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Kolonialismus Editorial Kolonialismus und Postkolonialismus Geschichte des europäischen und deutschen Kolonialismus Rechtfertigung und Legitimation von Kolonialismus Neokoloniale Weltordnung? Postkoloniale Staaten, Zivilgesellschaft und Subalternität Antikoloniale Bewegungen in Afrika. Drei Beispiele Ambivalenzen der Modernisierung durch Kolonialismus Die fragile Erinnerung des Entinnerten

Expansion und Herrschaft: Geschichte des europäischen und deutschen Kolonialismus

Jürgen Zimmerer

/ 17 Minuten zu lesen

Beim Versuch, das vergangene Jahrhundert auf einen Begriff zu bringen, steht Kolonialismus ganz oben auf der Liste der Begriffe, die zur Beschreibung infrage kommen – genauer gesagt, die Dekolonisation. Denn mit dem 20. Jahrhundert kam zum (vorläufigen) Abschluss, was 500 Jahre vorher mit dem Ausgreifen von Portugiesen und Spaniern eingeleitet worden war: die allmähliche Unterwerfung weiter Teile der Welt unter europäische Herrschaft und die immer intensivere Vernetzung unterschiedlichster Regionen bis hin zur weitgehenden Globalisierung im 21. Jahrhundert. Das 20. Jahrhundert sah dabei sowohl den Höhepunkt der europäischen Kolonialherrschaft um den Ersten Weltkrieg als auch die Auflösung formaler kolonialer Strukturen nach dem Zweiten Weltkrieg, als die allermeisten ehemaligen Kolonien in nur zwei Dekaden ihre politische Unabhängigkeit erlangten. Ein zweiter Dekolonisierungsschub folgte Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, als nicht nur die DDR und andere Satellitenstaaten aus dem Orbit des "Ostblocks" ausbrachen, sondern auch die Zentralmacht Sowjetunion selbst sich auflöste. Die Globalisierung, die seitdem den Kalten Krieg als Kennzeichen der Gegenwart abgelöst hat, ruht auf den Grundlagen des Kolonialismus. Und wenn sich nun die globalen politischen und ökonomischen Koordinaten mit dem Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens und anderer verschieben, dann ist auch das eine Folge des Kolonialismus. Denn alle drei wurden durch den Kolonialismus wesentlich geprägt, ja die beiden letztgenannten gäbe es ohne ihn gar nicht.

Der Beginn der Globalisierung, verstanden als allmählicher Prozess der immer stärkeren Vernetzung und wechselseitigen Interaktion zwischen den Regionen der Erde, kann genau datiert werden. Es ist der 6. September 1522. An diesem Tag erreichten die Überreste der spanischen Flotte Ferdinand Magellans (Fernão de Magalhães) Sevilla, von wo sie drei Jahre vorher ausgelaufen waren. Damit war die Erde umrundet und der Beweis erbracht, dass es sich bei ihr tatsächlich um eine Kugel handelte, sie als Globus zu begreifen war. Das bedeutete natürlich weder, dass die Menschen in allen Teilen der Welt voneinander Kenntnis genommen hatten, noch dass sich deren Handlungen unmittelbar beeinflussten. Dennoch lässt sich feststellen, das im Laufe der nächsten Jahrhunderte immer weitere Regionen immer stärker unter europäischen Einfluss gerieten.

Viele Gesichter des Kolonialismus

Es ist nicht leicht zu beschreiben, was Kolonialismus eigentlich ist, was nicht Wunder nimmt, wenn man bedenkt, dass damit Phänomene beschrieben werden, die teilweise über 500 Jahre zurückliegen, sich während dieses Zeitraumes entwickelten und veränderten und die Interaktion von Menschen betreffen, die sehr unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen angehörten. Letzteres meint nicht nur die ideologisch aufgeladenen und sprichwörtlich gewordenen "Kulturunterschiede" zwischen "Zivilisierten" und "Wilden", also zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten, sondern auch Unterschiede innerhalb beider Gruppen. Was hatte etwa ein portugiesischer Missionar im Indien des 17. Jahrhunderts mit einem britischen Verwalter Nigerias im 20. Jahrhundert gemein? Oder was verband einen afrikanischen Zulu-Krieger des 19. Jahrhunderts mit einem Aztekenprinzen im 16. Jahrhundert, außer der Tatsache, dass sie alle entweder der Europäisierung der Welt dienten oder unter den Einfluss des Kolonialismus geraten waren und sich der Zumutungen der europäischen Kolonialisten erwehren mussten?

