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Zur Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland und Europa

Jürgen Bönig

/ 14 Minuten zu lesen

Wenn wir aktuelle Bilder und Schilderungen von Kinderarbeit sehen und hören, fällt uns sofort Kinderarbeit in Europa im 18. und 19. Jahrhundert ein – "Das ist doch wie früher bei uns!" Konflikte um Kinderarbeit in der Industrialisierung, die Aufdeckung ihrer zerstörenden Wirkungen und die sich lang hinziehende Auseinandersetzung um Einschränkungen und Verbote im 19. Jahrhundert sind Teil des populären historischen Gedächtnisses, obwohl Ausmaß und Wandel der Arbeit von Kindern vor, in und nach der Industrialisierung gar nicht genau untersucht und feststellbar sind.

Was unterscheidet die Arbeit von Kindern am Beginn der Industriellen Revolution in Europa von der Kinderarbeit heute? Worin gleichen sich die Entwicklungsprozesse und Konflikte um Erwerbsarbeit in frühen Lebensjahren?

Der Kampf gegen eine Arbeit, welche die Zukunft der Kinder versperrt, ist ein Resultat einer veränderten Wahrnehmung der Entwicklung des Menschen: Was verstehen wir unter "Kind", wie begreifen wir das Aufwachsen von Kindern, und wie verstehen wir uns selbst? Die Aufklärung hat den Menschen vielfach und neu als veränderbar und durch seine Arbeit selbst geworden erfahren. Deshalb verlangte sie auch für die Phase der Kindheit eine Beschränkung der Arbeit, um das Erwachsenwerden des einzelnen Menschen nicht zu behindern.

Die Erfindung der Kindheit

Das Grimmsche Herkunftswörterbuch kannte "Kind" und "Kindheit" in Texten vor dem 19. Jahrhundert nur in der Bedeutung einer Abstammung, im Sinne von "Kind sein von …". Oder das Wort diente der Bezeichnung patriarchalischer Herrschaftsverhältnisse außerhalb der Familie, als "Landeskind", im Sinne eines unmündigen, zu bevormundenden Untertanen. Ein Moment der Veränderung war darin noch nicht enthalten, der gesellschaftliche Status schien für das ganze Leben festgeschrieben.

Im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts änderte sich die Gesellschaft radikal und mit ihr die Vorstellung, was Kindheit sei: Sie wird seitdem als eine gesonderte, ausgedehnte Phase aufgefasst, in der Körper und Geist sich wandeln und der mündige Mensch aus dem Kind erst hervorgeht. Entsprechend setzte sich die Ansicht durch, dass in diesen Prozess des Erwachsenwerdens gezielt einzugreifen sei, müssen doch Gelegenheit und Zeit vorhanden sein, damit er gelingt. Lernen wird demnach als etwas Anderes, Offeneres als die bloße Nachahmung einer vorgemachten Arbeit verstanden, als etwas Anderes als das Einfügen in Vorgegebenheiten, für das vermeintlich keine besonderen Anstrengungen notwendig seien. Demzufolge könne Erwerbsarbeit in der Kindheit die Bedingungen für gelungenes Erwachsenwerden zerstören und die körperliche und geistige Entwicklung hemmen, sodass womöglich kein kompetenter Bürger entstehe.

Die Vorstellung, ein Kind brauche eine besondere Phase der Erziehung, eine geschützte Zeit, in der es das lernt, was es für das Leben in der Gesellschaft braucht, ist selbst ein Kind der Aufklärung: Die Zeit des Lernens und Erwachsenwerdens sollte nach Möglichkeit nicht durch körperlich überbeanspruchende, das Lernen verhindernde oder den Spaß an der Arbeit vergällende Tätigkeiten und Bedingungen geprägt sein. Die Idee, dass sich der einzelne Mensch im Laufe seines Lebens verändere, entstand somit in einer Gesellschaft, die selbst auf Veränderung, Neuheiten und Wachstum angelegt war – im Gegensatz zur Feudalgesellschaft, die im Bewusstsein einer unveränderlichen gesellschaftlichen Ordnung ein starres Bild vom Kind als kleinen Erwachsenen hatte.

