das hat Folgen für die Demokratie, weil Distanzen sich noch weiter auflösen und die Organisation von Protest ebenso leichter fällt wie die Artikulation von Missbehagen aller Art.

In die Zeit der digitalen Revolution fällt auch die Schwächung der Steuerungskraft nationalstaatlicher politischer Systeme zugunsten supranationaler Organisationsformen und die de facto Regelungskraft anonymer Märkte. So ist eine demokratisch selbstbewusstere, kritische, weniger homogene und weniger integrierte Bürgerschaft heute mit einem politischen System konfrontiert, dessen Leistungsfähigkeit geschwächt ist. "Aus vielen unterschiedlichen Quellen speist sich seit etwa 1980 eine tiefe Transformation der Nachkriegsdemokratie: Das Selbstverständnis des Staates hat sich ebenso gewandelt wie der Blick der Bürgerinnen und Bürger auf die demokratische Staatsordnung; verändert haben sich Organisationsmuster und Handlungsformen ebenso wie institutionelle Spielregeln und Mentalitäten."

Direkte Demokratie: Heilmittel?

Das Verlangen nach Einführung direktdemokratischer Verfahren in Form von Volksentscheiden liegt im Trend einer widerspruchsvollen Demokratieentwicklung, die sich durch kritisches Bürgerengagement im "außerkonstitutionellen" Bereich, gleichzeitig aber auch durch Politikabstinenz und Politikverdruss bei rückläufiger Bedeutung der konventionellen Institutionen des Parlamentarismus auszeichnet. Die Umsetzung solcher Forderungen entspräche einem modernen Verständnis vom "kooperativen Staat", das politisches Handeln stärker an kommunikativ ausgehandelte Regelungen statt an klassische Formen hierarchischer Steuerung bindet.

Die starken Vorbehalte des GG gegenüber direktdemokratischen Verfahren – Volksabstimmungen sind nur bei einer Neugliederung der Länder sowie im Falle der Verabschiedung einer neuen Verfassung vorgesehen – sind eine Konsequenz, die aus den Erfahrungen von Weimar gezogen wurde. Sie waren Ausdruck des Zweifels der bundesrepublikanischen Gründergeneration an der demokratischen Reife der Deutschen. Die Destabilisierung der Weimarer Republik sei in der Kombination von Volkswahl des Präsidenten, präsidialem Notverordnungs- und Parlamentsauflösungsrecht, präsidialer Befugnis zur Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers sowie Volksbegehren und Volksentscheiden angelegt gewesen. Hinzu kam das Bestreben, den provisorischen Charakter der Staatsgründung zu unterstreichen, indem auf eine Volksabstimmung zum GG verzichtet wurde.

Die Kraft der historischen Argumente gegen die Einführung von Plebisziten auch auf Bundesebene erscheint nach gut 60 Jahren demokratischer Stabilität erschöpft. Deshalb sollten andere Argumente maßgeblich sein: Welcher Gewinn für die demokratische Kultur wäre zu erwarten? Welche Rückwirkungen hätten Volksbegehren und Volksabstimmungen auch auf Bundesebene für das Funktionieren der repräsentativen Institutionen? Welche Erfahrungen sind in anderen Ländern gemacht worden?

Erfahrungen europäischer Länder

Ein Vergleich mit dem europäischen Ausland zeigt, dass in zehn westeuropäischen Staaten jede Änderung von Verfassungsbestimmungen direktdemokratisch legitimiert sein muss. Ein obligatorisches Referendum kennen zwar nur Dänemark, Irland und die Schweiz. Aber in den übrigen Ländern kann eine Verfassungsänderung nur dadurch zustande kommen, dass ein neu gewähltes Parlament sie billigt. In Dänemark benötigt jede Verfassungsänderung die Zustimmung von 40 Prozent der Wahlberechtigten. Ein fakultatives Verfassungsreferendum kann in Spanien von einem Zehntel, in Österreich von einem Drittel der Mitglieder einer der beiden Parlamentskammern herbeigeführt werden. Die Möglichkeit einer verfassungsändernden Volksgesetzgebung besteht dagegen nur in der Schweiz.

