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Social Reading – Lesen im digitalen Zeitalter

Dominique Pleimling

/ 14 Minuten zu lesen

Das Lesen von Büchern ist eine einsame Beschäftigung. Es erfordert Muße, Ruhe und Zeit, was sich auch an den Metaphern zeigt, die gemeinhin mit Lesen in Verbindung gebracht werden: Ich kann in einem Buch versinken, mich darin vertiefen, in die Geschichte eintauchen. Doch der solitäre Lesevorgang wird zunehmend durch Möglichkeiten der Interaktion und Kommunikation aufgebrochen, wie sie das Internet bereitstellt.

Zwei Entwicklungen, die nicht nur die Buchbranche, sondern alle Medienunternehmen erfasst haben, kulminieren bei diesem Vorgang des vernetzten Lesens: die Digitalisierung von Medieninhalten, in diesem Fall Bücher, und die Entstehung des social web, das es allen Internet-Nutzerinnen und -Nutzern ermöglicht, content zu schaffen und diesen mit anderen zu teilen, zusammenzuarbeiten und in Netzwerken zu kommunizieren. Digitale Texte können öffentlich gelesen, kommentiert und diskutiert werden; das Lesen von Büchern wird zu einem sozialen Prozess, für den sich mittlerweile der Begriff social reading durchgesetzt hat. Unter social reading wird im Folgenden verstanden: Ein online geführter, intensiver und dauerhafter Austausch über Texte. Diese knappe Definition ermöglicht es, den Begriff von ähnlich gelagerten Phänomenen abzugrenzen, während er für zukünftige technische Innovationen offen bleibt.

Social reading in seiner heutigen Ausgestaltung hat verschiedene analoge und digitale Verwandte: Die zwei wichtigsten sind book clubs und Online-Communities. Ganz ohne Internet und unter Ausschluss einer breiten Öffentlichkeit wird Literatur in Lesekreisen verhandelt – vor allem in den USA haben diese book clubs eine nicht zu unterschätzende Wirkung für die Rezeption von Texten. Hier trifft sich eine bestimmte Gruppe von Menschen, um über ein Buch, das im besten Fall alle Teilnehmer gelesen haben, zu diskutieren. Diese Gespräche werden in den seltensten Fällen dokumentiert und weiterverbreitet, sie werden – ebenso wenig wie die beiläufigen Gespräche über Bücher beim Abendessen, auf einer Zugfahrt und in unzähligen weiteren Alltagssituationen – nicht Teil eines breiteren Diskurses.

Im Internet finden Gespräche über Bücher überall dort statt, wo Menschen miteinander in Kontakt treten: in Foren, Blogs, Sozialen Netzwerken und Ähnlichem. Der Austausch ist hier zumeist unstrukturierter als in Lesekreisen und geht selten über ein bloßes Bewerten des Gelesenen hinaus. Er steht aber im Gegensatz zu diesen meistens einer breiteren Gruppe von Menschen offen, die zudem ohne Rücksicht auf Raum (also lokal ungebunden) und Zeit (es gibt keine konkreten Termine und Treffen) kommunizieren können. Auch bleiben die Äußerungen der Beteiligten erhalten, sie werden sozusagen im Netz gespeichert – wobei die mangelnde Struktur diese theoretische Dauerhaftigkeit beziehungsweise Persistenz wieder weitestgehend negiert.

Lesen in der virtuellen Gemeinschaft

Social reading in der oben genannten Definition findet vielmehr in thematisch fokussierten Foren und Communities statt. Diese eröffnen den Nutzern die Möglichkeit, auch tiefer gehend und über längere Zeit hinweg über einen oder mehrere Texte zu sprechen. Durch die spezifische Foren- beziehungsweise Ordnerstruktur sind diese Einlassungen auch später noch nachzuvollziehen und damit in persistenter Form vorhanden.

