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Durchleuchtung ist selektiv: Transparenz und Radiologie

Patrick A. Kilian

/ 15 Minuten zu lesen

Hektisches Drängen an der Sicherheitskontrolle eines internationalen Flughafens. Nacheinander durchlaufen die Passagiere eine Schleuse, die an ein futuristisches Portal erinnert. Sie werden gebeten, ihre Hände nach oben zu halten, dann beginnt der kurze Moment der Durchleuchtung. Auf einem Monitor kontrolliert ein Mitarbeiter des Sicherheitspersonals das durch den Apparat erzeugte Bild. Im Normalfall zeigt dieses dann die verschwommenen Umrisse des Körpers – im Ausnahmefall auch unerlaubte Gegenstände, Waffen oder Sprengstoffe. Ein kurzer Blick genügt: alles sichtbar, alles sicher.

Diese Szene gehört bereits zur Realität des Flugverkehrs: Die neuen Sicherheitsschleusen, die in den Medien unter den Namen "Körperscanner" und "Nacktscanner" Karriere gemacht haben, sind an vielen internationalen Airports testweise im Einsatz. In der öffentlichen Debatte zum Synonym für die gesellschaftliche Angst vor dem "gläsernen Bürger" geworden, stehen sie damit auch im Zentrum der Transparenzdiskussion. Dabei kollidiert im Bild des Körperscanners das kollektive Sicherheitsbedürfnis mit der allgemeinen Beunruhigung über den Verlust der Intimsphäre – ein Widerspruch, in dem sich die gegensätzlichen Positionen widerspiegeln, die Transparenz entweder mit Informationsfreiheit, Aufklärung und Offenheit oder aber mit Kontrolle und Überwachung gleichsetzen.

Beide Standpunkte verbindet eine gemeinsame Metaphorik, nach der Transparenz als eine Form der "Durchleuchtung" verstanden wird, die – genau wie der Körperscanner – alles durchdringt und sichtbar macht. Dies verweist direkt auf den etymologischen Kern des Begriffs, auf seine Herkunft aus dem Bereich der Optik, wo transparens all dasjenige bezeichnet, "was durchsichtig ist und das Licht durchfallen lässt". Aktuell haben sich diese Bedeutungsinhalte auch auf das Feld des Politischen übertragen. Es gilt dort ebenfalls, Prozesse und Institutionen "durchsichtig" zu machen und zum Beispiel Korruption mittels Sichtbarkeit vorzubeugen. Daneben ist diese Metaphorik außerdem im Sprachbild des "gläsernen Bürgers" präsent: Durch Vorratsdatenspeicherung, die Digitalisierung und den Austausch von Daten, aber auch durch das unkontrollierbare "Gedächtnis" der sozialen Netzwerke, sei der Mensch restlos transparent geworden. Transparenz erscheint in diesem Zusammenhang als etwas im Kern Absolutes – es scheint sie nur "ganz oder gar nicht" zu geben – und ist je nach Perspektive entweder Wunsch- oder Albtraum.

Mit dem Körperscanner ist der Transparenzbegriff wieder näher an seine Wurzeln aus der Optik gerückt: In der sicherheitspolitischen Praxis der körperlichen Durchleuchtung wird "Transparenz" erneut wörtlich verstanden – der Bürger erscheint nun nicht mehr nur metaphorisch, sondern tatsächlich als "gläsern". Alles Zufall? Ich glaube nicht. Im Folgenden sollen unsere gegenwärtigen Transparenzdiskurse deshalb unter Berücksichtigung ihrer sprachlichen Wurzeln kritisch reflektiert werden. Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet der Körperscanner, der unser gesellschaftspolitisches Transparenzdenken mit einer anderen, wesentlich älteren Form der Durchleuchtung verbindet: der Röntgenstrahlung und der frühen Radiologie. Ich werde versuchen, einige der frühen Schriften aus dem Umfeld der Röntgenwissenschaft auf unsere Gegenwart zu übertragen und damit aus dem medizinischen ein kulturwissenschaftliches Diagnoseverfahren abzuleiten. Diese Perspektive möchte ich als eine Art Denkmodell nutzen, um die aktuelle Transparenzdebatte inklusive ihrer Verabsolutierungstendenzen mit dem Blick der Radiologen kritisch gegen den Strich zu lesen.