Kolumbus segelte in einer Nussschale über den Atlantik, British Airways wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch deshalb zu einer der bedeutendsten internationalen Fluggesellschaften, weil ihr Streckennetz schon lange die verschiedenen Ecken des British Empire erreichte. Und dauerte die Kommunikation zwischen einer europäischen Hauptstadt und seinen asiatischen Besitzungen, etwa in Form schriftlicher Anweisungen, im 17. Jahrhundert mehrere Monate, so stand ein General von Trotha während des Krieges in Deutsch-Südwestafrika (1904–1908) mehrmals täglich im telegrafischen Kontakt mit seinen vorgesetzten Stellen in Berlin.

Ein Phänomen "kolossaler Uneindeutigkeit" hat der Historiker Jürgen Osterhammel deshalb den Kolonialismus völlig zu Recht genannt. Gemeinsam ist allen "kolonialen Situationen" jedoch die Dichotomie zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten, oftmals zwischen Europäern und Nicht-Europäern. Dieser geografische und herrschaftstechnische Gegensatz war von Anfang an ideengeschichtlich und ideologisch begleitet. War es anfänglich der binäre Gegensatz zwischen Christen und Heiden, der Landnahme und Ausbeutung rechtfertigte, so folgten später biologisch-rassistische Argumente. Gerade postkoloniale Autorinnen und Autoren sehen in Stereotypisierungen wie "Wilde" und "Zivilisierte" sowie in Diskursen über Chaos und Schmutz, Entwicklung und Modernität, Rationalität und Natürlichkeit die epistemologischen Voraussetzungen des kolonialen Projektes Europas. Zugleich sind diese diskursiven Binarisierungen und die Aufladung ursprünglich geografisch verstandener Begriffe mit stereotypisierten Werten mit die langwierigsten Folgen des Kolonialismus.

Was ist Kolonialismus?

Jürgen Osterhammel hat dennoch eine Definition versucht: "Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen." Kolonialismus ist also Herrschaft einer (ursprünglich) ortsfremden über eine ortsansässige Gruppe, wobei die Motive für diese Fremdherrschaft ganz unterschiedlich sein können. Es lassen sich dabei Stützpunkt-, Siedlungs- und Beherrschungskolonien unterscheiden.

Stützpunktkolonien

dienten vor allem strategischen Zwecken, das heißt als Basis für die ökonomische, politische oder militärische Durchdringung entfernter Regionen. Im Zuge weiträumiger Machtprojektion halfen sie auch zur informellen Kontrolle über andere Länder und Gegenden, das heißt ohne die Errichtung formaler Herrschaft. Klassische Beispiele sind Kapstadt im 17. Jahrhundert (als zentraler Hafen auf dem Seeweg nach Indien) oder Hongkong und Singapur bis ins 20. Jahrhundert. Wie das Beispiel Kapstadts zeigt, dienten sie oftmals auch als Grundstock formaler Kolonialherrschaft.

Beherrschungskolonien

sind der Typ, der die allgemeine Vorstellung von Kolonien wohl am stärksten geprägt hat. Britisch- oder Niederländisch-Indien (Indonesien) sind hier als bekannte Beispiele zu nennen, aber auch weite Teile Afrikas. Angelegt zur wirtschaftlichen Ausbeutung von Ressourcen, zur Abschöpfung von Steuerleistung oder als Absatzmarkt für eigene Güter wurden die Beherrschungskolonien meist durch eine sehr kleine Zahl europäischer Beamter und Militärs verwaltet. Legendär ist der britische Indian Civil Service, der mit nur wenigen Tausend Mitgliedern weite Teile des Subkontinents kontrollierte. Nach Ablauf ihrer Dienstzeit kehrten viele dieser Beamten in ihr Heimatland zurück oder wurden in eine andere Kolonie versetzt, sodass eine allzu enge Identifikation mit der Kolonie unterblieb, was in aller Regel die Dekolonisation erleichterte.

