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Privatheit und Öffentlichkeit im digitalen Raum: Konflikt um die Reichweite sozialer Normen - Essay | Transparenz und Privatsphäre | bpb.de

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Privatheit und Öffentlichkeit im digitalen Raum: Konflikt um die Reichweite sozialer Normen - Essay

Jens Crueger

/ 12 Minuten zu lesen

Es ist eine neue Qualität sozialer Medien, hingeworfene Blitzgedanken und halbgare Halbsätze sichtbar zu machen, die zuvor zwischen Teeküche und Treppenhaus den Moment ihrer Aussprache nicht überdauerten." Dieses Zitat aus einem Meinungsstück des Bloggers und Autors Sascha Lobo pointiert, worin der Quell jener Debatte liegt, der Personalverantwortliche, Juristinnen und Juristen, sogenannte Reputationsmanagerinnen und -manager sowie Journalistinnen und Journalisten aus den Karriereressorts von Sendern und Verlagshäusern mittlerweile ein gutes Auskommen verdanken und die abhängig Beschäftigte, Arbeitssuchende und vor allem junge Menschen vor dem Berufseinstieg verunsichert. Die Rede ist von den vermeintlich karriereschädlichen Nebenwirkungen einer privaten Betätigung im Internet und speziell den Social Media, jenen digitalen Netzwerken also, die mit den Flaggschiffen Facebook, Twitter und Youtube längst den Löwenanteil jener Zeit einnehmen, die Menschen durchschnittlich online verbringen.

Vermessung eines Konfliktfeldes

Laut allfacebook.de sind derzeit 25 Millionen deutsche Nutzerinnen und Nutzer bei Facebook angemeldet. Somit verspricht schon allein dieses Netzwerk für Personalverantwortliche aus den Unternehmen eine hohe Wahrscheinlichkeit, dort Informationen über Bewerberinnen und Bewerber zu finden, oder auch über die bereits beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. So verwundert es nicht, dass etwa eine Befragung von "europäischen Führungskräften" aus der Technologiebranche im Frühjahr 2012 ergab, dass 40 Prozent der Befragten die Social-Media-Profile ihrer Bewerber durchleuchten und es in einem Fünftel der Unternehmen bereits Absagen an Bewerber aufgrund deren Aktivitäten in den sozialen Netzwerken gab. Zwar kam eine andere Umfrage unter deutschen "Fach- und Führungskräften" zu dem Ergebnis, dass 90 Prozent aller Befragten in Bewerbungsverfahren noch nie mit ihren Spuren aus dem Internet konfrontiert wurden, dennoch stehen diese Ergebnisse nicht zwingend im Widerspruch zueinander, dürften doch bereits etablierte Führungskräfte deutlich seltener nachteilhafte Spuren im Internet hinterlassen als Berufseinsteiger. Zudem ist anzunehmen, dass die Unternehmen jene Bewerberinnen und Bewerber, die im Internet negativ aufgefallen sind, in den wenigsten Fällen überhaupt zu einem Gespräch einladen. Somit erfahren die Gescheiterten wohl nur selten überhaupt davon, dass ihnen ihre "Internetvergangenheit" zum Verhängnis wurde.

Die Sorge von Beschäftigten und vor allem von Arbeitssuchenden vor solchen Fallstricken hat sich zur fruchtbaren Geschäftsgrundlage für eine wachsende Zahl von sogenannten Online-Reputationsmanagern entwickelt. Sie versprechen ihrer Kundschaft, all jene Spuren aus dem Internet zu tilgen, die ein schlechtes Licht auf sie werfen könnten.

Vom Standpunkt des Arbeitsrechts aus lässt sich ganz grundsätzlich zwischen "berufsorientierten Netzwerken und (…) freizeitorientierten Netzwerken" unterscheiden, da "letztere eine Recherche durch ihre AGB verbieten". Jene Daten aus den Social Media, die für den Arbeitgeber über eine Suchmaschinenrecherche auffindbar sind, ohne dass er sich in das jeweilige Netzwerk als Mitglied einloggen muss, sind nach derzeitiger Rechtsauslegung frei verwendbar. Hingegen dürfen Daten, die nur für Mitglieder einsehbar sind, vom Arbeitgeber ausschließlich in berufsorientierten Netzwerken gesammelt werden. Zwar bestehen hinsichtlich der Frage, wo für Arbeitgeber die juristischen Grenzen ihrer Neugier liegen, derzeit erhebliche Unklarheiten, und eine eindeutige Regelung, welche Daten Arbeitgeber im Internet sammeln und verwerten dürfen, steht bislang noch aus. Doch wird angesichts des mittlerweile wohl als gescheitert anzusehenden Gesetzgebungsprozesses für das geplante Gesetz zur Regelung des Beschäftigtendatenschutzes der unklare Status quo bis auf Weiteres fortbestehen.