Transparenzgesellschaft = Kontrollgesellschaft?

Sehr einflussreich und für die polarisierte Transparenzdebatte gewissermaßen exemplarisch hat der Philosoph Byung-Chul Han 2011 in seinem Essay "Transparenzgesellschaft" über die Entstehung einer "Gesellschaft der Ausleuchtung und Kontrolle" gesprochen. In Gestalt einer "allgemeinen Sichtbarmachung" habe sich Transparenz in die "totale Preisgabe der Privatsphäre" gesteigert und alles durchleuchtet. Mit dieser Diagnose erliegt er aber nicht nur der Versuchung der Verabsolutierung, sondern auch den metaphorischen Aufladungen des Transparenzbegriffs. Begriffe wie "Ausleuchtung" und "lichtlose Strahlung" bilden das Vokabular, mit denen er die Transparenzgesellschaft als eine Art radiologische "Kontrollgesellschaft" imaginiert, die "alles durchdringt und durchsichtig macht". George Orwells Big Brother sei im Zeitalter der "totalen" Transparenz überall: "Jeder kontrolliert jeden".

Wie stark Hans Denkmuster dabei von der metaphorischen Logik einer optischen Durchleuchtung beeinflusst sind, zeigt eine Passage, in der er eine "direkte Zur-Schau-Stellung der Nacktheit" beklagt, die "enthüllt, entblößt, entkleidet" und den letzten Rest jeder Intimsphäre absorbiere. Hier spielt Han auf den Körperscanner an, den er zur idealtypischen Ikone des Transparenzzeitalters erklärt: "‚Transparent machen‘ – das klingt, als würde man gnadenlos durch- und ausgeleuchtet wie in einem Nacktscanner." Ob durch die Nutzung von Facebook oder Google: "Die Hyperkommunikation garantiert die Transparenz" und etabliere dabei das System eines "digitalen Panoptikums", in dem "jeder von überall her, ja von jedem ausgeleuchtet werden kann". Das Panoptikum als architektonisches Modell vollständiger Sichtbarkeit und totaler Überwachung, das 1787 von dem Philosophen Jeremy Bentham erdacht wurde, bildet somit für Han eine historische Vorlage für den Nacktscanner. Doch welcher Begriff von "Sichtbarkeit" beziehungsweise "Durchsichtigkeit" liegt diesen Thesen zu Grunde? Muss Durchleuchtung immer in vollständige Kontrolle umschlagen, wie Han dies nahelegt, oder ist es möglich, Transparenz auch jenseits einer Totalüberwachung zu denken? Ist unsere Gegenwart tatsächlich nach dem Muster eines panoptischen Überwachungsstaats gebildet?

Die These von der großen "Ausleuchtung" ist nicht neu: Schon 1990 warnte Jean Baudrillard vor einer "Transparenz des Bösen", durch die der Mensch "seinen Schatten verloren hat: Er ist für das Licht, das ihn durchläuft, transparent geworden, er wird von allen Seiten erhellt, durch alle Lichtquellen gnadenlos überbelichtet". Diese blumige Sprache lässt fast vergessen, dass Baudrillard genau wie Han nicht über Röntgengeräte, sondern über gesellschaftliche Transparenz schrieb. Obwohl beide Autoren die Sprache der Radiologie verwendeten, schienen sie deren eigentliche Logik zu verkennen. Ein Blick in die frühen Schriften der Röntgenwissenschaft vermag jedoch die scheinbare Evidenz einer absoluten Durchleuchtung infrage zu stellen und zeigt, dass Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit untrennbar miteinander verknüpft sind, sich sogar gegenseitig bedingen: Weder die Durchleuchtung durch die Röntgenstrahlung noch ihr metaphorischer Doppelgänger, die Transparenz, können wirklich absolut sein. Möglicherweise bewegt uns der Blick in die frühe Radiologie gar dazu, die gegenwärtigen Diskurse über Transparenz neu und jenseits von Kontroll-Superlativen zu bewerten.