Die lokale Elite war an der Regierung meist kaum beteiligt, wobei sie in die alltägliche Verwaltung in unterschiedlichem Maße eingebunden sein konnte. So war indirekte Herrschaft, in der indigene Eliten auf Geheiß und Druck der neuen Herren ihre eigenen Untertanen im kolonialen Sinne regierten – europäische "Berater" "zeigten" den traditionellen Herrschern an, in welchem Sinne gewisse Entscheidungen zu fällen waren –, ein bewährtes Mittel, um die Verwaltungskosten zu senken und von eigener Verantwortung abzulenken. Einnahmen ergaben sich für den kolonialen Staat neben dem unmittelbaren wirtschaftlichen Gewinn durch den Zugang zu billigen Rohstoffen oder zu einem Absatzmarkt für überteuerte oder unnötige europäische Produkte vor allem durch die Besteuerung. Der Aufbau eines Steuersystems war deshalb meist auch durch die Einführung der Geldwirtschaft flankiert.

Da die lokale Bevölkerung unter und für die koloniale Elite arbeiten und wirtschaften musste, kam es vielerorts zur Effizienzsteigerung und zur Errichtung eines rudimentären Ausbildungssystems, das auch der Durchsetzung der kolonialen Sprache als Geschäfts- und Verwaltungssprache diente. Meist nicht beabsichtigt, führte dies im Sinne der "Dialektik des Kolonialismus" zur Heranbildung einer antikolonialen Elite, welche die Unabhängigkeit vorantrieb, wie etwa die Beispiele Mahatma Gandhi (Indien), Jawaharlal Nehru (Indien), Amílcar Cabral (Kap Verde) oder Aimé Césaire (Martinique) belegen.

Abgesichert wurden die Kolonien von den Kolonialmächten untereinander durch die Festlegung kolonialer Grenzen, bei deren Bestimmung lokale Stimmen oder Befindlichkeiten kaum eine Rolle spielten. Viele der nachkolonialen Minderheitenprobleme, Kriege und Sezessionen wurzelten deshalb darin, dass indigene Gruppen durch koloniale Grenzen auseinandergerissen oder völlig fremde und teilweise verfeindete in neu geschaffenen Staaten zusammengepfercht wurden.

Siedlungskolonien

waren dagegen durch den massenhaften Zuzug europäischer Einwanderer geprägt, die nicht nur die obersten Spitzen der Verwaltung, des Militärs und der Wirtschaft stellten, sondern sich das Land selbst aneigneten und bewirtschafteten, wenn auch oft unter Ausnutzung und Ausbeutung indigener Arbeitskraft oder eingeführter Sklaven. Die spanischen Kolonien Süd- und Mittelamerikas wären hier zu nennen, vor allem aber die USA, Kanada, Australien und Neuseeland, in denen es de facto zu einem weitgehenden "Bevölkerungsaustausch" kam. Die unmittelbare Konkurrenz der europäischen Neusiedler und deren Nachkommen mit der ortsansässigen Bevölkerung führte teilweise zu extremer Gewalt und in deren Gefolge zur weitgehenden Verdrängung Letzterer. Teilweise dramatische Verarmung und eine soziale Desintegration indigener Gemeinschaften war die Folge. Von Seiten des kolonialen Staates und seiner "weißen" Bürgerinnen und Bürger kam es vereinzelt sogar zu ethnischen Säuberungen und Fällen von Genozid.

Siedlungskolonien erhielten aufgrund ihrer europäischen Bevölkerungsmehrheit vergleichsweise früh ein weitreichendes Maß an Unabhängigkeit beziehungsweise erkämpften sich diese, wie etwa die USA 1776 oder die meisten Staaten Lateinamerikas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wo die Besiedelung mit Europäerinnen und Europäern nicht zu einer "weißen" Mehrheit oder gar der weitgehenden Verdrängung der indigenen Bevölkerung führte, wie etwa in Südafrika, Simbabwe, Kenia, Angola, Mosambik oder Algerien, erwies sich die Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg meist als besonders umkämpft.