Darüber hinaus haben die Bürgerinnen und Bürger in einigen europäischen Ländern auch die Möglichkeit, über einfache Gesetze abzustimmen. Eine unmittelbare Volksgesetzgebung, bei der Initiative und Entscheidung auf gesamtstaatlicher Ebene bei den Bürgern liegen würde, gibt es allerdings kaum. Häufiger besteht die Möglichkeit des fakultativen Referendums. Ein solches Referendum über ein einfaches Gesetz kommt in Italien, Portugal und der Schweiz auf Initiative einer bestimmten Anzahl von Bürgern zustande, in Dänemark auf Verlangen eines Drittels der Abgeordneten. In der Schweiz genügen dafür 50000 Stimmbürger. 100000 Bürger können Aufhebung, Änderung oder Neuschaffung eines Verfassungsartikels verlangen. Bei unseren Nachbarn haben die Stimmbürger jedes Jahr über durchschnittlich sechs Verfassungsänderungen zu entscheiden. Dazu kommen zwei bis vier Gesetzesreferenden. In Italien gibt es ein Referendum zur Aufhebung von Gesetzen. Dabei wird neben mehrheitlicher Zustimmung auch die Teilnahme von 50 Prozent der Stimmberechtigten verlangt. In Frankreich, Griechenland, Portugal und Irland können Referenden "von oben" durch Staatspräsidenten oder Regierungen angesetzt werden. In Großbritannien, Finnland, Schweden, Norwegen und den Niederlanden gibt es die Möglichkeit zu unverbindlichen konsultativen Volksabstimmungen. In aller Regel fühlt sich die parlamentarische Mehrheit an das Ergebnis gebunden.

Mit seiner grundsätzlichen Distanz gegenüber Plebisziten steht die deutsche Verfassung in Europa ziemlich allein. Andererseits aber lässt außer der Schweiz kein europäisches Land auf gesamtstaatlicher Ebene so weitreichende Möglichkeiten für Plebiszite zu, wie das die meisten deutschen Länder inzwischen tun. Eine Übertragung dieser Regelungen auf die Bundesebene würde Deutschland demnach in Europa von den hinteren Rängen einer Plebiszite-Skala auf einen vorderen Platz hieven.

Bei den Wirkungen auf die politische Kultur und das Verfassungsgefüge ginge es vor allem um die konkrete Ausgestaltung eines solchen Volksabstimmungsgesetzes: Über was soll abgestimmt werden können? Welche Quoren sollen nötig sein? Soll es "nur" die Möglichkeit der fakultativen Volksbefragung über vom Parlament beschlossene oder nicht beschlossene Gesetze geben oder auch die Möglichkeit einer originären Volksgesetzgebung?

Eher wenig spricht für die Hoffnung, dass ein Volksabstimmungsgesetz ein bedeutendes Gegenmittel zur grassierenden Politikverdrossenheit werden könnte. Denn der Vergleich mit anderen europäischen Ländern zeigt, vom Sonderfall Schweiz abgesehen, dass die Möglichkeit von Plebisziten kein zuverlässiger Indikator für Systemzufriedenheit und Partizipationsneigung ist. Ein Volksabstimmungsgesetz würde – je nach seiner Ausgestaltung – die Funktionsweise des politischen Systems mehr oder weniger verändern. Eine Partizipationsrevolution würde es kaum auslösen.

Konsequenzen von Plebisziten für das politische System

Plebiszite verschieben die Balance zwischen Volk, Parlament und Regierung. Bereits ihre Möglichkeit kann das Handeln von Parlamenten beeinflussen und die Spielregeln des parteipolitischen Wettbewerbs verändern. Je nachdem, wie stark sie genutzt werden, können sie eine Monopolstellung der Parteien im politischen Wettbewerb erschüttern. Eine Monopolstellung allerdings, die sie schon heute kaum noch besitzen, sondern an Medien und andere zivilgesellschaftliche Akteure abgegeben haben, welche die politische Agenda bestimmen. Das Ausmaß dieser Gewichtsverschiebung wäre bestimmt durch die konkreten Regularien eines Volksabstimmungsgesetzes. Bleibt das Plebiszit eine seltene Ausnahme, werden sie sich in Grenzen halten. Das zeigen nicht nur andere europäische Länder – mit Ausnahme der Schweiz. Es zeigt auch die Praxis der deutschen Bundesländer. So hat es etwa in Hessen in 65 Jahren aufgrund der strengen Quorumsregelungen nicht ein einziges erfolgreiches Volksbegehren gegeben.

