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Antisemitische Einstellungen in Deutschland und Europa

Juliane Wetzel

/ 16 Minuten zu lesen

Das Potenzial antisemitischer Haltungen in Europa beschränkt sich nicht auf jenes, das in rechtsextremen Parteien vorhanden ist. Vorurteile, Ressentiments und Stereotype finden sich auch in anderen politischen Spektren und ebenso in Teilen der Mehrheitsgesellschaft.

Antisemitische Vorurteile, Ressentiments und Stereotype haben in ihrer jahrhundertealten, von Generation zu Generation tradierten Geschichte immer wieder eine außergewöhnliche Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit an aktuelle Diskurse und Zeitläufte bewiesen. Die rassistische Form des Antisemitismus hat heute in vielen Ländern Europas – auch in Deutschland – an Aktualitätswert verloren, weil sie kaum noch anschlussfähig an die Mehrheitsgesellschaft ist. Selbst die meisten rechtsextremen Gruppierungen vermeiden in der Öffentlichkeit inzwischen rassistisch-antisemitische Konnotationen und bedienen sich eher sozialer Themen, in der Hoffnung, Menschen in Problemlagen für sich gewinnen zu können. Allerdings finden sich unter den gängigen antisemitischen Stereotypenmustern durchaus rassistisch-kulturalistische Komponenten nach dem Motto "Juden passen einfach nicht zu uns". Es wird unterstellt, Juden seien kulturell anders, gehören einer fremden Kultur an, seien also "Fremde" oder symbolisieren gar die "Figur des Dritten", stehen also völlig außerhalb der Dichotomie "Wir" und "die Anderen". Insofern ist der Antisemitismus nicht nur eine bloße Spielart des Rassismus. Antisemitische Konnotationen schreiben "den Juden" Macht und Vermögen zu; von Rassismus betroffene Menschen hingegen werden in der Regel als randständig, als an unterster Stelle der Gesellschaft stehend, als bildungsfern, als Angehörige des Prekariats abgewertet. Ein wesentlicher Motor antisemitischer Vorurteile ist der Neid, der Juden als vermeintlich besser gestellt, als reich und mächtig stigmatisiert; bei Rassismus hingegen spielen eher Konkurrenzängste um knapper bemessene Mittel und Arbeitsplätze eine Rolle, die in Krisenzeiten Vorstellungen von nationaler, ethnischer und religiöser Einheit, einhergehend mit Ängsten vor "Fremden", fördern.

Formen des Antisemitismus

Heute dominieren mit dem sekundären und dem israelbezogenen Antisemitismus (Antizionismus) im Wesentlichen zwei Formen der Judenfeindschaft, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind. Ähnlich wie der Antijudaismus, also die religiös begründete Judenfeindschaft, und der moderne beziehungsweise traditionelle Antisemitismus basieren beide Varianten auf der Imagination eines angeblichen jüdischen Kollektivs, das gemäß gängiger Verschwörungstheorien Jüdinnen und Juden zuschreibt, als eine Gruppe zu agieren, die die Macht in allen gesellschaftlich und politisch relevanten Bereichen anstrebe beziehungsweise bereits übernommen habe. Die christliche Judenfeindschaft bleibt heute meist auf sektiererische religiöse Randgruppen beschränkt. Facetten des modernen Antisemitismus, dessen rassistische Grundierung heutzutage eher nicht mehr verfängt, sind allerdings bis heute virulent, wenn Vorurteile und Stereotype gegenüber Juden sich zu einem geschlossenen antisemitischen Weltbild formen. Dominieren weltanschaulich überformte Negativbilder von "den Juden", dann werden dem Kollektiv sämtliche negative Erscheinungen des Lebens zugeschrieben. Komplizierte Sachverhalte lassen sich einfach und schnell erklären, wenn Juden als Sündenbock auszumachen sind. Dies erwies sich einmal mehr während der jüngsten Finanzkrise als leicht zu reaktivierendes Vorurteil. Imaginationen vom jüdischen Kapitalismus, jüdisch dominierten Banken und Börsenspekulationen bedienen das klassische antisemitische Motiv des Juden als Strippenzieher der Finanzwelt bis heute.