Neben den unterschiedlichen Formen formaler Herrschaft gab es jedoch auch informelle Arten der Einflussnahme. Die Fähigkeit zur militärischen Machtprojektion – basierend auf einem System globaler Stützpunkte – erlaubte die Kontrolle fremder Staaten ohne die formale Errichtung eines Kolonialstaates. Ein Paradebeispiel dafür bietet China, das im 19. Jahrhundert vergeblich versuchte, sich dem ständig wachsenden Einfluss der Kolonialmächte, allen voran Großbritanniens, zu entziehen. Als Peking 1839 aus Gründen der öffentlichen Gesundheit die Einfuhr von Opium aus Britisch-Indien zu unterbinden versuchte, erzwang die Royal Navy mit Waffengewalt die Aufhebung des Verbots im "Ersten Opiumkrieg". Auch ließ es sich Hongkong abtreten, das fortan eine zentrale Rolle bei der britischen Durchdringung des "Reiches der Mitte" spielte und bis 1997 in britischem Besitz blieb. Auch das Osmanische Reich, das bis 1918 formal intakt blieb, de facto aber unter vielfältigem Einfluss vor allem europäischer Imperialmächte stand, wäre hier zu nennen.

Erstes deutsches Kolonialreich

Deutsche waren von Anfang an an diesen Prozessen – der "europäischen Expansion" – beteiligt. Sie segelten mit Portugiesen und Spaniern nach Indien und Amerika (wie etwa Ulrich Schmidl und Hans von Staden) und versuchten sich selbst an Kolonialgründungen (wie die Welser in Venezuela oder der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm mit seiner Kolonie Groß Friedrichsburg an der westafrikanischen Küste). Der Große Kurfürst war damit ebenso in den Sklavenhandel verstrickt wie etwa der Gründer des heutigen Hamburger Stadtteils Wandsbek, Heinrich Carl von Schimmelmann. Unzählige siedelten in der "Neuen Welt", gingen als Missionare nach Afrika oder Asien oder beteiligten sich als "Lehnstuhl-Entdecker" an der wissenschaftlichen Erschließung der Welt. Kolonialismus war ein gesamteuropäisches Phänomen und als solches waren immer auch Deutsche beteiligt.

Als formale Kolonialmacht trat Deutschland allerdings erst spät auf die weltgeschichtliche Bühne, sieht man vom kurzen "Intermezzo" der Brandenburger in Westafrika ab. Der Grund war offensichtlich: Erst seit 1871 gab es ein Deutsches Reich, das die Rolle einer Kolonialmacht tatsächlich wahrnehmen konnte. Die Reichsgründung gab nun auch der Kolonialbewegung einen entscheidenden Schub, die aus ökonomischen, politischen und sozialdarwinistischen Motiven für den formalen Erwerb von Kolonien warb. Ihre Vertreterinnen und Vertreter erhofften sich nicht nur ein Ventil für die angeblich drohende Überbevölkerung und einen Absatzmarkt für die industrielle Überproduktion, sondern auch ein sichtbares Symbol für die gewünschte Weltmachtrolle. Ein gewisser Minderwertigkeitskomplex gegenüber Großbritannien spielte dabei ebenso eine Rolle wie die Angst vor Krisen und (sozialen) Verwerfungen im Kaiserreich.

Kolonien schienen eine heile Welt zu bieten ohne die Schattenseiten der Industrialisierung mit dem Anwachsen des Proletariats und seinen Forderungen nach politischer Teilhabe. Kolonialbesitz schien auch im Licht der sozialdarwinistischen Interpretation der Konkurrenz zwischen den sich entwickelnden imperialistischen Industriestaaten eine Notwendigkeit und eine Verpflichtung gegenüber den nachfolgenden Generationen zu sein. Für diese wollte man sicherstellen, dass sie zu den Gewinnern in diesem Wettkampf – in dem es nur den survival of the fittest geben würde – gehören würden. War das nationale Bürgertum in weiten Teilen schon davon überzeugt, innerhalb der europäischen Nationen zu einer überlegenen zu gehören, so galt dies umso mehr im Vergleich zu außereuropäischen Kulturen. Aufgrund der eigenen, überlegenen Stellung glaubte man zur Kultivierung der vermeintlich zurückgebliebenen und primitiven Bewohnerinnen und Bewohner der außereuropäischen Welt berufen zu sein und besaß damit eine positive Rechtfertigung jeglichen kolonialen Strebens.

