Indiens BRICS-Politik: Unentschlossen im Club
Indien steht außenpolitisch und ökonomisch an einem Scheideweg. Nach Erlangung der Unabhängigkeit 1947 und dem blutigen Teilungskrieg hatte Premierminister Jawaharlal Nehru eine Politik des non-alignment formuliert, um sich im Kalten Krieg keinem der beiden Blöcke anzuschließen. Ökonomisch wurde diese Außenpolitik von der Konzeption des swaraj, der möglichst weitgehenden Autarkie unterfüttert. Mit dem Ende der Blockkonfrontation und dem Druck, die indische Wirtschaft für den Weltmarkt zu öffnen, waren Anfang der 1990er Jahre diese beiden Konstanten verschwunden. Die indische Regierung musste ihre "Außenpolitik neu erfinden".[1]Ökonomisch stand Wachstum im Vordergrund; außenpolitisch richtete sich Indien mit der Look-East-Politik[2] und der Orientierung auf asiatische Länder (ASEAN und Mittlerer Osten) vermehrt an der Nachbarschaft aus – ein Versuch, Abhängigkeiten zu vermeiden und der befürchteten Expansion Chinas entgegenzuwirken. Wegen verschiedener Regierungswechsel schwankte die Werteorientierung zwischen liberalem Internationalismus und Hindu-Nationalismus.[3] Zugleich war die Phase von 1990 bis 2010 grosso modo durch Pragmatismus und eine neoliberale Wirtschaftspolitik geprägt. Dieser Primat der Ökonomie wurde nicht in die Formulierung einer neuen außenpolitischen Strategie übersetzt. Der phänomenale Boom seit den Liberalisierungsmaßnahmen zu Beginn der 1990er Jahre erhöhte Indiens internationales Ansehen. Gleichzeitig war er die Eintrittskarte in den BRIC(S)-Club mit entsprechendem Statusgewinn, nicht zuletzt im Rahmen der G20, aber auch in außenpolitischen Konzepten westlicher Regierungen, wie etwa dem des Auswärtigen Amtes zu globalen Gestaltungsmächten.[4]
Doch die indische Politik benötigt aus verschiedenen Gründen eine klarere Orientierung: Erstens sind die Jahre der hohen Wachstumsraten zumindest vorläufig vorbei; damit ist die Basis für die internationale Reputation infrage gestellt, aber auch die Fortsetzung des bisherigen Entwicklungsmodells. Die derzeitige Wachstumskrise[5] könnte in eine Krise der Zahlungsbilanz übergehen, da die Devisenreserven knapper werden. Zweitens sind sich Think-Tanks und Entscheidungsträger in Indien bewusst, dass das Land eher durch sein Potenzial als durch sein manifestes Gewicht als emerging power einzuschätzen ist. Im Vergleich zur Volksrepublik China wird in Indien befürchtet, ohne strukturelle Veränderung mittelfristig nicht konkurrenzfähig zu sein. Mögliche Ambitionen, dauerhaft globales Gewicht zu erhalten, werden sich nur dann materialisieren, wenn Indien seine internen Schwächen überwindet – vor allem die systemische Korruption, die ökonomischen Reformstaus, die Kastenschranken sowie die immer noch horrende Armutsproblematik.[6]
Die lebhafte Debatte über die Notwendigkeit einer expliziten außenpolitischen Strategie spiegelt einen Selbstfindungsprozess der außenpolitischen Eliten wider,[7] der um das Konzept der "strategischen Autonomie" kreist und paradigmatisch auf flexible, politikfeldspezifische Allianzbildung in einer multipolaren Welt setzt. Nur vor dem Hintergrund dieser Debatte lässt sich beurteilen, welche Rolle das BRICS-Forum für die indische Außenpolitik spielt oder spielen könnte. Die Mitwirkung in der BRICS-Gruppe wird dabei breit befürwortet. Umstritten bleibt aber, ob der Club eine herausgehobene Relevanz für die Umsetzung mittel- und langfristiger Ziele indischer Außenpolitik haben kann und mit welchem diplomatischen wie finanziellen Kapital man sich beteiligen sollte.[8] Das Land ist somit derzeit ein zwar stolzes, zugleich aber auch unentschlossenes Clubmitglied.