Ein Blick in die USA zeigt ein noch viel dramatischeres Bild. Dort scheiterte jüngst ein Gesetzesvorhaben im Kongress, welches Beschäftigten das Recht zusprechen sollte, die Zugangsdaten für ihre Social-Media-Profile vor ihren Arbeitgebern geheim zu halten. Das Vorhaben richtete sich gegen die in den USA mittlerweile gängige Praxis von Arbeitgebern, bei Bewerbungsgesprächen Zugang zu den vertraulichen Profilen der Bewerberinnen und Bewerber zu verlangen. Das Problem ist derart akut, dass Facebook im März 2012 selbst deutlich dazu Stellung bezog: "We’ll take action to protect the privacy and security of our users, whether by engaging policymakers or, where appropriate, by initiating legal action, including by shutting down applications that abuse their privileges."

Angesichts dieser Situation jenseits des Atlantiks erscheint die Debatte in Deutschland geradezu harmlos. Jedoch sprechen die genannten Zahlen dafür, dass sich – in der öffentlichen Wahrnehmung vielfach überdeckt von anderen Datenschutzdebatten – hier ein Problem ausgewachsen hat, das intensiver diskutiert werden sollte. Als Patentlösung gegen den "Jobkiller Facebook" gilt die Stärkung von Medienkompetenz vor allem junger Nutzerinnen und Nutzer. Allerdings bleibt fraglich, ob dies allein die adäquate Antwort auf jene Herausforderungen sein kann, welche sich durch die neuen Formen der Selbstdarstellung im Internet ergeben – qualifiziert Medienkompetenz doch in erster Linie dazu, verfängliche Spuren zu vermeiden und gegenüber der Internetöffentlichkeit möglichst unbemerkt und anonym zu bleiben. Auch das Online-Reputationsmanagement beschränkt sich auf das Löschen, Verwischen und Vermeiden bestimmter Spuren der digitalen Selbstentfaltung.

Die Frage, die viel zu selten gestellt wird, lautet: Bis zu welchem Grad akzeptieren wir Einschränkungen unserer persönlichen Entfaltung im Internet durch Arbeitgeber oder andere gesellschaftliche Akteure? Wo beginnt die persönliche Freiheit des Einzelnen hinsichtlich seiner Selbstinszenierung im digitalen Raum, und wo endet sie?

Entfaltung im digitalen Raum

Das Internet und insbesondere die Social Media haben einen Werkzeugkasten zur Selbstrepräsentation geschaffen, wie er in ähnlicher Form zuvor nur wenigen Menschen zur Verfügung stand. Jeder Mensch kann sich im Internet als öffentliche Person inszenieren, kann Video-, Audio- und Textdateien online stellen und damit ein potenziell weltweites Publikum erreichen. Umgekehrt können aber auch Informationen, die eigentlich nur für ein kleines Publikum bestimmt sind – beispielsweise Fotos der letzten Geburtstagsparty – unter ungünstigen Umständen ein großes öffentliches Publikum erreichen, für das sie niemals bestimmt waren. Dieses Risiko lässt sich bei aller Medienkompetenz niemals ganz ausschließen, und wer auch nur mäßig aktiv im Internet und den Social Media ist, der hinterlässt dort zahlreiche Informationen über seine Person. Sobald nun Arbeitgeber gezielt nach solchen Informationen suchen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie auch fündig werden.

Sollten wir deshalb versuchen, uns hermetisch gegen die digitalen Blicke Dritter abzuschotten? Sollte in der Konsequenz etwa gar das Fotografieren auf Partys verboten werden? Oder sollten Menschen ihr Verhalten in der Freizeit generell mäßigen, aus Sorge, dass irgendetwas ins Netz gelangen und ihrer Reputation schaden könnte? Vielleicht steht es aber auch an, eine öffentliche Diskussion darüber zu führen, wie sich durch die veränderten Möglichkeiten des Internets und der Social Media die gesellschaftliche Wahrnehmung privater Lebens- und Alltagsfacetten verändert beziehungsweise verändern sollte.