"Schattenbilder"

Wie die optische Metaphorik verrät, ist unser Transparenzdenken einer Logik verpflichtet, die Erkenntnis beziehungsweise Wissen an den Blick und das Sehen koppelt. Einen (wenn auch nicht den einzigen) Ursprung nahm dieses Denken im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert mit der Veränderung des ärztlichen Blicks im Zuge der Durchsetzung der Anatomie als medizinische Praxis. In diesem Zusammenhang entstand eine neue Wissensordnung, die Michel Foucault 1963 als "Herrschaft des Sichtbaren" beschrieb, welche in die "Tiefen" des körperlichen Raums vordringen wolle. Alles sollte sicht- und damit "durchblickbar" gemacht werden, nichts durfte unentdeckt bleiben. Diese Wissensordnung breitete sich auch jenseits des Medizinischen aus, übertrug sich allmählich auf die Bereiche des "gesellschaftlichen Raumes" und fand in Benthams Panoptikum ihr architektonisches Äquivalent. Dieses Modell strukturiert auch die Transparenzkonzeptionen Baudrillards und Hans, die entgegen ihrer Metaphorik nicht das Röntgengerät, sondern die Anatomie und das Panoptikum zum Vorbild haben. Innerhalb unseres Transparenzdiskurses hat sich dieses auf vollständige beziehungsweise unendliche Sichtbarkeit ausgerichtete Denken mittlerweile fest etabliert. Überträgt man allerdings nicht nur die Metaphern, sondern auch die strukturelle Logik der Radiologie auf unsere Gesellschaft, ist es möglich, die Grenzen der Transparenz aufzuzeigen. Denn mit der Röntgenwissenschaft hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein neuer medizinischer Blick etabliert, der sich wesentlich besser als Beschreibungsmodell unserer Gesellschaft eignet als der panoptische Blick der Anatomie.

Am 8. November 1895 machte der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen eine bemerkenswerte Entdeckung, die er wenig später in einem Aufsatz unter dem Titel "Über eine neue Art von Strahlen" darlegte. Über die von ihm als "X-Strahlen" bezeichnete Strahlung vermochte er Bemerkenswertes zu berichten: "Hält man die Hand zwischen den Entladungsapparat und den Schirm, so sieht man die dunkleren Schatten der Handknochen in dem nur wenig dunklen Schattenbild der Hand." Dies versprach eine Revolution für die medizinische Diagnostik: Von nun an war es möglich, ohne chirurgische Eingriffe in das Innere des Körpers vorzudringen. Bei öffentlichen Demonstrationen entpuppten sich die neuen Geräte als Publikumsmagnet, und jeder wollte einen Blick in den eigenen Körper werfen. Aber läutete diese Technik wirklich ein Zeitalter der totalen Ausleuchtung ein? Erfüllten sich mit der Röntgenstrahlung endlich die Träume der Anatomen, alles durchdring- und sichtbar machen zu können?

Neben dem Enthusiasmus stellte sich rasch ein kritisches Bewusstsein über die begrenzten Möglichkeiten der neuen Strahlen und speziell ihrer Visualisierung auf dem Röntgenschirm ein. Bereits Röntgens erster Aufsatz, in dem "die dunkleren Schatten der Handknochen" dem "wenig dunklen Schattenbild der Hand" gegenübergestellt wurden, verdeutlichte dies. Röntgen verwies darauf, dass die unterschiedlichen Körper und Gegenstände "in sehr verschiedenem Grade" durchleuchtbar – also transparent – gemacht werden konnten. Wenig später, im Jahr 1897, konkretisierte der Mediziner Karl Georg Panesch diese Beobachtung in einer populärwissenschaftlichen Darstellung: "Die Röntgen’schen Strahlen besitzen die Eigenschaft, die verschiedenen Stoffe verschieden stark zu durchdringen; z.B. die Knochen durchdringen sie weniger, jedoch die Haut, die Muskeln (Fleisch), das Blut, die Adern, Sehnen, Bänder etc. der Hand werden von ihnen in bedeutend höherem Grade durchdrungen." An die Stelle der selbstbewussten "Herrschaft des Sichtbaren" der Anatomen, trat ein vorsichtigerer Blick, der seine Grenzen kannte und um den selektiven Charakter seiner Durchleuchtung wusste.