In der neuen bürgerlichen, kapitalistischen und industrialisierten Gesellschaft waren die alten persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse durch freie Verträge und Vereinbarungen ersetzt worden. Ein Teil des Schutzes, den patriarchalische Bevormundung auch den Kindern bot, ging daher verloren. Die Freiheit von persönlichen Abhängigkeitsbeziehungen, Gewerbefreiheit und Vertragsfreiheit befreiten auch von dem Schutz, den die Herren als Gegenleistung für die Abhängigkeit gewähren sollten. Neue Regeln und Schutzmechanismen mussten erst durchgesetzt und erkämpft werden, nachdem sich die unbeschränkte Freiheit des Gewerbes als gefährdend für die Menschen, die Gesellschaft und den Staat erwiesen hatte. Wer sorgte nun – nach der Ausweitung von schutzloser Kindererwerbsarbeit im 18. und 19. Jahrhundert – für die Durchsetzung von Einschränkungen und Verboten?

Kleine Erwachsene in der Agrargesellschaft

Die Vorstellungen eines fertig auf die Welt kommenden Menschen gehen auf eine agrarisch geprägte Feudalgesellschaft zurück, die im Wesentlichen persönliche Abhängigkeiten kannte, in der jeder Mensch in eine bestimmte Schicht und Aufgabe hineingeboren schien, in der Veränderung und Aufstieg die Ausnahme bildeten und in der soziale Verhaltensweisen und Arbeit in persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen in der Familie gelernt wurden.

Kinder waren in dieser Gesellschaft lebenswichtig für die Eltern, unter anderem als Arbeitskräfte, als eine Absicherung gegen Krankheit und als Versorgung im Alter. Erst viele Kinder boten eine gewisse Sicherheit, weil die Sterblichkeit in den ersten Lebensjahren außerordentlich hoch war und der Nachwuchs die einzige Zukunftssicherung darstellte. Die Beeinträchtigung der Kinder durch überbeanspruchende Arbeit in diesen persönlichen Anleitungsverhältnissen war also wirtschaftlicher und existenzieller Not geschuldet.

Was Kinder in einer mehr oder weniger langen Kindheit lernen sollten, hing von der sozialen Schicht ab, in die sie hineingeboren wurden. Es gab eben auch Kinder, die eine umfangreiche Ausbildung genossen – wenn sie aus der richtigen Familie stammten. "Fürstenspiegel" und andere Anleitungen, wie sich ein guter Herrscher zu verhalten habe, belegen, dass Adlige das Herrschen in einer längeren Phase lernen sollten, also keineswegs alle Menschen als fertig, mit allen Fähigkeiten auf die Welt gekommen, betrachtet wurden.

Die meisten anderen, die nicht zum Herrschen bestimmt waren, lernten sich in die Gesellschaft einzufügen, den Gehorsam gegenüber den Herren und die Arbeit in der Familie, beim Bauern oder Lehrherren durch direkten Kontakt, Zusehen und Nachahmen. Nach allem, was wir wissen, war die Phase der Kindheit relativ kurz – vielleicht bis zum siebten Lebensjahr. Und sie war für Mädchen kürzer als für Jungen, weil die Mütter ihre Töchter sehr früh in die Hausarbeit einführten – als Teil einer Ökonomie des Haushaltes, die auf Verarbeitung, Konservierung und Zubereitung der notwendigen Lebensmittel und Herstellung von Kleidern und übrigen Ausstattung des Hauses gerichtet war.

Weit bis in das 20. Jahrhundert hinein gab es für Kinder Arbeiten in der Familie und für die Familie, die zur Ökonomie des Haushaltes beitrugen und nicht in Geld gerechnet wurden. Sie flossen unmittelbar als Leistung, als Produkt, als fertiges Essen oder Wohnung in Nutzung und Lebensunterhalt der Familie ein. Dass durch Kinderarbeit der Beitrag zur Wirtschaft der Familie eine Überbeanspruchung der eigenen Kinder zustande kam, ist vermutlich äußerst selten der Fall gewesen.