Da die Regierung unter Otto von Bismarck (1871–1890) dem Kolonialerwerb zunächst skeptisch gegenüberstand, weil der Reichskanzler im kolonialen Engagement nur die Quelle von Konflikten mit anderen Kolonialmächten sah, erfolgte die Kolonialreichsgründung nach dem veralteten Modell der Chartered Company, das heißt als staatlich garantiertes Privatunternehmen. In rascher Folge erwarben "Kolonialpioniere" in den Jahren 1884 und 1885 Territorien in West-, Ost- und Südafrika, die bald darauf unter den offiziellen Schutz des Deutschen Kaiserreiches gestellt wurden. Kamerun, Togo, Deutsch-Südwestafrika (Namibia) und Deutsch-Ostafrika (Tansania) waren geboren. Dazu kamen noch einige Inseln im Pazifik (Deutsch-Samoa und Deutsch-Neuguinea) sowie 1897 das chinesische Kiautschou – Teil der bereits genannten informellen Durchdringung Chinas, an dem nun auch Deutschland seinen Anteil forderte. Da diese privaten Kolonisierungsgesellschaften allesamt binnen kurzer Zeit scheiterten, musste der Staat an deren Stelle treten. Das Deutsche Reich war damit Kolonialmacht.

Im Grunde ist es unmöglich, die koloniale Erfahrung derart disparater Kolonien zusammenzufassen. Schon die Verwaltung war unterschiedlich: Während Kiautschou von der Marine verwaltet wurde, unterstanden die anderen der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt und später dem Reichskolonialamt. Während es sich bei Togo, Kamerun und Ostafrika ebenso wie bei den pazifischen Besitzungen um Beherrschungskolonien handelte, war Südwestafrika als Siedlungskolonie geplant und angelegt. Auch wenn sich die erträumten Ansiedlungszahlen nicht verwirklichen ließen, besitzt Namibia als Folge daraus bis heute eine kleine deutschsprachige Minderheit.

Generell lässt sich sagen, dass sich die mit den Kolonialerwerbungen verbundenen Hoffnungen nicht erfüllten. Außer der "Musterkolonie" Togo waren alle Kolonien finanzielle "Zuschussgeschäfte", was auch an den enormen Kosten für die Eroberung, Befriedung und Verwaltung lag. Dies lag nicht zuletzt an der Vehemenz des Widerstandes gegen die deutschen Kolonialherren in nahezu allen Schutzgebieten und die Brutalität, mit der die Kolonialmacht diese niederschlug. Die Probleme in den Kolonien machten wiederum den erhofften Prestigegewinn zunichte.

Der heftige Widerstand und die teilweise katastrophalen Konsequenzen für die ursprünglichen Bevölkerungen ergaben sich auch aus dem späten Beginn des deutschen kolonialen Engagements. Man glaubte in der Vergangenheit Versäumtes aufholen und den Kolonialismus besonders effizient machen zu müssen. Musterkolonien sollten es werden, nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern auch, um den anderen Kolonialmächten zu zeigen, wie es richtig gemacht würde. Zeit für eine allmähliche Veränderung der Lebens- und Wirtschaftsbedingungen gerade der afrikanischen "Untertanen" Deutschlands blieb dabei ebenso wenig wie eine Anpassung kolonialer Herrschaftspraktiken im Lichte gemachter Erfahrungen.