In diesen speziellen Leser-Communities können die Nutzer darüber hinaus ihr individuelles Leseverhalten dokumentieren, ihre Markierungen, Annotationen und Zitate teilen und das Gelesene bewerten. Mit zehn Millionen Mitgliedern und 360 Millionen katalogisierten Büchern ist die amerikanische Seite "goodreads.com“ die größte Plattform für social reading. Neben den oben genannten Funktionen wird Goodreads auch intensiv für Gespräche über Bücher genutzt: So finden sich alleine zum siebten Band von "Harry Potter“ knapp 350 verschiedene Themen, die von den Leserinnen und Lesern zur Diskussion gestellt werden, und über 2200 topics, in denen auf besagtes Buch Bezug genommen wird. Die Beteiligung liegt zwischen einem und 500 Kommentaren zu dem jeweiligen Punkt, die Bandbreite der Themen umfasst vom Austausch über den Plot, die Verfilmung, die Autorin Joanne K. Rowling, Songs zu Harry Potter bis hin zur sexuellen Orientierung des Zauberers Dumbledore und dem Online-Portal „pottermore.com“ jedes vorstellbare Detail.

Auch die deutsche Community Lovely Books bietet vergleichbare Funktionen an und bringt Buchliebhaber miteinander ins Gespräch. Diese Services sind für den Nutzer zwar kostenlos, aber dahinter stecken natürlich ausgefeilte Geschäftsmodelle: Verlage können Anzeigen schalten, um für ihre Novitäten zu werben, und darüber hinaus auch Aktionen buchen, die zumeist mit dem gemeinsamen Lesen und Diskutieren eines bestimmten Buches verbunden sind. In sogenannten Testleserunden tauschen sich Mitglieder der Community, die ausgewählt beziehungsweise ausgelost wurden und ein Gratisexemplar des Buches durch den Verlag erhalten haben, über das Werk aus und schreiben abschließend eine Rezension. Der Verlag erhofft sich dadurch ein gewisses mediales Grundrauschen, einen buzz, und bestenfalls die virale Verbreitung möglichst positiver Äußerungen über sein Buch. Die simple Kopierbarkeit von Inhalten ermöglicht es den Lesern, ihre Meinungen auf verschiedenen Portalen zu veröffentlichen und auf Amazon, Facebook, Twitter, in ihren Blogs und anderswo zu posten – diese Netzwerkeffekte macht sich der Verlag zunutze, die Community dient hierbei sozusagen als Katalysator.

Im Idealfall bringt dies für alle Beteiligten Vorteile mit sich, indem der Leser Gleichgesinnte findet und sich mit diesen austauscht, der Verlag einen kommunikativen Raum für das zu bewerbende Buch öffnet und der Betreiber der Community (im Falle von Lovely Books die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, zu der unter anderem der Rowohlt und der S. Fischer Verlag gehören) für das Vermitteln der Leser, die Bereitstellung der Plattform und die Moderation der Testleserunden durch einen Community-Manager entlohnt wird.

Weitere Formen der Monetarisierung sind denkbar: E-Books können mit unterschiedlichen Preismodellen verkauft werden – als ganz normale Textvariante, mit einer eingebauten "Standleitung“ zum Autor, der Fragen beantwortet, oder mit exklusiven Leserunden, bei denen der Autor mittels eines Videostreams zu einem bestimmten Termin sozusagen aus dem E-Book heraus mit dem Leser oder einem book club kommuniziert.

Die beschriebenen Netzwerke übertragen das analoge Phänomen der Lesekreise und book clubs in die digitale Welt mit ihren sämtlichen Möglichkeiten, allen voran die Unabhängigkeit von zeitlichen und räumlichen Begrenzungen. Ein wirklich neuartiges Lesen und Sprechen über das Gelesene stellen sie allerdings nicht dar.