Veränderung der Gesellschaft – Veränderung der Kindheit

Man sollte sich die Zeit, als die meisten Menschen für Naturalien und nicht für Geld arbeiteten, nachträglich nicht allzu romantisch vorstellen. Die Gesellschaft war durch persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, patriarchalische Gewalt und Mangel bestimmt. Die Gewissheit, zu einem bestimmten Stand zu gehören und das diesem Zustehende zu bekommen, war erkauft durch die Schranken und Fesseln der Standesgebote. Und längst nicht allen konnte die feudale Gesellschaft sicheres Einkommen, Unterkommen und Stand garantieren. Dies galt insbesondere gegen Ende der Epoche hin, als Erwerbsfreiheit und Geldwirtschaft die ständischen Beschränkungen aufzulösen begannen. Erbteilung, Überführung der Feudallasten in sogenannte Ablösungen (Geldzahlungen) und neu aufkommende Gewerbezweige mit neuen wirtschaftlichen Chancen für die Grundbesitzer verwehrten immer mehr Menschen den Lebensunterhalt auf dem Lande und zwangen sie dazu, in Lohnarbeit auf dem Lande oder in der Stadt ihr Geld zu verdienen.

Zur Zeit der Bauernbefreiung in Preußen, ein langwieriger Prozess, der im Wesentlichen zwischen 1830 und 1859 stattfand, hatte beispielsweise die Hälfte der auf dem Land Lebenden keinen Grundbesitz mehr und musste sich anderen Erwerbsquellen zuwenden oder in der Landarbeit verdingen. Das vom Staat geförderte Manufakturwesen kam ohne die Kinder gar nicht aus. In den Armen-, Zucht- und Waisenhäusern, welche die Nöte der Dorf- und Stadtarmut zu lindern versuchten, stand die Erziehung zu Fleiß und Erwerbstätigkeit im Mittelpunkt. Dort sollten Kinder durch Arbeit und strenge Regeln lernen, von eigener Anstrengung und Arbeit zu leben und nicht von Almosen.

Am Ende bestand die preußische Bauernbefreiung aus der Ablösung der feudalen Lasten in Geld, sodass alle Beteiligten dazu gezwungen waren und zugleich die Freiheit hatten, ihre Produkte auf den Markt zu bringen. Dies markierte den Übergang von einem persönlichen Arbeitsverhältnis zu einer Arbeit gegen Lohn für die ganze Familie – einschließlich der Kinder.

In den neuen Verhältnissen mit Gewerbe- und Vertragsfreiheit wurde nun nicht mehr zusammen für ein Naturalergebnis gearbeitet, von dem ein Teil abgeliefert werden musste. Es wurde kein Produkt hergestellt, das notfalls selbst genutzt und verzehrt werden konnte, sondern eines, um damit Geld zu verdienen – ein Arbeitsergebnis, dessen Herstellung, Bearbeitung und Preis ein anderer bestimmte, der damit ebenfalls Geld verdienen wollte. In diesen Gesellschaftsverhältnissen gewann Kinderarbeit eine neue strategische Qualität. Sie diente dem Druck auf den Lohn der Erwachsenen, die selbst kaum Möglichkeiten hatten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Kinderarbeit im Fabriksystem

In der entstehenden Industrie und im Gewerbe wurden Kinder für verschiedenste Aufgaben eingesetzt – beim Raddrehen an Maschinen, an Spinnmaschinen, beim Töpfern, Kleiderrupfen, im Bergbau als Grubenpferdeführer, Kohlenschlepper, Lorenzieher und Öffner für Wettertüren. Schilderungen und Abbildungen dieser Kinderarbeit kamen nun vermehrt an die Öffentlichkeit, nicht weil es vorher keine Kinderarbeit gab, sondern weil die neuen Erwerbszweige und -methoden den Grundbesitzern und traditionellen Gewerbetreibenden ein Dorn im Auge waren. Sie versorgten die einschlägigen Untersuchungskommissionen in England, das in der Industrialisierung voranging, mit Zeugenaussagen, Bildern und entsprechenden moralischen Bewertungen, die dann Eingang fanden in zahlreiche Publikationen, unter anderem in Karl Marx’ "Das Kapital".