Schon 1903 – also nur etwas mehr als sechs Jahre nach Röntgens Entdeckung – sprach der Militärarzt Walther Stechow von einem "Fehlen der ‚Tiefen im Raum‘" auf den radiologischen Fotos und beklagte die Unschärfe der Schattenbilder. Schließlich ließen sich in den "Schatten Differenzen nur da finden, wo Dichtigkeitsunterschiede neben einander vorkommen". Im Gegensatz zur Anatomie fehlte demnach nicht nur die räumliche Tiefe, die radiologische Transparenz schien auch durch eine ganz grundlegende Ambivalenz gekennzeichnet zu sein, nach der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit einander gegenseitig bedingen. Nur da, wo es Differenzen im Grad der Durchdringbarkeit gab, ließen sich auch Bilder produzieren: Ohne die "Unsichtbarkeit" der Muskulatur, des Gewebes oder der Blutbahnen wären die Handknochen nicht abbildbar gewesen.

Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bilden in der Röntgenwissenschaft ein notwendiges Paar, bestimmen ihre Transparenzlogik, aber machen ihre Bilder auch im Heisenberg’schen Sinne "unscharf": Nie lassen sich alle Stoffe gleichzeitig durchdringen, was eine vollständige Lokalisierung unmöglich macht. Die Radiologie spiele ein "Spiel von Einhüllungen und Enthüllungen", in dem einer "vorübergehenden Unsichtbarkeit eine undurchsichtige Transparenz" gegenüberstehe. In diesem Zusammenhang ist die Metapher des "Schattenbildes" bemerkenswert, die in allen eben zitierten Arbeiten beständig wiederkehrt. Erkenntnistheoretisch verbindet dies den Röntgenschirm mit den Schatten in Platons Höhlengleichnis und assoziiert dessen Erkenntnisgehalt mit Unvollständigkeit, Undeutlichkeit und Täuschung. Schattenbilder sind damit wenig mehr als schablonenhafte Abbilder. Mit einer panoptischen Ausleuchtung im Sinne Hans hat dieses Transparenzverständnis nicht das Geringste gemein.

Als "ständiges Spiel von Anwesenheit/Abwesenheit, von Erscheinen und Verschwinden", durch das Objekte "ins Zentrum rücken, aber auch in die Marginalität entschwinden", hat der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger wissenschaftliche Experimentalsysteme beschrieben. Für die Röntgengeräte gilt dies in geradezu idealtypischer Weise. Sichtbarkeit und Verdunklung, Bild und Schatten sowie unterschiedliche Grade der Durchdringbarkeit sind inhärente Bestandteile dieser Technik. Die radiologische Transparenz ist selektiv und muss mit der relativen Unsichtbarkeit leben. Vom Röntgengerät als medizinischem "Transparenzverstärker" soll dieses Muster nun auf das Internet und damit auf unseren gesellschaftlichen Transparenzdiskurs übertragen werden. Hierbei zeigt sich, dass Radiologie und Transparenzgesellschaft mehr verbindet als nur ihr gemeinsamer Konvergenzpunkt Körperscanner.

Transparenzverstärker Internet

Schon sehr früh waren sich die Röntgenwissenschaftler bewusst, dass ihre Erfindung auch über den medizinischen Bereich hinaus Anwendung finden könnte, wie eine Textpassage bei Panesch zeigt: "Knochen innerhalb seiner eigenen Hand könne man sehen, das in ein Leder-Portemonnaie eingeschlossene Geld vermöge man mittels der X-Strahlen zu sehen und zu photographieren, ohne das Geldtäschchen zu öffnen." In dieser Veranschaulichung ist bereits jenes Muster angelegt, das sich metaphorisch bis in unsere Gegenwart gehalten hat und in Gestalt der Markttransparenz sowie der Durchleuchtung von Finanztransaktionen, Konten und Kapitalverschiebungen präsent ist. Im Kampf gegen Korruption und schwarze Konten soll Transparenz im übertragenen Sinne Geldtäschchen durchleuchten und verborgene Vorgänge offenlegen. Wenngleich Panesch dies wahrscheinlich noch nicht im Sinn hatte, verweist sein Beispiel dennoch deutlich auf die Übertragbarkeit der Bedeutungsinhalte zwischen Radiologie und Transparenz.