Bücher in Browsern

Spannender sind innovative Formen des social reading, die den Lesevorgang mit der Diskussion über Literatur verschmelzen. Das Berliner Start-up-Unternehmen Readmill antwortet auf die Frage "Why make a book digital and not make it shareable?“ mit einer interaktiven Leseoberfläche als App, die das einfache Markieren von bestimmten Textpassagen erlaubt. Diese Markierungen sind für alle anderen Nutzer der Plattform sichtbar, sie können wahlweise ein- und ausgeblendet und natürlich auch in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter geteilt werden. Im Unterschied zu den oben genannten Communities ist hier also ein synchroner Austausch über das Gelesene möglich – direkt nach dem Lesen eines Satzes oder eines bestimmten Abschnitts können Anmerkungen verfasst oder die Notizen anderer Leser kommentiert werden. Theoretisch ermöglicht Readmill also Diskussionen anhand konkreter Textstellen, das gemeinsame diskursive Durchdringen von Literatur auf Wort- und Satzebene. In der Praxis sind diese intensiven Gespräche aber noch die Ausnahme.

Wie ein Ausschöpfen der aus den technischen Gegebenheiten resultierenden kommunikativen Möglichkeiten aussehen könnte, hat Bob Stein – Gründer des New Yorker Institute for the Future of the Book – anhand von Doris Lessings Buch "The Golden Notebook“ demonstriert: Der komplette Text ist im Browser abrufbar und wurde von November 2008 bis Februar 2009 von sieben Journalistinnen, Kritikerinnen und Autorinnen gemeinsam gelesen. Die Anmerkungen der Leserinnen wurden dabei neben den einzelnen Seiten angezeigt und beziehen sich direkt auf diese. Es entspannen sich Diskussionen zum gerade Gelesenen, die bis zu 20 Kommentare pro Seite umfassen und beispielsweise Lessings Darstellung von Männer-Stereotypen thematisieren. Konkrete Textstellen werden diskursiv erfahrbar und die neu entstehenden Texte, sogenannte Paratexte, treten mit dem eigentlichen literarischen Text in eine dauerhafte Verbindung – sie sind auch heute noch online. Für den geneigten Leser verändern sie die Rezeption, regen zum weiteren Nachdenken, zur Zustimmung oder zur Ablehnung an. Sie erweitern, um mit dem Philosophen Paul Ricœur zu sprechen, die Welt des Textes und die des Lesers gleichermaßen.

Auch der Autor des diskutierten Werkes kann sich über die Reaktionen auf seinen Text informieren oder sich sogar aktiv an dem Gespräch beteiligen – hier eröffnet social reading eine direkte Verbindung zwischen Verfasser und Leser. All diese neu entstehenden Paratexte bereichern das Buch, sie zeigen vielfältige Interpretationen auf, dokumentieren seine individuell-subjektive Rezeption, geben dem Autor (oder auch dem Lektor) auch nach Erscheinen des Buches eine Stimme.

Die Frage nach der Qualität dieser Diskussionen und dem Grad der Beteiligung ist müßig, das Internet ist keine eigenständige Sphäre, die anderen Regeln folgt als die "Offline-Welt“ (vielmehr verschwimmen die Grenzen zwischen ihnen). Ebenso wie sich im "echten Leben“ nur relativ wenige Menschen in Literaturkreisen intensiv mit Büchern auseinandersetzen, wird dies auch im Virtuellen nur eine Minderheit von Lesern tun. Durch die Unabhängigkeit von Zeit und Raum ermöglicht das Internet aber gerade für sie die Möglichkeit, Gleichgesinnte zu finden und mit diesen zu kommunizieren. Da dieser Austausch zumeist öffentlich stattfindet, kann die "schweigende Mehrheit“ bei Bedarf und ad hoc Diskussionen zu bestimmten Büchern verfolgen.

Gläserner Leser

Doch nicht alles ist schön in dieser neuen Bücherwelt. Große Verlage und Buchhändler beobachten die Leser ebenfalls mit Interesse und verstehen social reading auf eine etwas andere Weise. Während man gemütlich mit dem E-Book-Reader ein Buch liest, schauen einem diese Unternehmen über die Schulter – und zeichnen alles auf: "Your E-Book Is Reading You“, wie das "Wall Street Journal“ treffenderweise schrieb. Die Daten geben ein genaues Abbild des individuellen Leseverhaltens wieder und lassen in der Summe bestimmte Trends und Tendenzen erkennen: Wie lange braucht der durchschnittliche Leser für "Shades of Grey“, welche Kapitel überspringt er in "Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“, welche Begriffe sucht er besonders häufig im Spanien-Reiseführer?