Kinderarbeit erschien vielfach als notwendig, als angemessener Einsatz körperlich kleiner Arbeiter, weil die Flöze und Gänge niedrig waren, der Platz unter den Maschinen beschränkt, die Nische hinter den Wettertüren winzig. Aber die allmähliche Durchsetzung eines Verbots der Kinderarbeit in den Fabriken zeigt, dass nicht die technischen Bedingungen über den Einsatz der Kinder entschieden, sondern deren geringer Preis. (Vgl. Abbildungen in der PDF-Version)

Bekannt sind die Abbildungen der Spinnmaschinen aus England, unter denen Kinder die herabfallenden Fasern fortschaffen. Im Museum of Science and Industry in Manchester lässt sich an bewegten Maschinen nachvollziehen, welchen Gefahren diese Kinder ausgesetzt waren: Beim Vorlauf der transmissionsgetriebenen Maschinengestelle, bei denen der Vorfaden durch Drehen gesponnen wurde, krochen sie unter die ausgespannten Fäden, fegten die ölverschmierten Baumwollfasern zusammen und mussten sich sehr beeilen, darunter wieder herauszukommen, weil in zwei bis drei Sekunden die Spulenreihe zurückfuhr und den gesponnen Faden aufwickelte. Schafften sie es nicht, wurden sie zwischen heranrasender Maschinenreihe und Maschinengestell zerquetscht – ein Grund, warum für diese Tätigkeit vor allem Waisenkinder eingesetzt worden sein sollen. Dies waren meist Kinder, für deren Unterhalt die Eltern nicht mehr aufkommen konnten und die deshalb gegen Zahlung von Geld in Armen- und Waisenhäuser gegeben wurden – also nicht immer Waisen im eigentlichen Sinne.

Doch nicht nur die niederkonkurrierten Gewerbetreibenden schürten die Empörung gegen die Kinderarbeit, auch die entstehende bürgerliche Aufklärungsbewegung und die Arbeiterbewegung wollten die Konkurrenz durch niedrig bezahlte Arbeitskräfte einschränken. Auf diesen Prozess reagierte der Staat mit einer bis zum Ende des 19. Jahrhunderts charakteristischen Kombination aus moderater Gewerbeeinschränkung und gleichzeitiger Unterdrückung derjenigen Handwerker-, Gewerbetreibenden- und Arbeiterorganisationen, die den Schutz ihrer Interessen in Selbstorganisation übernehmen wollten. Der Staat fürchtete so sehr, dass Untertanen und Bürger sich organisierten, dass er den Schutz des Arbeiternachwuchses vor der physischen Ruinierung durch Einzelunternehmer selbst übernahm – allerdings in äußerst zögerlicher Weise.

Eine Rolle spielte dabei, welche Zeit und welche Bedingungen die Kinder brauchten, um für die neu entstehende Gesellschaft zu lernen und mit dem Erlernten in Zukunft Arbeit zu bekommen. Im 18. und 19. Jahrhundert musste ein Kind bedeutend mehr lernen als in den Jahrhunderten zuvor. Lesen und Schreiben war nicht mehr auf höhere Kreise beschränkt. Die sich explosionsartig ausbreitende Lesekultur des 18. Jahrhunderts zeigt, dass rasch viel mehr Menschen lesen konnten.

Abschaffungsargument soldatische Untauglichkeit

Ein Argument, das den Staat auf seine Schutzaufgabe hinwies, hatte eine besondere Wirkung: nämlich die Erfahrung, dass zu frühe und intensive Fabrikarbeit die Menschen derart zerstörte, dass sie nicht mehr als Soldaten taugten. Sowohl in England als auch in Preußen war der Anteil für den Militärdienst Untauglicher in den industriellen Provinzen höher als in den ländlichen Bezirken. Dieser Unterschied war sicher nicht nur durch die krankmachende Arbeit bedingt, sondern ebenso durch die schlechten Wohn- und Ernährungsverhältnisse.