In Deutsch-Südwestafrika umfasste die koloniale Utopie sogar die Errichtung einer regelrechten rassischen Privilegiengesellschaft. Deutsche sollten die Oberschicht bilden, Afrikanerinnen und Afrikaner in eine homogene Schwarze Arbeiterschicht umgeformt werden. Rudimentäre Ausbildung sollte vor allem ihre Arbeitsleistung steigern. Jegliche "Vermischung" der "Rassen" sollte unterbunden werden. Existierende Ehen zwischen Deutschen und Afrikanerinnen wurden 1907 nachträglich annulliert, jegliche sexuelle Beziehungen stigmatisiert und der Begriff des "Eingeborenen" endgültig biologisch definiert: "Eingeborene" waren demnach "sämtliche Blutsangehörigen eines Naturvolkes, auch die Abkömmlinge von eingeborenen Frauen, die sie von Männern der weissen Rasse empfangen haben, selbst wenn mehrere Geschlechter hindurch eine Mischung mit weissen Männern stattgefunden haben sollte. Solange sich noch die Abstammung von einem Zugehörigen eines Naturvolks nachweisen lässt, ist der Abkömmling infolge seines Blutes ein Eingeborener." Damit hatte das biologistische Abstammungsprinzip jegliche zivilisationsmissionarische Deutung, wonach Afrikanerinnen und Afrikaner zu "Europäern" "erzogen" werden müssten, beiseite gedrängt.

Die zwei langwierigsten und verlustreichsten Kolonialkriege wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den beiden größten Kolonien Südwest- und Ostafrika geführt. In Letzterem kam es von deutscher Seite zu einem Vernichtungskrieg mit schätzungsweise bis zu 250.000 afrikanischen Opfern sowohl durch Kämpfe als auch durch die durch kriegerische Handlungen ausgelösten Versorgungsnöte, in Ersterem sogar zum ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, dem schätzungsweise bis zu 80 Prozent der Herero und 50 Prozent der Nama zum Opfer fielen. In Südwestafrika war dabei die deutlich höhere Zahl deutscher Soldaten eingesetzt (schätzungsweise 19.000, von denen etwa 1.500 ums Leben kamen), während in Ostafrika der Krieg von deutscher Seite vor allem durch afrikanische Söldnereinheiten geführt wurde, den "Askari". Es scheint vor allem die Zahl der deutschen Opfer und die Zahl der betroffenen deutschen Soldaten zu sein, neben der unterschiedlichen Perzeption Deutsch-Südwestafrikas als deutsche Siedlungskolonie, welche dem Krieg im Südlichen Afrika eine herausgehobene Position im deutschen kollektiven Gedächtnis zugewiesen hat.

Entgegen weit verbreiteter Ansichten kam es jedoch nicht nur in diesen beiden Kriegen zu deutschen Gewaltexzessen. Schon vorher war es etwa 1897 in Deutsch-Ostafrika gegen die Wahehe zu einem Feldzug gekommen, den man als Vernichtungskrieg bezeichnen kann. Auch in der angeblich so friedlichen Südsee reagierte die deutsche koloniale Obrigkeit auf jeden Form des Widerstandes mit bedingungsloser Härte, wie die Niederschlagung des "Aufstandes" auf Ponape (1910/1911) belegt. Das Verhalten des deutschen Expeditionskorps zur Niederschlagung des "Boxeraufstandes" in China, zur Brutalität noch ermuntert durch die "Hunnenrede" Kaiser Wilhelms vom 27. Juli 1900, erscheint in diesem Zusammenhang nicht mehr als Ausrutscher: "Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor 1.000 Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1.000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!"

Auch das menschenverachtende Vorgehen Paul von Lettow-Vorbecks bei der "Verteidigung" Ostafrikas im Ersten Weltkrieg gehört in diesen Kontext. Gegen den Befehl seines zivilen Vorgesetzten und ohne jegliche strategische Relevanz oder Chance auf einen Sieg führte er vier Jahre einen Abnutzungskrieg, in dessen Folge allein in Ostafrika 700.000 Menschen, zum allergrößten Teil Zivilisten, ums Leben kamen.

Der Erste Weltkrieg markierte dort wie in den anderen deutschen Kolonien das Ende des ersten deutschen Kolonialreiches. Im Frieden von Versailles wurden Deutschland wegen erwiesener "Kolonialunfähigkeit" alle "Schutzgebiete" aberkannt, die als Mandate dem neu gegründeten Völkerbund zur Treuhänderschaft übergeben wurden.