Mit diesen und weiteren Informationen entstehen ganze Leserbiografien, Landkarten literarischer Vorlieben und Abneigungen, die alle einem Zweck dienen: der besseren Kenntnis des Kunden, einer genaueren Vorstellung der anvisierten Zielgruppen und damit schlussendlich passgenaueren Angeboten und Werbung, die den Umsatz ankurbeln sollen. Big data ist hier das Schlagwort, der gläserne Leser die Voraussetzung. Die Erkenntnis, dass lange Sachbücher selten zu Ende gelesen werden, hat bereits zu neuen Produkten wie etwa den nook snaps geführt – in Deutschland verlegen unter anderem Suhrkamp (Edition Suhrkamp Digital) oder Campus (Keynote) Mini-E-Books zu verschiedenen aktuellen Themen wie Fukushima, der Occupy-Bewegung oder der Euro-Krise.

Inwieweit die entstehenden Datenberge aber wirklich die Buchwelt umkrempeln, ist schwer abzusehen. Gerade Amazon, der Buchhandelsgigant, der zunehmend auch als Verlag agiert, könnte über die Häufung bestimmter Suchbegriffe oder markierter Stellen ein verstärktes Interesse an bestimmten Themen registrieren und Bücher dazu lancieren – vor allem im Sachbuch- und Ratgeberbereich liegt dies im Bereich des Vorstellbaren. Dies geht einher mit dem Phänomen der mass customization, die es dem Nutzer ermöglicht, Bücher online zu kreieren und zu bestellen – hierzulande beispielsweise vom Münchner Verlag Gräfe & Unzer oder auch von Dr. Oetker realisiert, die individualisierte Kochbücher drucken.

Die Möglichkeiten für die Belletristik sind allerdings eingeschränkt: Dass ein literarischer Autor sein Buch überarbeitet, weil im sechsten Kapitel 67,9 Prozent der Leser einige Seiten überspringen, scheint eher unwahrscheinlich. In Bezug auf Klassiker kündigte Jonathan Galassi, Verleger von Farrar, Straus & Giroux, bereits an: "We’re not going to shorten ‚War and Peace‘ because someone didn’t finish it.“

Spannender als die entstehenden Möglichkeiten für Schriftsteller sind eher die neuen Geschäftsmodelle der Datensammler, die mit dem stark wachsenden Segment der ohne Verlag publizierenden Autoren, self publisher genannt, Geld verdienen wollen. So erfährt der interessierte Autor/Verleger bei Hiptype, dem amerikanischen Anbieter von data-driven publishing, dass der durchschnittliche Bestseller 375 Seiten umfasst, eine weibliche Hauptfigur hat, ein romantisches Sujet behandelt und 3,99 US-Dollar kostet. Für individuelle Datenanalysen berechnet Hiptype ab 20 US-Dollar im Monat.

Die Leser bekommen einen Ausschnitt der gesammelten Daten zu sehen. Die beliebtesten Markierungen von Nutzern des Amazon-Lesegeräts Kindle werden bei Amazon in anonymisierter Form angezeigt. So kann man besonders wichtige oder eindrückliche (sofern man der Schwarmintelligenz vertraut) Zitate finden und sich diese auch während der Lektüre auf seinem E-Reader anzeigen lassen. Diese Option stellt aber ein bloßes Gimmick dar und dient nicht der Diskussion und des Austauschs wie etwa bei Readmill, vielmehr trägt das "frisch gekaufte Buch (…) schon die Spuren früherer Leser, so wie schlecht behandelte Bände aus der Bibliothek“. 19 der 25 häufigsten Markierungen stammen dabei aus der "Tribute von Panem“-Trilogie, während die Bibel das Buch mit den meisten virtuellen Unterstreichungen ist.