Können uns die Röntgenwissenschaftler helfen, unsere gesellschaftlichen Transparenzdiskurse besser zu verstehen, wenn wir ihre Logik auf das Internet – den "Transparenzverstärker" unserer Gegenwart – übertragen? Politische Transparenz, Open Data, Informationsfreiheit aber auch Datenspionage sowie die Verdrängung des Privaten zugunsten einer gläsernen Netz-Öffentlichkeit sind die damit verbundenen Stichworte. Aber hat das Internet auch die Ambivalenz des Röntgenstrahlers geerbt und vermag Sichtbarkeit nur zum Preis einer gewissen Verdunklung zu produzieren? Ist die metaphorische Durchleuchtung möglicherweise nach der Logik der radiologischen Transparenz strukturiert? Oder sind mit der digitalen Öffentlichkeit alle Informationen nur einen Mausklick entfernt; bilden die Daten ein lückenloses Netz der Überwachung, das keine Dunkelstellen mehr kennt und zu einer Form der totalen – ja panoptischen – Sichtbarkeit übergegangen ist?

Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek hat diese These 2012 in einem Interview scharf zurückgewiesen. Denn obwohl mit dem Internet ursprünglich das Anliegen verbunden gewesen sei, "mehr Transparenz zu ermöglichen", sei es auch der ideale Ort, "Spuren zu verwischen". Er glaube, "dass die Grenze, die das Private vom Öffentlichen trennt, sich verschiebt" – aber eben nicht verschwinde – und auch Netzwerke wie Facebook "kein wirklich öffentlicher Raum" seien, sondern nur neue Arenen der Maskierung: Dadurch, dass die Nutzerinnen und Nutzer bestimmte Dinge zeigten und andere bewusst wegließen, erfänden sie eine "Persona", einen Avatar, der zu ihrem eigenen Doppelgänger werde. Rollenspiel statt Transparenz: "Man kann vorgeben, irgendwer zu sein" und sein Profil für Facebook fiktionalisieren – "das ist das Ambivalente am Netz". Dazu komme "eine Invasion des Privaten im öffentlichen Raum", die paradoxerweise dazu führe, dass "der öffentliche Raum verschwindet" und von einer Flut von intimen Daten – ob nun erfunden oder nicht – verdrängt werde. Auch hier bedingen sich Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit gegenseitig, Privatheit und Öffentlichkeit sind nicht gleichzeitig ausleuchtbar, sondern werfen gegenseitig Schatten und machen sich wechselseitig unsichtbar. An die Stelle des transparenten Bürgers tritt der gläserne Netz-Avatar und umgekehrt. Auch der "Transparenzverstärker" Internet produziert selektive Schattenbilder und generiert eigene Unschärfen und Artefakte.

Neben den sozialen Netzwerken wurde die mediale Diskussion über die Netz-Transparenz vor allem am Beispiel der Enthüllungsplattform Wikileaks geführt. Das 2006 um den australischen Hacker und Aktivisten Julian Assange entstandene Portal hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in großem Stil geheime Regierungsunterlagen zu veröffentlichen. Die uneingeschränkte Informationsfreiheit sollte dabei eine neue Form politischer Transparenz ermöglichen, ja sogar die Demokratie revolutionieren. Doch die Forderung nach Transparenz richtete sich schon bald auch gegen Assange und sein Team selbst. Anonymität und Transparenz scheinen jedoch untrennbare Bestandteile der inneren Logik einer Enthüllungsplattform zu sein. Als Organisation, die "eigentlich gar keine richtige Organisation ist", verfügt Wikileaks über "keine festangestellten Mitarbeiter, keinen Kopierer, keine Schreibtische, kein Büro", und entzieht sich somit den institutionellen Voraussetzungen, auf die sich Transparenz überhaupt anwenden ließe.

Auch hier bestimmt eine Koexistenz von "Einhüllungen und Enthüllungen" die Struktur der Durchleuchtung: Neben der Praxis, "bestimmte Informationen offenzulegen, um andere um so besser verdecken zu können" und damit selbst unsichtbar zu bleiben, produzierte der Medienhype um Wikileaks immer weitere Schatten: Die öffentliche Diskussion um "die Neuigkeiten über Wikileaks drängten den leak selbst schnell in den Hintergrund". Auch die unüberblickbare Menge der veröffentlichten Dokumente macht es unmöglich, "ein konsistentes Bild zu filtern", blendet eher als zu erhellen, "vernebelt" die strukturellen Logiken hinter den Daten und ist damit wenig mehr "als ein grelles Blitzlicht", wie der Soziologe Dirk Baecker zur Veröffentlichung der US-Diplomatenakten bemerkte. Schließlich trug auch die Vergewaltigungsaffäre um Julian Assange dazu bei, einen Skandal durch einen anderen abzulösen und ein bestehendes Transparenzbedürfnis der Öffentlichkeit durch ein neues zu ersetzen, was dazu führte, dass viele der Dokumente, die "nun irgendwo in einem Datengrab schlummern", im Durcheinander der medialen Durchleuchtungen an Schärfe verloren.