Zweifellos ermöglicht ein Plebiszit eine stärker an Sachfragen orientierte Opposition, mit der ein Gegenakzent zur wachsenden Personalisierung und Entpolitisierung der politischen Berichterstattung verbunden sein könnte. Hohe Zulassungshürden von 50 beziehungsweise 25 Prozent der Stimmberechtigten würden aber das Instrument eher zahnlos machen. Insofern steckt der Teufel buchstäblich im demokratischen Detail: Ohne ein Quorum, das die Unterstützung eines beträchtlichen Teils der Stimmbürgerschaft zur Zulassungsvoraussetzung eines Volksbegehrens und eine beachtliche Abstimmungsbeteiligung zur Voraussetzung für die Verbindlichkeit des Votums macht, besteht die Gefahr eines Übergewichts aktivistischer Minderheiten. Dies würde den überproportionalen Einfluss, den bürgerliche Mittelschichten in der "post-konventionellen" Demokratie von heute längst ausüben, noch vergrößern. Je höher aber das Quorum ausfiele, umso geringer wären die Chancen, diese Elemente der politischen Kultur auch mit Leben zu füllen.

Das Beispiel Schweiz zeigt, dass nur besonders kontrovers diskutierte Themen hohe Beteiligungsraten erreichen; diese liegen im Mittel bei knapp 40 Prozent. Allerdings verändert sich die Funktionsweise des Systems schon dadurch, dass die Opposition ein zusätzliches Instrument zur Hand hat. Das ist die Grundlage für jene Besonderheit der Einbeziehung aller relevanten politischen Akteure in die Regierungsverantwortung, die wir als schweizerische "Konkordanzdemokratie" kennen. Um ein Gesetzgebungsvorhaben abzusichern, muss die Legislative das Vorhaben "referendumsfest" machen, was in der Regel durch Einbeziehung der "referendumsfähigen" Interessengruppen schon in der Phase der exekutiven Konzipierung von Gesetzen geschieht. Das aber mindert den Einfluss des Parlaments, das kaum noch die Möglichkeit hat, ausgehandelte Kompromisse zu modifizieren. Demnach schwächt die Referendumsdemokratie den parlamentarischen Teil der Legislative.

Bei der Verfassungsinitiative von unten spielen die Organisations- und Finanzkraft der Initiatoren eine zentrale Rolle. Hier ist an das kalifornische Beispiel zu erinnern, wo 1978 eine Mehrheit der Stimmbürger einem Verfassungszusatz zugestimmt hatte, der die Höhe der Grundsteuer begrenzte. Das brachte das Land an den Rand des Staatsbankrotts und zwang zu drastischen Ausgabenkürzungen. Abstimmungsinitiativen können nicht nur die Macht von politischen Eliten begrenzen, sondern auch zum Vehikel gut organisierter Sonderinteressen werden, die über die nötigen materiellen Ressourcen für eine erfolgreiche Kampagne verfügen.

In den Studien zur Schweizer Demokratie gilt als ausgemacht, dass ihre stark ausgebauten direktdemokratischen Elemente die Integrationskraft des politischen Systems verbessern und die Legitimität von Entscheidungen vergrößern. Andererseits aber werden Entscheidungsprozesse verkompliziert und verlängert. Rasche politische Reaktionen sind selten. Mitunter fühlen sich auch viele Stimmbürger durch die Komplexität der abzustimmenden Fragen überfordert. Das gilt freilich nicht für Vorlagen, die grundlegende demokratische oder weltanschauliche Fragen berühren wie etwa das Stimmrechtsalter, die Schweizer Armee oder die Ausländerpolitik.

Gerade die hohen Beteiligungsraten bei Themen der Ausländer- und Zuwanderungspolitik haben aber auch ihre problematische Seite: Es sei hier nur an die Verfassungsinitiative erinnert, die im Jahr 2009 das Verbot von Minaretten durchgebracht hat. Die Befürchtung, hier könne eine Einbruchstelle zu ressentimentgeleitetem politischem Populismus geöffnet werden, kann deshalb nicht einfach abgetan werden. Und eine direktdemokratische Öffnung, die Bürgerinnen und Bürger in ein enges Netz von abstimmungsfähigen und nicht-abstimmungsfähigen Fragen zwingt, könnte wieder neue Legitimationsprobleme bescheren.