Die unterstellte Symbiose von Juden und Geld vermischt sich heute nicht selten mit einer anderen Facette ressentimentgeladener judenfeindlicher Unterstellungen, die behaupten, "die Juden" würden Regierungen unter Druck setzen, also Macht ausüben, um finanzielle Vorteile aus ihrer Opferrolle zu ziehen beziehungsweise "schuld" daran sein, dass die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen ständig präsent sei. Es erfolgt nicht selten eine Umkehr des Täter/Opfer-Schemas, das insbesondere auf Israel bezogen wird und eine Entschuldungsstrategie bedient: Juden verhielten sich gegenüber den Palästinensern nicht anders als die Nationalsozialisten gegenüber den Juden. Solche Vorstellungen kulminieren in Vergleichen oder gar Gleichsetzungen von Nationalsozialismus und israelischer Politik. Begriffe, die eng mit der nationalsozialistischen Rassenpolitik verbunden sind, wie etwa "Vernichtungskrieg", finden häufig in der Agitation gegen Israel Verwendung. Ebenso verbreitet sind europaweit Karikaturen, die den Holocaust mit dem Vorgehen des israelischen Militärs im Nahostkonflikt gleichsetzen – nicht nur im Internet, sondern auch in seriösen Tageszeitungen. Formen des sekundären Antisemitismus werden somit in aktuellen Debatten auf Israel übertragen und sind inzwischen in vielen europäischen Ländern virulent, etwa wenn ein jüdischer Opferstatus abgelehnt und daraus folgend das Existenzrecht des Staates Israel negiert wird.

Die Holocaust-Leugnung ist die extremste Form des sekundären Antisemitismus. Auch sie wird heute gegen Israel verwendet. Wird der Holocaust als Chimäre, als "Mythos" bezeichnet, hat dies unmittelbare Auswirkungen auf die Anerkennung des Existenzrechts Israels, weil der Holocaust eine zentrale Rolle bei der Gründung des jüdischen Staates 1948 spielte und die Erinnerung daran fester Bestandteil israelischer Identität ist.

Politische Agitationsfelder des Antisemitismus

Antisemitische Straf- und Gewalttaten haben zu 90 Prozent einen rechtsextremen Hintergrund, weil Judenfeindschaft konstitutiver Bestandteil rechtsextremer Ideologien ist. Im linken beziehungsweise linksextremen politischen Spektrum ist der Antisemitismus keine feste ideologische Größe, allerdings können Diskurse – insbesondere im Hinblick auf den Nahostkonflikt oder die Finanz- und Zinspolitik – antisemitische Inhalte transportieren, die unwidersprochen Eingang in Argumentationsmuster finden und weitertradiert werden. Palästina-Solidaritäts-Demonstrationen, an denen sich auch rechtsextreme Gruppierungen zu beteiligen versucht haben, zeigen, dass solche Inhalte anschlussfähig an rechtsextreme Agitationsfelder sein können.

Palästinensertücher, lange ein Symbol linker Haltungen, haben bei Teilen der Rechtsextremen als antiisraelisches Symbol seit Ende der 1990er Jahre ebenso an Attraktivität gewonnen wie Aufkleber mit dem Slogan "Solidarität mit Palästina" (Junge Nationaldemokraten). Allerdings werden im Gegensatz zu rechtsextremen Parteien und Gruppierungen antisemitische Tendenzen in Teilen des linken Lagers durchaus kritisch hinterfragt. Ein geschlossenes antisemitisches Weltbild findet sich hier nur selten, dennoch werden vorhandene antisemitische Einstellungen bisweilen nicht ausreichend reflektiert beziehungsweise gar nicht erst als solche erkannt.