Unsichtbare Hände

Es war hier bereits die Rede von Transparenz, von faktischer wie metaphorischer Durchleuchtung, von Handknochen auf Röntgenschirmen, von Körperscannern, gläsernen Bürgern und den Schattenbildern des Internets. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit lagen in allen Fällen eng beisammen. Auch im Bereich der Ökonomie bestimmt Ambivalenz die Logik der Durchleuchtung: Während "Markttransparenz" heute zum Synonym für offene Märkte und offenen Wettbewerb wurde und nach immer mehr Informationen verlangt, ist es ausgerechnet ein Klassiker des Liberalismus, der auf die Bedeutung der Unsichtbarkeit verweist.

In seinem 1776 veröffentlichten Werk "Der Wohlstand der Nationen" prägte der Ökonom Adam Smith die Metapher der "unsichtbaren Hand", die bis heute eine Kernchiffre des Wirtschaftsliberalismus ist. Sie umschreibt die selbstregulativen – nicht durchdringbaren – und deshalb "unsichtbaren" Kräfte des Marktes. Als Bild ruft die "unsichtbare Hand" die verblassten Schatten der Röntgenschirme ins Gedächtnis und stellt der Markttransparenz damit als Gegenpol die Unsichtbarkeit an die Seite. Michel Foucault hat dieses Modell 1979 – auch mit Blick auf seine eigene Gegenwart – in einer Vorlesung am Collège de France mit folgender Bemerkung kommentiert: "Wir befinden uns hier im Zentrum des Prinzips der Unsichtbarkeit. Mit anderen Worten, in dieser berühmten Theorie der unsichtbaren Hand von Adam Smith hebt man gewöhnlich immer die Seite der ‚Hand‘ hervor, d.h. die Tatsache, daß es so etwas wie eine Vorsehung gäbe, die alle verstreuten Fäden zusammenknüpft. Ich glaube jedoch, daß das andere Element, nämlich das der Unsichtbarkeit, wenigstens genauso wichtig ist. (…) Die Unsichtbarkeit ist absolut unverzichtbar." Anders als im panoptischen Kontroll- und Überwachungsstaat habe Sichtbarkeit – und damit auch die Transparenz – im Zeitalter des Liberalismus Grenzen und bewirke dadurch die "Ablehnung jenes Polizeistaats", der alles ausleuchten will. Sie hat die relative Undurchleuchtbarkeit der Dinge zum Bestandteil des eigenen Systems gemacht und ist eben auch ein Garant für Unsichtbarkeit. Für die liberale Gesellschaft kann Transparenz demnach nur "eine Art Risikomanagement" sein, die ihre eigenen Schatten akzeptiert, und die "Freiheit der Individuen respektieren" muss. Mit totaler Ausleuchtung scheint sie unvereinbar.

Um nicht falsch verstanden zu werden: In vielen Bereichen ist die gewachsene Transparenz eine große Errungenschaft, und Organisationen wie Transparency International leisten eine wichtige Arbeit, allerdings können Aufklärung wie "Ausleuchtung" nie alles durchdringen. Wenn wir Transparenz also schon nach der metaphorischen Logik der Durchleuchtung denken wollen, so sollten wir dies auch mit allen Konsequenzen tun. Wir sollten uns von dem Wunschtraum der vollständigen Offenheit der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ebenso wie von dem Albtraum einer allmächtigen Kontrollgesellschaft verabschieden und Transparenz als eine Form des selektiven Sehens begreifen. Die Radiologie scheint hierfür ein geeignetes Modell zu sein und verweist mit ihren Bildern und Schatten darauf, dass Transparenz und Privatheit nicht nur miteinander vereinbar, sondern untrennbare Elemente einer gemeinsamen Ordnung sind. Immer dort, wo Transparenz aber in eine totale Sichtbarmachung umzuschlagen droht und sich damit von ihren Wurzeln verabschiedet, gilt es, dies mit aller Aufmerksamkeit zu beobachten. Allerdings scheint "Transparenz" dann nicht der richtige Begriff zu sein, um solche Entwicklungen zu benennen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Artikel "transparens", in: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 44, Leipzig–Halle 1745, S. 1075.