Ausgehend von der Auseinandersetzung in England ist die Arbeit von Kindern in Fabriken zunehmend eingeschränkt worden, beispielsweise in Preußen durch das Regulativ vom 9. März 1839 durch Friedrich Wilhelm III. (1770–1840). In der Vorbereitung dieses Regulativs wies der federführende preußische Generalleutnant Wilhelm von Horn nachdrücklich auf die Gefahr der Zerstörung der Rekrutierungsgrundlage der Armee hin.

Schaut man sich das entstandene Regulativ an, so stellt sich heraus, dass die soldatische Untauglichkeit zwar ein gutes politisches Argument, aber nicht der eigentliche Grund für das staatliche Handeln war. Der entstehende Nationalstaat hatte nämlich ein Loyalitätsproblem, dem der Schulunterricht unter staatlicher Kontrolle abhelfen sollte. Bisherige Reichsformen hatten immer auf die Gefolgschaft der Bevölkerung gegenüber den Landbesitzern und einer schwachen übergeordneten Regierungsinstanz gebaut. Mit der Entstehung des Nationalstaates musste dieser auch dafür sorgen, dass die Loyalität vor allem dem Staat und nicht mehr (nur) dem Grundherrn galt.

Anfänge schulischer Bildung

Im ersten preußischen Regulativ zur Kinderarbeit ging es hauptsächlich um das Verhältnis von Erwerbsarbeit und schulischer Erziehung. Das Regulativ bestimmte, dass niemand "vor zurückgelegtem neunten Lebensjahr" in einer Fabrik oder bei Berg-, Hütten- und Pochwerken zu einer regelmäßigen Beschäftigung angenommen werden durfte. Das Verbot wurde auf 16 Jahre ausgedehnt, wenn ein Kind keinen schulischen Nachweis vorlegen konnte, dass es "seine Muttersprache geläufig lesen kann und einen Anfang im Schreiben gemacht hat". Auch für Kinder, die "noch nicht einen dreijährigen regelmäßigen Schulunterricht genossen" hatten, galt das verlängerte Verbot. Ausnahmen davon waren möglich, wenn "die Fabrikherren durch Errichtung und Unterhaltung von Fabrikschulen den Unterricht der jungen Arbeiter sichern". Fabrikschulen des Unternehmens selbst, die diesen Unterricht anboten, waren in den Folgejahrzehnten heftig umstritten, weil die Schulinspektoren feststellten, dass die Erwerbsarbeit der Kinder im Vordergrund stand und nicht der Unterricht.

Ein Ergänzungsgesetz von 1853, das 1869 in die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes und 1878 in die Gewerbeordnung des Deutschen Reiches übernommen wurde, hob die Altersgrenze auf zwölf Jahre an und beschränkte die erlaubte Höchstarbeitszeit auf zunächst zehn Stunden, später auf sechs Stunden für Kinder ab zwölf Jahren. Wohlgemerkt, all das galt für Kinderarbeit in Fabriken – ein Kinderschutzgesetz für Heimarbeit gab es im Deutschen Reich erst 1903 und ein Verbot der Kinderarbeit in der Landwirtschaft in der Bundesrepublik erst 1960.

Ein gesetzliches Verbot der Kinderarbeit bedeutet natürlich nicht, dass sich alle daran gehalten hätten. Nach dem Regulativ von 1839 waren die nächsten Jahrzehnte bestimmt von der Auseinandersetzung um die mangelnde Kontrolle des Verbotes in den Fabriken und von Klagen, dass die Altersgrenze zu niedrig sei und Kinderarbeit den Schulunterricht erheblich beeinträchtige. Die Lehrer stellten fest, dass die Kinder vor und nach dem Schulunterricht und in den Ferien arbeiten mussten und häufig zu erschöpft und müde waren, um dem Unterricht zu folgen oder mit Freude erfolgreich zu lernen.