Starke direktdemokratische Elemente könnten auch die Muster des parteipolitischen Konkurrenzkampfs verändern. Zunächst aber würde wohl die Versuchung im Vordergrund stehen, die neuen Instrumente als zusätzliches Mittel oppositioneller Profilierung zu nutzen.

In Konflikt geriete die schweizerische Spielart der "Referendumsdemokratie" ganz sicher mit der besonderen Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland. Gegenüber dem Souverän ließe sich die heute so selbstbewusste Rolle eines mächtigen Verfassungsgerichts, das es gewohnt ist, Exekutive wie Legislative zu zügeln, kaum durchhalten.

Bleiben Plebiszite die große Ausnahme, beschränkt auf wenige grundsätzliche Fragen, ansonsten in ihrer Wahrnehmung begrenzt durch prohibitive Quoren, würde sich an der Funktionsweise des parlamentarischen Repräsentativsystems nicht viel ändern. Kann ein solches Instrument aber kräftig genutzt werden, so würden sich die Rollen von Parteien und Parlamenten weiter verschieben. Damit aber würden Plebiszite nur institutionell verlängern, was längst geschieht: die Begrenzung der Macht von Parlamenten und Parteien durch allumfassende Transparenz und mediales agenda setting. Es wäre ein weiterer Schritt auf dem Weg in eine "nachklassische" Demokratie, in dem die außerkonstitutionellen Elemente stärker und die konstitutionellen Elemente schwächer werden.

Wohin das führen wird, scheint ungewiss. Es ist aber wahrscheinlich, dass dem Gewinn an Transparenz und Partizipationschancen ein weiterer Verlust an politischer Legitimation und Steuerungskompetenz gegenüberstehen wird. Fraglich ist, ob das im Zeitalter globalisierter Finanzmärkte der Demokratie gut tun würde. Unübersichtlichkeit und Fragmentierung werden zunehmen. Ob das im Ergebnis die Demokratie als Selbstregierung des Volkes wirklich stärken wird, kann durchaus bezweifelt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2009.

  2. Vgl. John Keane, The Life and Death of Democracy, London 2010.

  3. Ebd., S. 688.

  4. Ebd., S. 689.

  5. Ebd., S. 741.

  6. Vgl. Paul Nolte, Was ist Demokratie?, München 2012, S. 421ff.

  7. Vgl. Thomas Meyer, Mediokratie, Frankfurt/M. 2001; Hans Matthias Kepplinger, Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft, Freiburg i.Br. 1998.

  8. P. Nolte (Anm. 6), S. 424.

  9. Vgl. u.a.: Klaus von Beyme, Funktionswandel der Parteien, in: Oscar W. Gabriel/Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Wiesbaden 20022; Hubert Kleinert, Abstieg der Parteiendemokratie?, in: APuZ, (2007) 35–36, S. 3–11; Heinrich Oberreuter, Parteiendemokratie am Wendepunkt, München 1996.

  10. Vgl. Matthias Machnig, Organisation ist Politik, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, (2001) 3, S. 30–40; Uwe Jun, Parteiendemokratie im Wandel, in: PVS, 41 (2000), S. 347–353; Ulrich von Alemann, Das Parteiensystem der BRD, Opladen 20033.

  11. Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen, Frankfurt/M. 1993, S. 149ff.

  12. P. Nolte (Anm. 6), S. 370.

  13. Vgl. Gunnar Folke Schuppert/Michael Zürn (Hrsg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, PVS-Sonderheft, Wiesbaden 2008; Arthur Benz (Hrsg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004.

  14. Vgl. Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, Wiesbaden 20094, S. 13f.

  15. Vgl. ebd., S. 40ff.

  16. Vgl. Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien, Opladen 19972, S. 253ff.; Wolf Lindner, Das politische System der Schweiz, in: W. Ismayr (Anm. 14), S. 567ff., S. 575ff.

  17. Vgl. P. Nolte (Anm. 6), S. 405.

  18. Vgl. M.G. Schmidt (Anm. 16); W. Lindner (Anm. 16).

Dr. phil., geb. 1954; Professor für Politik und Verfassungsrecht an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung, Abteilung Gießen.
E-Mail Link: hubert.kleinert@hfpv-hessen.de