Die Debatte um das "Gedicht" von Günter Grass, die zweifelhafte Ehre für den "Freitag"-Herausgeber Jakob Augstein auf der neunten Position der Antisemiten-Liste des Simon-Wiesenthal-Centers 2012 geführt zu werden und die Beschneidungsdebatte haben einmal mehr gezeigt, wie linke Positionen in Verbindung mit Schuldabwehrmechanismen antisemitische/antizionistische Stereotype, Vorurteile und Ressentiments bedienen können, ohne diese als solche wahrzunehmen beziehungsweise sie gebetsmühlenartig von sich zu weisen. Waren es in den vergangenen Jahren überwiegend Debatten zum Nahostkonflikt und zu Israel – wie auch Grass’ Gedicht zeigte –, die als Plattform genutzt wurden, das anti-antisemitische Tabu im öffentlichen Diskurs zu durchbrechen, so kam mit der Beschneidungsdebatte ein weiteres Feld hinzu, das – diesmal im Namen der Menschenrechte und des Kindeswohls – Stereotype aus dem breiten Kanon antisemitischer Vorurteile aktivierte. Solche Inhalte fanden schnell in Foren, Blogs und Online-Kommentarspalten – auch seriöser – Tages- und Wochenzeitungen Verbreitung.

Antisemitische Manifestationen

Dominieren Themen wie der Nahostkonflikt oder – wenn auch nur kurzfristig – die Beschneidungsdebatte den öffentlichen Diskurs, dann geht dies nicht selten einher mit einem Anstieg antisemitischer Straf- und Gewalttaten nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern. Allerdings handelt es sich häufig nur um einen kurzfristigen, auf die aktuelle Präsenz des Themas zurückzuführenden Anstieg, der ebenso schnell wieder abebben kann. In der Öffentlichkeit aber dominiert bisweilen der Eindruck, wir hätten es mit einem linearen, drastischen Anstieg antisemitischer Übergriffe zu tun. Verglichen mit den 1990er Jahren liegt das Niveau antisemitischer Manifestationen insgesamt gesehen tatsächlich deutlich höher. Setzt man als Referenzrahmen den Zeitraum ab Herbst 2000, den Beginn der zweiten Intifada, dann ergibt sich ein differenzierteres Bild, das von Land zu Land stark variiert.

Der jüngste Bericht des Kantor Center for the Study of Contemporary European Jewry in Tel Aviv zum Antisemitismus weltweit konstatiert für 2013 bezüglich der Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund einen Rückgang um 19 Prozent gegenüber 2012 (2013: 554; 2012: 686). Allerdings liegt das Niveau deutlich höher als in den Jahren 1994 bis 2004 (durchschnittlich 150 bis 200 Gewalttaten; 2004 bis 2013 durchschnittlich 550 Gewalttaten). In einigen Ländern ist die Zahl gesunken, dafür aber in anderen deutlich gestiegen.

Frankreich steht an vorderster Stelle mit 116 Fällen und ist damit wieder auf das Niveau von 2011 (114) gefallen. Gegenüber 2012 mit 200 Gewalttaten bedeutet dies einen deutlichen Rückgang. Die Morde an einer jüdischen Schule in Toulouse im März 2012 hatten zu einem massiven Anstieg antisemitischer Gewalt geführt und einmal mehr bestätigt, dass Ereignisse, die den öffentlichen Diskurs über einen längeren Zeitraum bestimmen, der Auslöser für eine Zunahme antisemitischer Übergriffe sein können. Der Rückgang antisemitischer Gewalttaten, den das Kantor Center für 2013 konstatiert, basiert im Wesentlichen auf der veränderten Situation in Frankreich, das 84 Fälle weniger verzeichnet. Insgesamt gesehen hat sich die Situation – was die antisemitischen Gewalttaten betrifft – also nicht grundlegend verbessert. Großbritannien meldete 95 gewalttätige Übergriffe verglichen mit 84 im Jahr 2012; in der Ukraine stiegen die Zahlen von 5 (2012) auf 23 im Jahr 2013 und in Ungarn waren es mit 14 zwei mehr als im Jahr zuvor.