Konzept der "strategischen Autonomie"
"Strategische Autonomie" bedeutet in Indien, unabhängig von äußerer Einflussnahme auf internationaler Ebene manövrierfähig zu sein. Das Land hat sich in vielen Fragen weitgehend von der Politik der Blockfreiheit verabschiedet.[9] Bei der Verfolgung strategischer Autonomie (auf der Basis eines eigenen Entwicklungsmodells und hinreichender Machtressourcen), also eigene Interessen zu artikulieren und bei der Gestaltung der Weltordnung einzubringen, betont die Regierung einen institutionalisierten Multilateralismus. Sie verfolgt gleichzeitig einen ausgeprägten Bilateralismus und wirkt zunehmend in informellen Clubs mit. Dies wird nicht als möglicher Widerspruch verstanden, sondern als unterschiedliche Melodien, die auf der außenpolitischen Klaviatur in freier Folge gespielt werden können.Mit der multipolaren Ausrichtung will Indien in den wichtigen Foren der Weltpolitik – so etwa in der Welthandelsorganisation (WTO), im Internationalen Währungsfonds (IWF), in der Weltbank und im UN-System – die Ungerechtigkeiten der derzeitigen Stimm- und Machtverteilung überwinden. Neben Quoten- und Stimmrechtsreformen im IWF fordert es für sich einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Die mit moralischer Rhetorik unterlegte Positionierung hat in internationalen Verhandlungen zu einem Stil geführt, den kritische Beobachter als "an unrealistic combination of arrogance and poverty" bezeichnet haben.[10] Das Land hat sich in globalen Verhandlungsforen einen Ruf als "the India that can’t say yes" erworben[11] – ein Image, das nur bedingt zu einer Profilierung als künftige "Gestaltungsmacht" passt.
Dem institutionalisierten Multilateralismus auf globaler Ebene steht besonders mit Bezug auf die Region Südasien ein ausgeprägter Bilateralismus gegenüber. Er lässt sich angesichts widriger Umstände als kluge Nachbarschaftspolitik bezeichnen; kritischer betrachtet spiegelt er aber auch eine mangelnde Fähigkeit zur regionalen Integration wider. Es ist Indien nicht gelungen, ein Vertrauensverhältnis zu den kleineren Nachbarländern aufzubauen und als "wohlwollender Hegemon" aufzutreten; vor allem das Verhältnis zu Pakistan ist von Misstrauen geprägt. Am deutlichsten schlägt sich der Bilateralismus in der Annäherung an die USA nieder. Nach Jahrzehnten der Distanz in den indisch-amerikanischen Beziehungen ergaben sich mit dem Atomvertrag 2005 zur Nutzung ziviler Nukleartechnologie für Indien neue außenpolitische und außenwirtschaftliche Möglichkeiten.[12] Das Treffen zwischen US-Präsident Barack Obama und dem indischen Ministerpräsidenten Manmohan Singh im September 2013 in Washington unterstrich die Annäherung erneut durch ein Abkommen zur Kooperation bei der Produktion moderner Waffensysteme. In Teilen der indischen Presse wurde die "enge Partnerschaft" gefeiert, und der General und ehemalige Parlamentsabgeordnete Shankar Roychowdhury schlussfolgerte: "India is in the big boys club now, and must carry its own big stick."[13] Obwohl dieses Rapprochement mit den USA außenpolitische Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Indien und Russland (dem bislang größten Waffenlieferanten Indiens) haben kann und in besonderer Weise eine Rückversicherung gegenüber dem als expansionistisch eingeschätzten China bedeutet, glauben Außenpolitikexperten mit diesem Bilateralismus den US-Unilateralismus konterkarieren und eine collective hegemony etablieren zu können, sprich: eine Beteiligung Indiens an den weltpolitischen Entscheidungen.[14]
Jenseits des Multilateralismus und des Bilateralismus hat in den vergangenen zehn Jahren eine neue außenpolitische Variante an Bedeutung gewonnen: die Mitwirkung in Clubs unterschiedlicher Zusammensetzung und Größe. Besonders prominent sind die G20 und die BRICS; zugleich strebt Indien aber eine Anbindung an zahlreiche regionale Foren an (ASEAN, Shanghai Kooperation, Asiatisch-Pazifischer Dialog) und hält sich für ausgewählte Fragen Club-Optionen unterhalb der BRICS-Ebene offen, etwa im IBSA- (Indien, Brasilien, Südafrika) und BASIC-Rahmen (BRICS ohne Russland).