Das Private wird öffentlich(er), indem Menschen in den Social Media und auf ihren Homepages Fotos von sich, ihrer Familie und Freunden veröffentlichen; indem sie ihren Haustieren bei Twitter oder Facebook eigene Profile einrichten; indem sie eine Liste ihrer Buchwünsche bei Amazon öffentlich einsehbar erstellen; indem sie Videos lustiger Alltagsereignisse bei Youtube hochladen; indem sie Politikern auf Twitter folgen und mit ihnen dort öffentlich diskutieren; indem sie auf der Website einer Tageszeitung ihre Meinung zu einem Artikel kundtun. Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen und geht erkennbar weit über Partyfotos oder anzügliche Kommentare hinaus, die üblicherweise in der öffentlichen Diskussion ventiliert werden.

All diese digitalen Zeugnisse könnten aus Sicht des Arbeitgebers Vorbehalte wecken. Dabei berühren die Sozial- und Lebenspraktiken, die sich in den digitalen Alltagsspuren offenbaren, aber nur sehr selten tatsächlich gesellschaftliche Verhaltensnormen. Sie spiegeln lediglich die Individualität der Privatperson wider. Wenn Arbeitgeber nun vielfach auf Grundlage dessen, was sie im Internet finden, die professionelle Eignung der Kandidatinnen und Kandidaten in Abrede stellen, so muss dies kritisch hinterfragt werden. Welcher Normierungszwang offenbart sich hierin?

Tendenz des öffentlichen Diskurses

Zur Annäherung an diese Frage will ich in aller Kürze den medialen Diskurs zu diesem Problem anreißen. Was unter der Überschrift "Zwickmühle für Arbeitgeber" im Mai 2012 online auf einer Regionalseite der "Westdeutschen Allgemeinen" veröffentlicht wurde, ist hierbei symptomatisch: "Wer heute ein Oben-ohne-Foto oder einen bierseligen Schnappschuss an seine Internet-Fangemeinschaft schickt, muss sich morgen nicht wundern, wenn Anzug, Krawatte, Kostüm keine Distanz zu Kollegen und Kunden schaffen. Sprich: Wer im Beruf Seriosität ausstrahlen will, sollte sich nicht in Badehose ins Netz stellen." Die Sparkasse Dortmund, so erfährt die Leserschaft, gebe ihren Beschäftigten Verhaltensempfehlungen für den freizeitlichen Umgang mit Social Media, und der Pressesprecher der Stadt wird wie folgt zitiert: "Jeder sollte seine Grenzen einhalten können." Die Entgrenzung der professionellen Arbeitssphäre hinein in das, was klassischerweise als private Freizeitsphäre angesehen wird, ist in diesem Artikel offenkundig. Die normativen Erwartungen an die professionelle Seriosität von Beschäftigten werden auf deren private Internetaktivitäten übertragen. Der Logik des Artikels zufolge tangiert bereits die bloße Existenz von bildlichen Belegen eines bestimmten Freizeitverhaltens die berufliche Integrität der betreffenden Personen.

Prägnant formulierte diese Problemperspektive auch der PR-Manager Mads Christensen: "Das 21. Jahrhundert lehrt uns, dass jede Aktion eine unauslöschliche digitale Spur hinterlässt. In den kommenden Jahren werden viele von uns mit dem, was wir heute in den verschiedenen sozialen Netzwerken veröffentlichen, konfrontiert werden. Die Tatsache, dass sich jeder fünfte Kandidat für ein Vorstellungsgespräch wegen seiner Inhalte in Social-Media Netzwerken selbst disqualifiziert, ist eine Warnung an die Arbeitssuchenden und ein Indikator für die digitale Realität in der wir leben." Die argumentative Stoßrichtung ist auch hier offenkundig: Bewerberinnen und Bewerber tragen selbst die Verantwortung für ihr Scheitern, sollte der Arbeitgeber im Internet "Belastendes" über sie finden. Sie können sich demzufolge auch durch Verhalten "disqualifizieren", über das sie in einem Freizeitkontext kommuniziert haben, nicht etwa auf einem Job- oder Karriereportal.

Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen und laden zu einer Diskursanalyse ein. Eine bestimmte Tendenz in der öffentlichen Wahrnehmung wird jedoch bereits anhand der zitierten Beispiele deutlich: Nicht etwa die Kontrolle durch neugierige Arbeitgeber wird als Problem wahrgenommen, sondern die mit ihren privaten Informationen nachlässigen Beschäftigten. Nicht die Arbeitgeber sollen darauf achten, bei ihren Nachforschungen nicht in den Freizeitbereich der Beschäftigten einzudringen, stattdessen sollen die Beschäftigten auf die Einhaltung jener Verhaltensnormen achten, die mit der professionellen Seriosität ihrer Berufstätigkeit als vereinbar gelten. Hierbei wird implizit auf einen Tugendkatalog rekurriert, der Normvorstellungen aus der Arbeitswelt in die private Lebenswelt der Beschäftigten zu transformieren versucht. Es geht daher im Diskurs um die Zeugnisse privaten Freizeitverhaltens im Internet nicht nur darum, wie Individuen mit den neuen Medien umgehen. Vielmehr findet eine versteckte Tugenddebatte darüber statt, welches private Verhalten in der digitalen Öffentlichkeit als ein Element sozialer Unordnung wahrgenommen, missbilligt und sanktioniert wird.