Auch der kanadische Amazon-Konkurrent Kobo bietet ähnliche Möglichkeiten, legt aber einen stärkeren Schwerpunkt auf Vernetzung und Interaktion mit seinen Angeboten Reading Life und Kobo Pulse. Darüber hinaus wird das Lesen durch Spielelemente angereichert (gamification): Für durchlesene Nächte, möglichst viele abgeschlossene Lektüren oder auch das Lesen zur Frühstückszeit wird man mit virtuellen Abzeichen belohnt und kann sich so mit seinen Freunden messen.

Die Erfahrungen mit sozialen Netzwerken, die immer stärkere Nutzung von Cloud-Diensten (Datenspeicherung im Internet) und die soziale Anreicherung von Google-Suchergebnissen lassen einen Proteststurm gegen die Nutzung der gesammelten Daten durch Buchhändler und Verleger unwahrscheinlich erscheinen. Wenn ohnehin schon private Fotos in Facebook auftauchen, die Sicherung wichtiger Dokumente in Dropbox geschieht, Bankgeschäfte online getätigt werden und cookies persönliche Bewegungsprofile im Internet aufzeichnen, wird die Überwachung des eigenen Leseverhaltens eher keinen allzu großen Unmut hervorrufen.

Vielmehr rückt vor allem ein anderes Element, das den Konsum von E-Books reguliert, immer mehr in den Mittelpunkt der Kritik: der Kopierschutz. Eigentlich soll das sogenannte Digital Rights Management (DRM) die illegale Verbreitung von virtuellen Gütern mittels Tauschbörsen und ähnlichen Angeboten verhindern – unerwünschte Nebeneffekte sind aber die erschwerte Nutzung durch technisch weniger versierte Nutzer und auch die Einschränkung von Community-basierten Social-reading-Angeboten. Offene Plattformen wie Readmill können nur mit einem E-Book ohne DRM sinnvoll genutzt werden – kopiergeschützte Bücher sind hingegen in ihrem jeweiligen Apple-, Amazon- oder Adobe-Ökosystem gefangen. Hier steht ein Austarierungsprozess zwischen der berechtigten Sorge der Rechteinhaber vor Piraterie und den Interessen der Leser erst am Anfang.

Social Reading in Wissenschaft und Bildung

Communities wie Lovely Books und Goodreads, Plattformen und dazugehörende Lese-Apps wie Readmill und die eher subkutan verlaufende Protokollierung von Millionen weltweiter Lesevorgänge: Egal wie social reading auch immer ausgestaltet ist, sowohl die freiwillig veröffentlichten als auch die von Unternehmen aufgezeichneten Daten bieten Wissenschaftlern reiches Material. Mit kommunikationssoziologischem Blick kann das Rezeptionsverhalten einer großen Anzahl von Lesern untersucht werden, Literaturwissenschaftlern bieten sich neue Einblicke in Leser-Leser- und Autor-Leser-Interaktionen und – eine langfristige Archivierung und Kompatibilität der Daten vorausgesetzt – auch für Historiker und Kulturwissenschaftler eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten.

Ähnlich den mittelalterlichen Marginalien und den mit Bleistift an den Rand geschriebenen Notizen können in der Rückschau intellektuelle Biografien einzelner Personen oder Personengruppen gezeichnet werden. Insgesamt gesehen erlaubt social reading nie dagewesene Einblicke in Leseprozesse – und das sogar unter Umgehung von bisherigen methodischen Schwierigkeiten. Klassischerweise wird das Leseverhalten mit Fragebögen ermittelt, wobei aber neben den oft kleinen Stichprobengrößen auch das Problem der sozialen Erwünschtheit auftritt, die Antworten also verfälscht werden, um den Befragten in einem möglichst positiven Licht zu zeigen. Vor allem bei den mehr oder weniger kontinuierlich und zumeist unbemerkten Datensammlungen durch Amazon und Co. sind beide Probleme der empirischen Forschung weitestgehend ausgeschlossen. Die Anonymisierung der Daten muss hierbei natürlich unter allen Umständen gewährt sein.