Tausendjähriges (Kolonial-)Reich

Allerdings war damit die Epoche des deutschen Kolonialismus noch nicht beendet. Nicht zuletzt aus Empörung über die "Kolonialschuldlüge" gewann die Kolonialbewegung Zulauf, wie sich in einer Vielzahl an Memoiren, Kolonialromanen oder Vorträgen zeigt. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten verbanden nicht wenige die Hoffnung auf eine Wiedergewinnung der Kolonien. Für das neue Regime war dies jedoch von sekundärer Bedeutung. Vielmehr rückte der geografische Ort des deutschen Kolonialreiches vom Süden in den Osten, symbolisiert etwa im Schlagwort vom "Volk ohne Raum". Ursprünglich der Titel eines Romans mit Schauplatz im Südlichen Afrika, wurde es zum Schlagwort für die malthusianistischen und sozialdarwinistischen Ängste der Deutschen vor und während des "Dritten Reiches". Der gesuchte Raum wurde schließlich im Osten Europas gefunden, und mit dem Einmarsch in die Sowjetunion begann das noch kurzlebigere zweite deutsche Kolonialreich.

Der zu errichtende Rassenstaat über Teile der Sowjetunion wies koloniale Herrschaftszüge auf, wie Aussagen etwa von Hitler belegen: "Der Kampf um die Hegemonie in der Welt wird für Europa durch den Besitz des russischen Raumes entschieden; er macht Europa zum blockadefestesten Ort der Welt. (…) Die slawischen Völker hingegen sind zu einem eigenen Leben nicht bestimmt. (…) Der russische Raum ist unser Indien, und wie die Engländer es mit einer Handvoll Menschen beherrschen, so werden wir diesen unseren Kolonialraum regieren. Den Ukrainern liefern wir Kopftücher, Glasketten als Schmuck und was sonst Kolonialvölker gefällt." Was das bedeutete, spezifizierte er gegenüber dem Reichsminister Martin Bormann: "Die Slawen sollen für uns arbeiten. Soweit wir sie nicht brauchen, mögen sie sterben. Impfzwang und deutsche Gesundheitsfürsorge sind daher überflüssig. Die slawische Fruchtbarkeit ist unerwünscht. Sie mögen Präservative benutzen oder abtreiben, je mehr, desto besser. Bildung ist gefährlich. Es genügt, wenn sie bis 100 zählen können. Höchstens die Bildung, die uns brauchbare Handlanger schafft, ist zulässig. Jeder Gebildete ist ein künftiger Feind. Die Religion lassen wir ihnen als Ablenkungsmittel. An Verpflegung bekommen sie nur das Notwendigste. Wir sind die Herren, wir kommen zuerst."

Die Neuordnung von Raum auf der Grundlage von "Rasse", zumal mit der Absicht, die lokale Bevölkerung durch eine neue ortsfremde "Herrenschicht" zu ergänzen oder teilweise auszutauschen, findet sich in allen europäischen Siedlerkolonien, auch wenn kaum irgendwo derart schnell und derart zielgerichtet vorgegangen worden ist wie das Deutsche Reich zuerst in Deutsch-Südwestafrika und nur eine Generation später im besetzten Osteuropa.

Bekanntlich dauerte das Tausendjährige (Kolonial-)Reich nur wenige Jahre. Mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg endete auch Deutschlands Kolonialgeschichte, zumindest als aktive Kolonialmacht. Mit der Vertreibung von Millionen Deutschen aus Osteuropa kam zudem ein Prozess zum Abschluss beziehungsweise wurde umgekehrt, der über Jahrhunderte im Zuge der "Ostkolonisation" Deutsche nach Osten geführt hatte. Dass imperiale Träumereien sowohl in Bezug auf Afrika als auch auf "den Osten" damit nicht endeten, steht ebenso auf einem anderen Blatt wie die Teilung Deutschlands, die beiden Teilstaaten nur ein eingeschränktes Maß an Souveränität zubilligte und zumindest den östlichen Teil in ein neues – sowjetisches – Imperium einfügte.