Es wird dabei über Privatheit und deren Grenzen im Internet diskutiert; allzu häufig ist jedoch die "Unsichtbarmachung" individueller Lebens- und Sozialpraktiken gemeint, ihre Verdrängung aus der kollektiven Wahrnehmbarkeit der digitalen Medien. Hierbei greifen normative Vorstellungen von der "perfekten Arbeitnehmerin" und dem "perfekten Arbeitnehmer" weit über die originäre Arbeitssphäre hinaus: Sie versuchen, auch jenseits von Arbeitszeit und Arbeitsort ihre Gültigkeit zu erwirken, in jenen lebensweltlichen Bereichen also, die wir üblicherweise als Freizeit und Privatsphäre betrachten. Die Logik, nach der die Diskussion um Partyfotos und andere Spuren privater Internetaktivitäten geführt wird, erfasst die Beschäftigten in ihrer Lebenswelt nahezu vollständig und verneint implizit die Existenz einer privaten Person jenseits ihrer Rolle im Berufsleben.

Anatomie des Normverstoßes

Sobald nun dieser Tugendkatalog durch die technischen Gegebenheiten des Internets in Frage gestellt wird, weil von der Norm abweichende private Lebens- und Sozialpraktiken beispielsweise in den Social Media öffentlich sichtbar werden, kommt es zum Konflikt. Es vollzieht sich ein sozialer Reflex, die kritischen Privatpraktiken als Elemente sozialer Unordnung unter die Sichtbarkeitsgrenze zurückdrängen zu wollen. Gerechtfertigt wird dieser Reflex aber nicht mit jener sozialen Norm und ihrem Geltungsanspruch, sondern in Umkehr der Verhältnisse mit dem Argument, die Beschäftigten vor möglichen Konsequenzen ihrer Handlungen schützen zu wollen. Wovor jedoch müssten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschützt werden, wenn nicht vor ausufernden arbeitsweltlichen Normvorstellungen? Allein die Norm grenzt feuchtfröhliche Partyfotos als Elemente der Unordnung ab, ächtet die darin verbildlichte soziale Praxis und erzwingt es, diese Fotos als Teil der Privatsphäre zu erklären (womit sie unterhalb der sozialen Wahrnehmungsgrenze zu verbleiben haben).

Der Antagonismus zwischen Privatheit und Öffentlichkeit in den Social Media ist in diesem Sinne ein Konflikt darum, wie weit die arbeitsweltlichen Sozialnormen unserer Gesellschaft in die private Lebenspraxis der Individuen hineinreichen und welche Verbindlichkeit sie dort besitzen. Die Social Media bieten eine Projektionsfläche und zugleich einen Resonanzboden für individuelle Lebenspraktiken, wodurch diese Praktiken öffentlich sichtbar und damit Teil des normativen Diskurses unserer Gesellschaft werden.

Natürlich wäre es auch möglich, dass nicht nur der neugierige Vorgesetzte, sondern auch Kollegen, Kunden und Geschäftspartner mehr oder minder willkürlich Einblick in die privaten Aktivitäten eines Beschäftigten erhalten. Dabei könnte es zu Irritationen kommen, wenn beispielsweise vom seriösen Anzugträger plötzlich Fotos auftauchen, die ihn dabei zeigen, wie er in Bermudashorts und mit freiem Oberkörper durch einen Strohhalm Alkohol aus einem Plastikeimer trinkt. Dabei würde aber vermutlich weniger über den (gesellschaftlich weitgehend akzeptierten) Alkoholkonsum an sich die Nase gerümpft als darüber, dass es davon öffentlich zugängliche Fotos gibt. Würden die Fotos ein Verhalten dokumentieren, welches mit der professionellen Tätigkeit des Fotografierten unvereinbar ist, so wäre auch ein Rückschluss auf die Mitarbeiterqualitäten legitim. Doch in der Regel kann ein feiernder Mensch zu anderer Zeit und an anderem Ort gewissenhaft und qualifiziert seiner beruflichen Tätigkeit nachgehen. Das soziale Konstrukt des Feierabends und der freien Wochenenden ist diesbezüglich hinlänglich erprobt und belastbar.