Auch im Bildungsbereich besitzt social reading großes Potenzial. Schülerinnen und Schüler sowie Studierende können Texte auch jenseits von Klassen- und Seminarräumen diskutieren, wahlweise mit oder ohne Einbindung des Lehrers/Dozenten. Die Möglichkeit, bestimmte Textstellen in den Marginalien zu diskutieren und die Markierungen und Notizen der Lerngruppe anzeigen zu lassen, führt unter Umständen zu fokussierterem Arbeiten. Der interkulturelle Austausch kann durch geeignete Plattformen mit mehrsprachigen Texten von social reading profitieren und neue Einblicke in die unterschiedlichen Rezeptionstraditionen ermöglichen.

Zukunft des Lesens

Angesichts der zunehmenden Digitalisierung unseres Lebens stellt sich allerdings eine viel globalere Frage: Ist die Zeit des Lesens vorbei, wie etwa Nicholas Carr mutmaßt? Sie wäre dann ein äußerst kurzes Intermezzo in der Geschichte der Menschheit gewesen – von der "Leserevolution“ im ausgehenden 18. Jahrhundert, die das individuelle, leise Lesen unterschiedlichster Texte einläutete, bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts – und uns stünde die Wiederkehr der Vergangenheit bevor, in der nur eine ausgewählte Minderheit diese Kulturtechnik beherrschte. Die Hochphase der Literatur, der Belletristik, wäre dann – Leser und Autoren stehen schließlich in einer Wechselbeziehung – ebenfalls vorbei: "Bücher und Bücherlesen (steuern) auf ihren kulturellen Lebensabend zu.“ Auch die Thesen des Hirnforschers Manfred Spitzer gehen in eine ähnliche Richtung und warnen vor der drohenden "digitalen Demenz“.

Interessanterweise legt gerade der Erfolg von social reading eine optimistischere Zukunftsperspektive für das Lesen nahe: Schließlich müssen die Bücher, über die gerade in Chats, Foren, Sozialen Netzwerken oder Plattformen gesprochen wird, auch irgendwann gelesen worden sein (Bücher übrigens, die – wie ein Blick auf die Bestsellerliste verrät – nicht unbedingt immer dünner werden). Im Zeitalter der Digitalisierung wird Lesen wieder sozialer und nähert sich damit der Situation vor der Leserevolution nur insofern an, als dass Texte wieder zunehmend gemeinschaftlich rezipiert werden – damals durch das Vorlesen in Gruppen, heute durch "Bücher mit Internetanschluss“. Social reading greift also in die Vergangenheit zurück und verbindet sie mit dem noch recht jungen Phänomen des stillen Lesens. Statt eines Kulturpessimismus – der in ähnlicher Form übrigens auch jene oben erwähnte Leserevolution begleitete und vor den negativen Auswirkungen massenhafter Lektüre warnte – wäre ein offener Umgang mit den neuen Möglichkeiten, aber auch den Herausforderungen für die Kulturtechnik des Lesens gewinnbringender und im Sinne einer wachsenden Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien förderlicher.

Gerade die oben erwähnte gelungene Verbindung von Offline und Online bringt die Potenziale von social reading auf den Punkt. Die individuelle, stille Lektüre von Büchern verbindet sich mit den reichen Interaktionsmöglichkeiten des Internets und schafft so kommunikative Räume für den Text. Diese wirken wiederum zurück auf den Leser, den Autor und vielleicht auch auf die Gespräche in book clubs und Lesekreisen. Um mit der amerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison zu sprechen: "Reading is solitary, but that’s not its only life. It should have a talking life, a discourse that follows.“

M.A., geb. 1981; wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Buchwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität, 55099 Mainz. E-Mail Link: pleimling@uni-mainz.de
Externer Link: http://twitter.com/d_pleimling
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