Tatsächlich besuchten in den 1870er Jahren 90 Prozent der Schulpflichtigen in Preußen die Schule, 1880 waren es fast 100 Prozent. Als die Schulpflicht durchgesetzt war und Kinder nicht mehr in großem Ausmaß in der Industrie arbeiteten, wichen die Fabrikanten auf Heimarbeit aus. Verlags- und Heimarbeit in der Familie schloss immer auch die Kinder ein, die vor und nach der Schule mithalfen – und diese Form der Kinderarbeit ließ sich noch viel schwieriger kontrollieren als die Arbeit in einer zentralisierten Fabrik. (Vgl. Foto in der PDF-Version)

Als nach einer ersten Phase der Industrialisierung 1872 die Volksschule als allgemeine öffentliche Staatsanstalt Gestalt annahm, wurden die Schulpflicht und die Einschränkung ausgedehnter Kinderarbeit verbindlicher. Die Lehrer der Volksschulen registrierten aber bis über die Jahrhundertwende hinaus, dass Schulkinder durch Erwerbsarbeit vor und nach der Schule und an schulfreien Tagen zum Familienunterhalt beitragen mussten. Zahlreiche Erinnerungen an die Kindheit von Arbeiterinnen und Arbeitern um 1900 durchzieht wie ein roter Faden der Wunsch: "Einmal ausschlafen können!"

Facharbeit und Berufsschule

Aus dieser Erfahrung heraus beteiligten sich die Lehrer der Volksschulen um die Jahrhundertwende an Erhebungen über die Lage ihrer Schülerinnen und Schüler. Dies unternahmen sie teilweise auch gegen ausdrückliches Verbot, wie etwa in Österreich, dessen Regierung offenbar über die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit ihrer Schutzgesetzgebung gar nichts wissen wollte. Der Druck der Arbeiterbewegung, aber ebenso von Lehrern und Industriellen, die schulisch ausgebildete Arbeiter brauchten, führte 1903 im Deutschen Reich zu einer Altersgrenze von zehn Jahren bei Heimarbeit.

Aber Inhalt und auch Dauer der Schulzeit mussten sich ändern und damit das Schutzalter der Kinder. Ein bisschen Lesen, Schreiben, Rechnen und Gehorsam reichte nicht mehr aus für eine fachlich qualifizierte Anstellung in Industrie und Gewerbe: Durch die neue Arbeitsteilung in den Betrieben kamen schriftliche Anweisungen, präzise mathematische Vorgaben und Zeichnungen vermehrt zum Einsatz. Entsprechend musste die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen den Erfordernissen der Zeit angepasst werden. Die neue Berufsgruppe der Ingenieure hatte begonnen, Maschinen und Anlagen nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu erforschen, und die "wissenschaftliche Betriebsführung" setzte die Ergebnisse dieser Forschung in Arbeitsanweisungen um, die das handwerkliche Wissen der Facharbeiter ergänzten und erweiterten.

Die Reform der gewerblichen Bildung, die in Deutschland mit dem Namen Georg Kerschensteiner (1854–1932) verbunden ist, machte die Ausbildung durch Arbeit, die Lehre, zum Gegenstand pädagogischer Bemühungen. Nach der Revolution von 1918/1919, im gemeinsam von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragenen dualen Ausbildungssystem, wurde ein Tag in der Woche für die Berufsschule reserviert. Die Lehre durch die Arbeit im Betrieb sollte ergänzt, erweitert und durch in der Schule erworbene theoretische Kenntnisse fundiert werden, um Facharbeiter auszubilden, die nicht nur über betriebsspezifische Kenntnisse verfügten, sondern den dauernden Veränderungen des Berufes gewachsen waren.

Schluss

Als Anfang des 20. Jahrhunderts in den industrialisierten Ländern Verbote der Kinderarbeit erlassen worden waren, lebte und arbeitete die große Mehrheit der Weltbevölkerung noch auf dem Land. Viele Menschen waren erst am Rande vom Markt berührt und ernährten sich von dem, was sie anbauten. Heute lebt ein Großteil der Weltbevölkerung in Städten und kann den Lebensunterhalt nicht mehr selbst pflanzen und ernten, sondern muss ihn durch Erwerbsarbeit verdienen.