In Deutschland wurden 2013 51 Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund registriert (2012: 41). In Bezug auf antisemitische Straftaten (außer Gewalttaten, vor allem Propagandadelikte) konnte mit 1275 (2013) gegenüber 1374 im Vorjahr ein Rückgang um rund 100 Fälle verzeichnet werden, wobei die Werte gegenüber 2010 (1268) und 2011 (1239) immer noch höher liegen. Die höchste Zahl wurde 2009 mit 1690 registriert. In Großbritannien, das ebenso 2009 mit 931 Fällen den Höchstwert erreichte, wurden für 2013 529 antisemitische Straftaten festgestellt, gegenüber 2012 mit 649 ein deutlicher Rückgang (2010: 646; 2011: 609).

Umfragen

Die Studien von Oliver Decker et al. 2010 ("Die Mitte in der Krise") und 2012 ("Die Mitte im Umbruch") haben gezeigt, wie stark Juden in der bundesdeutschen Bevölkerung als "Fremde" beziehungsweise in einem kulturalistisch-rassischen Sinne als "andersartig" wahrgenommen werden. Auch wenn 2012 39,6 Prozent (2010: 40,2 Prozent) dies völlig ablehnten, stimmten dem Item (Aussage) "Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns" immerhin 38,8 Prozent (2010: 38,9 Prozent) der Befragten teilweise, überwiegend beziehungsweise voll und ganz zu. 2012 waren 44,3 Prozent teilweise bis voll und ganz der Meinung "auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß"; 55,7 Prozent lehnten dies überwiegend bis völlig ab.

Am 13. Mai 2014 veröffentlichte die US-amerikanische Anti-Defamation League (ADL) die Ergebnisse einer zwischen Juli 2013 und Februar 2014 erstmals weltweit vorgenommenen Umfrage, in der die Haltung gegenüber Juden von 53100 Personen in hundert Ländern erhoben wurde. Nach dieser Studie hegen 1,09 Milliarden Menschen weltweit antisemitische Vorurteile. Diese erschreckende Zahl baut ein Bedrohungsszenarium auf, das es durchaus zu hinterfragen gilt. Zu kritisieren ist insbesondere die Methode der Umfrage, die ausschließlich die binäre Möglichkeit bot, auf die elf abgefragten Items entweder mit "vermutlich richtig" oder mit "vermutlich falsch" antworten zu können. Wer mindestens sechs Items mit "vermutlich richtig" beantwortet hat, wurde als Person mit "antisemitischer Haltung" eingestuft.

Die Studie identifiziert Polen mit 45 Prozent der Bevölkerung, die eine antisemitische Haltung einnehmen, als das Land in "Osteuropa" mit dem höchsten Wert. Ungarn kommt mit 41 Prozent kurz dahinter und Tschechien mit 13 Prozent auf das niedrigste Ergebnis. Dass die Westbank und Gaza mit 93 Prozent an oberster Stelle rangieren, ist keine überraschende Erkenntnis. Interessanter dagegen erscheint das Ergebnis für Laos, das mit 2 Prozent am niedrigsten liegt; in den USA wurden 9 Prozent ermittelt. In Westeuropa sieht die ADL Griechenland mit 69 Prozent an vorderster Stelle. Deutschland rangiert mit 27 Prozent leicht über dem westeuropäischen Durchschnitt (24 Prozent). Dies gilt auch für Belgien, wo das gleiche Ergebnis erzielt wurde. Mit 29 Prozent liegt Spanien leicht darüber und weist damit gegenüber 2012 einen stark Rückgang auf (53 Prozent). Wobei sich hier die Frage stellt, ob diese erfreuliche Entwicklung das Resultat eines tatsächlichen Wandels spiegelt oder die Befragungsmethode Defizite aufweist.