Auf den Ruinen der europäischen Kolonien sind mittlerweile neue Groß- und Hegemonialmächte entstanden, auch als (nicht intendierte) Konsequenz der europäischen Kolonialherrschaft. Wie weit diese wiederum zu Kolonialmächten werden, und welche Rolle die vormaligen Kolonialmächte in dieser "neuen" Weltordnung einnehmen werden, wird die Zukunft zeigen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen – Prozesse – Epochen, München 20075; Reinhard Wendt, Vom Kolonialismus zur Globalisierung: Europa und die Welt seit 1500, Paderborn 2007.

  2. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München 20065, S. 8.

  3. Ebd., S. 21.

  4. Mit verschiedenen Ausdifferenzierungsgraden findet sich diese Dreiteilung im Grunde bei den meisten Historikern, wie ein Blick in die drei wichtigsten neueren deutschsprachigen Gesamtdarstellungen zum Kolonialismus verrät. Vgl. Andreas Eckert, Kolonialismus, Frankfurt 2006; Wolfgang Reinhard, Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart 20082; J. Osterhammel (Anm. 2).

  5. Wolfgang Reinhard, Dialektik des Kolonialismus. Europa und die Anderen, in: Klaus J. Bade/Dieter Brötel (Hrsg.), Europa und die Dritte Welt, Hannover 1992, S. 5–25.

  6. In jüngster Zeit erschienen hierzu drei moderne Gesamtdarstellungen: Dirk van Laak, Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005; Winfried Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte, Stuttgart 2005; Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008. Aufgrund der minutiösen Faktendarstellung immer noch hilfreich: Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn 20126.

  7. Vgl. hierzu und zu den Konsequenzen dieser Herrschaftsutopie: Jürgen Zimmerer, Deutsche Herrschaft über Afrikaner. Staatlicher Machtanspruch und Wirklichkeit im kolonialen Namibia, Münster u.a. 20043.

  8. Urteil des Bezirksgerichts Windhuk vom 26.9.1907. National Archives of Namibia, Windhoek, GWI 530 [R 1/07], Bl. 23a-26a.

  9. Vgl. Felicitas Becker/Jigal Beez (Hrsg.), Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905–1907, Berlin 2005; James Leonard Giblin/Jamie Monson (eds.), Maji Maji. Lifting the fog of war, Leiden 2010.

  10. Vgl. Jürgen Zimmerer/Joachim Zeller (Hrsg.), Der Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der deutsche Kolonialkrieg in Namibia (1904–1908) und seine Folgen, Berlin 20042. Der Deutsche Bundestag lehnte im März 2012 Anträge der Linkspartei sowie der SPD und der Grünen ab, in denen die Ereignisse 1904 als Völkermord bezeichnet wurden; die herrschende Meinung in der Forschung dagegen geht von einem Völkermord aus; vgl. u.a. die Berichterstattung von n-tv vom 22.3.2012, online: Externer Link: http://www.n-tv.de/politik/Voelkermord-darf-nicht-so-heissen-article5833601.html (4.10.2012) (Anm. d. Red.).

  11. Vgl. Martin Baer/Olaf Schröter, Eine Kopfjagd. Deutsche in Ostafrika: Spuren kolonialer Herrschaft, Berlin 2001.

  12. Vgl. Alexander Krug, "Der Hauptzweck ist die Tötung von Kanaken". Die deutschen Strafexpeditionen in den Kolonien der Südsee 1872–1914, Tönning u.a. 2005; Thomas Morlang, Rebellion in der Südsee. Der Aufstand auf Ponape gegen die deutschen Kolonialherren 1910/11, Berlin 2010.

  13. Zit. nach: Externer Link: http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/wilhelm00/index.html (2.10.2012). Vgl. allgemein zu den Kolonialkriegen: Susanne Kuß, Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010.

  14. Vgl. Jürgen Zimmerer, Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Berlin u.a. 2011; Shelley Baranowski: Nazi Empire. German Colonialism and Imperialism from Bismarck to Hitler, Cambridge, MA 2011.

  15. Am 17.9.1941, zit. nach: Monologe im Führerhauptquartier, herausgegeben und kommentiert von Werner Jochmann, Hamburg 1980, S. 60–64.

  16. Zit. nach: Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005, S. 529.

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Dr. phil., geb. 1965; Professor für die Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg, Historisches Seminar, Von-Melle-Park 6, 20146 Hamburg. E-Mail Link: juergen.zimmerer@uni-hamburg.de