Dieser Wechsel von der Selbstversorger- zur Erwerbsarbeit führte im 18. und 19. Jahrhundert zu einer Ausdehnung der Kinderarbeit, die deren Gesundheit und Existenz gefährdete. Im Unterschied zur Situation im 19. Jahrhundert sind heute die Rechte der Menschen global anerkannt – und das heißt auch die Rechte der Kinder auf eine Entwicklung, die nicht durch ausbeuterische Arbeit verhindert, blockiert oder vereitelt werden darf.

Darum, wie und was Kinder für ihr späteres Leben lernen sollten, gab es im 19. Jahrhundert einen heftigen Kampf, der an die Stelle persönlicher Bevormundung Schutzrechte für Kinder setzte, damit Lernen erfolgreich sein konnte. Diese Schutzrechte und das Verbot der Kinderarbeit forderten nicht nur die Arbeiter und deren Organisationen ein, um sich gegen billige Konkurrenz zu wehren und die Zukunft ihrer Kinder zu sichern.

Staat, Industrie und Gewerbe entwickelten ebenfalls in einem sehr zögerlichen Prozess ein Interesse am lebenslangen Erhalt der Arbeitskraft und an einer schulischen Ausbildung der Mehrheit der Bevölkerung, um diese umfassend auf das Arbeitsleben vorzubereiten. Berufsausbildung musste loyale und arbeitsfähige Staatsbürger hervorbringen, durfte nicht betrieblich verengt sein, um Betriebswechsel zu ermöglichen, und Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, die ein Leben lang den Veränderungen der Arbeit in Industrie und Gewerbe nachfolgen konnten. Ein Verschleiß der Menschen durch zu frühe Erwerbsarbeit entsprach nicht diesen langfristigen Zielen.

Als Ergebnis des Kampfes um das Verbot von ausbeuterischer Kinderarbeit in Europa sollte heute jedem Beteiligten weltweit bewusst sein, dass es Unrecht ist, Kindern eine zukunftzerstörende Erwerbsarbeit aufzuzwingen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In der umfassenden Literatur bieten folgende Publikationen einen Überblick: Jürgen Kucynski/Ruth Hoppe, Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland, Berlin 1958; Beatrix Saadi-Varchmin/Jochim Varchmin, Kinderarbeit ist verboten!, Wuppertal 1984; Heinrich von der Haar, Kinderarbeit in Deutschland. Dokumentation und Analyse, Berlin 2010; für Österreich: Renate Seebauer, Kein Jahrhundert des Kindes. Kinderarbeit im Spannungsfeld von Schul- und Sozialgesetzgebung, Wien 2010.

  2. Vgl. Georges Duby/Michelle Perrot, Geschichte der Frauen, hrsg. von Arlette Farge und Natalie Zemon Davis, Bd. 3 und 4: Frühe Neuzeit und Das 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2006.

  3. Vgl. Edward P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Bd. 1, Frankfurt/M. 1987.

  4. Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken, 9.3.1839, zit. nach: Externer Link: www.zeitspurensuche.de/02/kinder2.htm#1839 (20.9.2012).

  5. In der DDR war Kinderarbeit seit der Gründungsverfassung vom Oktober 1949 offiziell verboten. Arbeit von Jugendlichen in der Ausbildung und im polytechnischen Unterricht spielte gemäß der marxistischen Auffassung aber eine persönlichkeitsformende Rolle und hatte beim Ernteeinsatz und in der Produktion auch eine wichtige ökonomische Funktion.

  6. Vgl. Ingrid Peikert, "… manchmal ein leises Weh". Die Arbeit im Leben proletarischer Kinder, in: Wolfgang Ruppert, Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur von der Frühindustrialisierung bis zum "Wirtschaftswunder", München 1986, S. 206–214.

  7. Vgl. Eric J.E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München–Wien 1995.

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Dr. phil., geb. 1953; Studium der Soziologie, Technik- und Arbeitsgeschichte; Kurator im Museum der Arbeit in Hamburg, Wiesendamm 3, 22305 Hamburg. E-Mail Link: boenig@museum-der-arbeit.de