In Deutschland antworteten 33 Prozent mit "vermutlich richtig" auf das Item "Juden haben zu viel Einfluss in den Finanzmärkten", wobei es in der Gruppe der 18- bis 34-Jährigen nur 23 Prozent waren. 85 Prozent der Griechen waren der Meinung, dass Juden zu viel Einfluss in der Geschäftswelt haben, in der Ukraine waren es 56 Prozent und in Russland 49 Prozent, in Belgien 43 Prozent (ADL-Umfrage 2007: 36 Prozent). Reminiszenzen an latente Formen eines sekundären Antisemitismus spiegeln sich in dem Item "Juden reden zu viel über das, was ihnen während des Holocaust widerfahren ist". Immerhin 52 Prozent der Bundesbürger waren der Meinung, dass die Aussage vermutlich richtig sei. Das Niveau lag bei der Gruppe der 35- bis 49-Jährigen mit 57 Prozent sogar noch höher. In Belgien stimmten 37 Prozent (46 Prozent der über 50-Jährigen), in Griechenland mit 60 Prozent fast doppelt so viele der Aussage zu, wobei auch hier die Alterskohorte der 35- bis 49-Jährigen mit 52 Prozent am höchsten lag. In der Ukraine glaubten 48 Prozent, dass Juden zu viel über den Holocaust sprechen.

Zwei Jahre zuvor, im März 2012, hatte die ADL Umfrageergebnisse zu antisemitischen Haltungen in zehn europäischen Ländern veröffentlicht und auch hier nur zwei Antwortmöglichkeiten vorgegeben. Dass "Juden zu viel über das reden, was ihnen während des Holocaust widerfahren ist" glaubten damals 63 Prozent der Ungarn und nahmen damit den Platz am oberen Ende der Skala ein (Deutschland: 43 Prozent; Polen: 53 Prozent; Frankreich: 35 Prozent; Italien: 48 Prozent), Großbritannien lag mit 24 Prozent am untersten Ende und damit deutlich unter dem europäischen Mittelwert von 41 Prozent. Der Aussage "Juden haben zu viel Macht in der Geschäftswelt" stimmten in Großbritannien 20 Prozent teilweise bis voll zu; auch hier lag das Land wieder weit unter dem Durchschnitt von 36 Prozent.

Vergleicht man die beiden Umfragen der ADL 2012 und 2014 in Bezug auf das Item "Juden sprechen zu viel über das, was ihnen während des Holocaust widerfahren ist", dann wird in einigen Ländern eine Diskrepanz deutlich, die sich nicht erklären lässt. Es scheint wenig wahrscheinlich, dass antisemitische Vorurteile aus dem Bereich des sekundären Antisemitismus innerhalb von zwei Jahren in Deutschland von 43 Prozent auf 52 Prozent gestiegen sind. Für Ungarn hingegen lässt sich kein Unterschied zwischen beiden Ergebnissen (2014: 61 Prozent; 2012: 63 Prozent) ausmachen; 2 Prozent liegen im Bereich der Fehlerquote. Die Werte für Polen unterscheiden sich jedoch wieder erheblich: 53 Prozent 2012 und 62 Prozent 2014. Italien zeigt wenig Diskrepanz: 48 Prozent 2012 und 45 Prozent 2014; aber die Niederlande umso mehr: 31 Prozent 2012 zu 20 Prozent 2014. Bei den Items "Juden haben zu viel Einfluss in den Finanzmärkten (2014: 50 Prozent; 2012: 67 Prozent) und in der Geschäftswelt (2014: 53 Prozent; 2012: 60 Prozent) sind insbesondere in Spanien deutliche Veränderungen zu beobachten. In Bezug auf das Item, das sich auf den Holocaust bezieht, ist das Niveau dort gleich geblieben (2014: 48 Prozent; 2012: 47 Prozent). Die Alterskohorten haben sich einander angeglichen: 2014 liegen die 18- bis 34-Jährigen bei 20 Prozent, die 35- bis 49-Jährigen und die über 50-Jährigen bei 33 Prozent. 2012 waren in Spanien 69 Prozent derjenigen, die vier der abgefragten Items mit "vermutlich richtig" beantwortet haben, über 65 Jahre alt.