  2. In methodischer Hinsicht ist dieser Essay inspiriert von Philipp Sarasin, Smallpox Liberalism. Michel Foucault und die Infektion, in: Claus Pias (Hrsg.), Abwehr. Modelle – Strategien – Medien, Bielefeld 2009, S. 27–38.

  3. Vgl. Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, Berlin 2011, Zitate S. 33, S. 32, S. 8.

  4. Ebd., S. 66, S. 74, S. 77.

  5. Ebd., S. 42, S. 22.

  6. Byung-Chul Han in einem Interview: "Wir steuern auf eine Katastrophe zu", in: Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 50 vom 14.12.2012, online: Externer Link: http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/39059 (4.3.2013).

  7. B.-C. Han (Anm. 3), S. 42, S. 75f.

  8. Vgl. Jeremy Bentham, Das Panoptikum, Berlin 2013.

  9. Jean Baudrillard, Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin 1992, S. 53.

  10. Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt/M. 1988, S. 178, S. 21.

  11. Ebd., S. 31.

  12. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 2010.

  13. Wilhelm Conrad Röntgen, Über eine neue Art von Strahlen. Vorläufige Mitteilung, in: Aus den Sitzungsberichten der Würzburger Physik.-medic. Gesellschaft (1895), S. 137–147.

  14. Ebd., S. 138.

  15. Zur Röntgenfotografie vgl. Carolin Artz, Indizieren – Visualisieren. Über die fotografische Aufzeichnung von Strahlen, Berlin 2011.

  16. W.C. Röntgen (Anm. 13), S. 137.

  17. Karl Georg Panesch, Röntgen-Strahlen, Skotosgraphie und Od. Nach den neuesten Forschungen leichtfasslich dargestellt, Berlin u.a. 1897, S. 5.

  18. Walther Stechow, Das Röntgen-Verfahren mit besonderer Berücksichtigung der militärischen Verhältnisse, Berlin 1903, S. 24.

  19. Ebd., S. 177.

  20. M. Foucault (Anm. 10), S. 179f.

  21. Platon, Politeia, Buch VII. 514a–521b.

  22. Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt/M. 2006, S. 138, S. 283.

  23. K.G. Panesch (Anm. 17), S. 1.

  24. Vgl. Slavoj Žižek: Das Internet als Kampfplatz, in: Der Standard vom 28.9.2012, online: Externer Link: http://www.derstandard.at/1348284192381 (4.3.2013). Alle folgenden Zitate ebd.

  25. Vgl. Thomas Thiel, Diese Dokumente bergen Sprengstoff, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.3.2008, S. 42, online: Externer Link: http://www.faz.net/-1515730.html (4.3.2013).

  26. Raffi Khatchadourian, Keine Geheimnisse. Julian Assanges Mission der totalen Transparenz, Porträt eines Getriebenen, in: Heinrich Geiselberger (Hrsg.), Wikileaks und die Folgen. Die Hintergründe. Die Konsequenzen, Frankfurt/M. 2011, S. 11–46, hier: S. 12.

  27. Dirk Baecker, Falscher Alarm, in: H. Geiselberger (Anm. 26), S. 224–233, hier: S. 224.

  28. R. Khatchadourian (Anm. 26), S. 38.

  29. D. Baecker (Anm. 27), S. 224f.

  30. Karsten Polke-Majewski, Was von Wikileaks übrig bleibt, 11.2.2011, Externer Link: http://www.zeit.de/digital/internet/2011-02/inside-wikileaks-domscheit-berg (4.3.2013).

  31. Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978–1979, Frankfurt/M. 2006, S. 384.

  32. Ebd., S. 390.

  33. P. Sarasin (Anm. 2), S. 35.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Patrick A. Kilian für bpb.de

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M.A., geb. 1986; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Mannheim; eine Promotion zum Thema "Populäres Wissen" befindet sich in Vorbereitung. E-Mail Link: patrick_andreas_kilian@yahoo.de