Gleichwohl zählt es zu den allgemein anerkannten Prämissen ebenjener Freizeitkonstruktion, dass sie räumlich und zeitlich geschieden ist vom beruflichen Kontext. Im Medium Internet verschwimmt diese Grenze. Mit ein paar Mausklicks ist es möglich, von der Website einer Versicherungsgesellschaft zu den Privatfotos einzelner ihrer Mitarbeiter zu gelangen, die sie auf ihren Profilen in den Social Media veröffentlicht haben. Genau hier setzt die Argumentation der Arbeitgeberseite an, das Unternehmen vor einem Reputationsschaden bewahren zu wollen, der durch die Internetspuren ihrer Beschäftigten verursacht werden könnte. Auch wenn in der Praxis tatsächlich wohl die wenigsten Kunden oder Geschäftspartner jemals erfahren, was ein bestimmter Mitarbeiter in seiner Freizeit auf seinem privaten Profil tut, geht es hier um eine Abwägungsfrage, bei der letztlich das hohe Gut der persönlichen Freiheit verhandelt wird.

Suche nach Lösungen

Selbst für den fiktiven Fall, dass durch das Internet und Social Media jeder alles über jeden wüsste, bliebe gleichwohl die Frage, wie mit diesem Szenario umzugehen wäre. Würde der Verlust des Unbeobachtetseins die völlige Aufgabe jeglicher persönlichen Identität bedeuten, den Abschied von individuellen Lebensstilen und -praktiken? Ich meine, selbst in einem solchen Szenario gilt es, die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen, die im grellen Licht der allgemeinen Anteilnahme als Elemente gesellschaftlicher Unordnung erscheinen, vor normierenden Eingriffen zu schützen.

Dass so etwas funktionieren kann, ist alljährlich an kulturell imprägnierten Ereignissen wie dem Karneval zu erleben, einer kollektiven Übereinkunft zur zeitlich und räumlich definierten sozialen Entgrenzung. Aus dem spezifischen sozialen und kulturellen Kontext gerissen wären die dort vollzogenen Praktiken in weiten Teilen jenseits dessen, was gemeinhin gesellschaftlich toleriert wird. Erst durch die historisch gewachsenen und kulturell akzeptierten äußeren Rahmensetzungen wird der Karneval zur anerkannten Institution.

Wenn es mithin möglich ist, eine an Ort und Zeit gebundene kollektive soziale Entgrenzung nicht nur zuzulassen, sondern geradezu zu einem kulturellen Wert zu erheben, so dürfte Ähnliches auch für die persönliche Entfaltung im Internet möglich sein. Der räumliche Kontext ist hier naturgemäß klar und eindeutig definiert: Es ist der digitale Raum, und innerhalb dessen die privaten Profilseiten der Social Media, die Foren und Homepages. Dabei ist natürlich die Unterscheidung wichtig, dass zum Beispiel ein Versicherungsmitarbeiter in seiner Freizeit nicht auf der Firmenseite, sondern auf seinem privaten Profil agiert und sich damit auch räumlich im Privaten bewegt.

Fazit

Die Debatte um die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit im Internet und den Social Media erlebt seit einigen Jahren eine Konjunktur. Die technischen Möglichkeiten jener Medien erlauben es Menschen, sich in einer Weise zu präsentieren und zu inszenieren, die vollkommen neu ist. Einige dieser Inszenierungsformen, beispielsweise öffentlich einsehbare Partyfotos, anzügliche Kommentare und Meinungsbekundungen, gelten gemäß der allgemeinen Wahrnehmung als negative Auswüchse digitaler Selbstentfaltung, zu deren Heilung die Grenze zwischen privater und öffentlicher Sphäre im Internet zu schärfen und die Medienkompetenz der Nutzer zu steigern sei.

Der gesellschaftliche Diskurs über diese vermeintlich negativen Aspekte verhandelt jedoch nur vordergründig die Grenzfrage zwischen Privatheit und Öffentlichkeit im digitalen Raum. Der eigentlich zugrunde liegende Konflikt reicht deutlich tiefer in die soziale Anatomie unserer Gesellschaft. Meine Annahme lautet, dass hierbei die Grenzlinie zwischen gesellschaftlicher Ordnung und individueller Entfaltung neu verhandelt wird und arbeitsweltliche Normvorstellungen ihre Gültigkeit über den Berufskontext hinaus beanspruchen.

B.A., geb. 1984; Masterstudent der Geschichtswissenschaft an der Universität Bremen. E-Mail Link: jens@crueger.info