In der Studie zur "Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" im europäischen Kontext 2011 von Andreas Zick et al. haben in Deutschland auf die Aussage "Juden haben zu viel Einfluss in Deutschland" 19,7 Prozent zustimmend geantwortet (Großbritannien: 13,9 Prozent; Frankreich: 27,7 Prozent; Italien: 21,2 Prozent; Polen: 49,9 Prozent; Ungarn: 69,2 Prozent; Niederlande: 5,6 Prozent). 48 Prozent bejahten, dass "Juden Vorteile daraus ziehen, dass sie Opfer der NS-Ära waren" (Großbritannien: 21,8 Prozent; Frankreich: 32,3 Prozent; Italien: 40,2 Prozent; Polen: 72,2 Prozent; Ungarn: 68,1 Prozent; Niederlande: 17,2 Prozent). Auf das Item "Israel begeht einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser" haben in Deutschland 47,7 Prozent positiv reagiert (Großbritannien: 42,4 Prozent; Frankreich: kein Ergebnis; Italien: 37,6 Prozent; Polen: 63,3 Prozent; Ungarn: 41,0 Prozent; Niederlande: 38,7 Prozent). Hier lässt sich konstatieren, dass der Nahostkonflikt in Großbritannien, aber auch in den Niederlanden antisemitische Stereotype befördert, die ansonsten – im Vergleich zu anderen europäischen Ländern – eher im niedrigen Bereich liegen.

2013 veröffentlichte die Europäische Grundrechte Agentur (Fundamental Rights Agency; FRA) die Ergebnisse einer Umfrage zu den "Erfahrungen der jüdischen Bevölkerung mit Diskriminierungen und Hasskriminalität in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union". Befragt wurden 5847 Personen in acht EU-Mitgliedsstaaten (Frankreich, Belgien, Deutschland, Ungarn, Italien, Lettland, Schweden und Großbritannien), die sich selbst als Juden einstuften. Die FRA konstatierte aufgrund der Ergebnisse, dass es eine "weit verbreitete Angst vor Antisemitismus im Internet und vor Viktimisierung" gebe: "Zwei Drittel der Befragten (66%) sehen Antisemitismus als ein Problem innerhalb der untersuchten EU-Mitgliedsstaaten an. Drei Viertel der Befragten (76%) gaben an, dass Antisemitismus innerhalb der vergangenen fünf Jahre in ihrem Land zugenommen habe. Insgesamt betrachten 75% der Befragten Antisemitismus im Internet als ein Problem in ihrem Land. Fast drei Viertel der Befragten (73%) gaben an, dass Antisemitismus im Internet während der vergangenen fünf Jahre zugenommen habe." Das Gefahrenpotenzial der Verbreitung antisemitischer Inhalte im Internet ist tatsächlich gegeben und wird etwa in Deutschland von Organisationen wie Jugendschutz.net thematisiert und beobachtet. Insbesondere in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter sind antisemitische Inhalte virulent.

In Frankreich, Deutschland und Schweden hielten die Teilnehmer der FRA-Studie Antisemitismus für eine der drei dringlichsten sozialen und politischen Aufgaben. 84 Prozent der Befragten in Frankreich, 74 Prozent derjenigen in Belgien und 72 Prozent in Ungarn sowie 48 Prozent in Deutschland (Schweden: 51 Prozent; Italien: 30 Prozent; Großbritannien: 35 Prozent) hielten Feindschaft gegen Juden in der Öffentlichkeit, auf Straßen und Plätzen, für ein "großes" beziehungsweise "ziemlich großes" Problem. 60 Prozent der befragten Juden in Frankreich befürchteten im Zeitraum von zwölf Monaten nach der Erhebung körperlich angegriffen zu werden. An zweiter Stelle rangierte Belgien mit 54 Prozent, gefolgt von Ungarn (34 Prozent) und Deutschland (33 Prozent).

Der hohe Wert in Frankreich ist das Ergebnis der Morde in Toulouse sowie der Misshandlung und Tötung von Ilan Halimi 2006. Für die Juden in Frankreich handelte es sich nicht nur um Bedrohungsszenarien, sondern um Ängste vor einer Gefahr, die bereits zur Realität geworden ist. Inzwischen haben sich die Befürchtungen der Juden in Belgien ebenso als realistisch erwiesen, zumindest wenn sich die Einschätzungen bestätigen, dass der tödliche Anschlag im Jüdischen Museum in Brüssel am 24. Mai 2014, dem vier Personen zum Opfer fielen, einen antisemitischen Hintergrund hat. Am 8. Juni 2014 wurde der mutmaßliche Attentäter, ein 29-jähriger Franzose maghrebinischer Abstammung, in Marseille festgenommen. Die Ermittler haben Hinweise auf einen dschihadistischen Hintergrund. Es ist zu befürchten, dass ähnlich wie nach der Tat in Toulouse in Frankreich nun auch in Belgien die Zahl antisemitischer Übergriffe steigen wird.

Europawahlen

Die Europawahlen im Mai 2014 haben in einigen Ländern nicht nur europafeindlichen, sondern auch rechtsextremen Parteien, die antisemitische Inhalte propagieren, deutliche Stimmengewinne gebracht.

Die griechische Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte), die bei den Parlamentswahlen in Griechenland im Juni 2012 6,9 Prozent der Stimmen erhielt, konnte sich bei den Wahlen zum Europäischen Parlament auf 9,4 Prozent verbessern.

In Italien wurde die Fünf-Sterne-Bewegung unter Beppe Grillo mit 21,1 Prozent zweitstärkste Partei. Grillo fällt immer wieder durch antisemitische Auslassungen auf. So hatte er etwa im April 2014 auf seinem Blog ein Foto veröffentlicht, das das Eingangstor von Auschwitz mit dem verfälschenden Slogan "P2 macht frei" zeigt und auf den Namen einer in den 1970er Jahren als politische Geheimorganisation agierenden Loge anspielt. Betitelt war der Blog-Eintrag mit "Se questo è un Paese" ("Ist dies ein Land?"), Primo Levis Buchtitel "Ist das ein Mensch?" missbrauchend. Auf der Grundlage von Levis Gedicht, das dem ersten Kapitel des Werks vorangestellt ist, polemisierte Grillo in Metren gegen die italienische Politik.

In Ungarn erreichte die rechtsextreme Partei Jobbik, die vor allem durch romafeindliche Aktionen auf sich aufmerksam macht, aber auch geschichtsklitternde Inhalte verbreitet und antisemitische Vorurteile bedient, mit 14,7 Prozent den zweiten Platz hinter der regierenden Fidesz-Partei. Der erdrutschartige Sieg des Front National in Frankreich zur stärksten Partei hat alle Befürchtungen übertroffen. Unter Marine Le Pen hat sich der FN aber zumindest vordergründig von antisemitischen Tendenzen losgesagt.

Parteien, die mit antisemitischen Inhalten agieren, sind in vielen Ländern immer noch ein Randphänomen. Umfragen zeigen jedoch, dass in einer Reihe von europäischen Ländern das Potenzial antisemitischer Haltungen zum Teil weit über jenes hinausgeht, das traditionell in rechtsextremen Parteien zu vermuten ist. Deshalb sind etwa in Deutschland Programme gegen Rechtsextremismus wichtig, sie dürfen aber nicht die falsche Hoffnung bedienen, es werde damit gleichzeitig der Antisemitismus bekämpft. Antisemitische Vorurteile, Ressentiments und Stereotype sind nicht auf das rechtsextreme Lager beschränkt, sondern finden sich auch in anderen politischen Spektren und ebenso in Teilen der Mehrheitsgesellschaft.

Dr. phil., geb. 1957; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, Ernst-Reuter-Platz 7, 10587 Berlin. E-Mail Link: wetz0154@mailbox.tu-berlin.de