Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Losverfahren: Ein Beitrag zur Stärkung der Demokratie? | Parlamentarismus | bpb.de

Parlamentarismus Editorial Die Europäische Union auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie? Über das Politikmanagement einer modernen Opposition Auszug: Minderheitenrechte in der 18. Wahlperiode Stellschrauben der Minderheitsmacht: Opposition im internationalen Vergleich Regierungs- oder Bekenntniswahlsystem? Ein Plädoyer für das relative Mehrheitswahlrecht Losverfahren: Ein Beitrag zur Stärkung der Demokratie? Parlamente und künftige Generationen – das 4-Gewalten-Modell

Losverfahren: Ein Beitrag zur Stärkung der Demokratie?

Christiane Bender Hans Graßl

/ 18 Minuten zu lesen

In modernen demokratischen Gesellschaften sind Wahlen das zentrale Verfahren, mit dem Bürger/-innen die Macht in ihrem Lande ausüben. Als Wähler/-innen bringen sie ihren politischen Willen zum Ausdruck. Als von ihnen Gewählte erhalten die zur Wahl stehenden Personen und Parteien politische Macht auf Zeit, indem sie verantwortliche Positionen übernehmen und vielfältige Ressourcen erhalten, um ihre politischen Vorhaben zum Wohle aller umzusetzen. Wahlen stehen daher in erster Linie im Fokus der medialen, sozial- und politikwissenschaftlichen Aufmerksamkeit, wenn es darum geht, die politische Kultur eines Landes zu bewerten. Eine sinkende Wahlbeteiligung, aber auch eine geringere Partizipation größerer Kreise der Bevölkerung am politischen Geschehen bieten vor diesem Hintergrund Anlässe zur Sorge, zur kritischen Analyse von Ursachen und Konsequenzen und zur Erörterung geeigneter Therapien.

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel diagnostiziert seit einigen Jahren für Deutschland eine "Partizipations-Repräsentations-Lücke", die hierzulande das politische Klima eintrübe. Der Begriff verweist sowohl auf die abnehmende Beteiligung der Bevölkerung an Wahlen als auch auf die Herkunft der Gewählten, die kaum die Sozialstruktur der Bevölkerung widerspiegelt. In Deutschland sinkt, wie in vielen anderen Demokratien, die Wahlbeteiligung. Immer weniger Bürger/-innen bringen ihren politischen Willen in Wahlen zum Ausdruck. Diese Wahlenthaltung erhöht zudem das politische Gewicht der Wähler, die sich an den Wahlen beteiligen. Damit wächst die Bedeutung all derer, die politisch gut organisiert sind. In der Folge sehen sich aber auch die im Namen des Volkes Gewählten mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, für ihre Ziele eine breite Zustimmung zu erlangen. Die Interessen und Einstellungen eines immer größeren Teils der Bevölkerung, der Nichtwähler, gelangen somit, wenn überhaupt, nur noch gefiltert durch das mediale Umfragebusiness in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Sie partizipieren kaum am institutionellen Gefüge der politischen Herrschaft und nehmen keinen Einfluss auf die Besetzung der Ämter sowie die Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen. Damit wächst die Gefahr, dass die politische Zuteilung von Macht und Geld als ungerecht empfunden wird, was auf lange Sicht das Vertrauen in das Fundament der Demokratie – in Wahlen – aushöhlt.

Angesichts dieser Problemlage werden in letzter Zeit seitens der Sozial- und Politikwissenschaften Therapien entwickelt, um die Bürger/-innen zum Wählen zu mobilisieren und um den Kreis der Bevölkerung zu erweitern, aus dem sich die politischen Repräsentanten rekrutieren. In unserem Beitrag wollen wir vor dem Hintergrund einer soziologischen Analyse der Krisenursachen die Reichweite und Grenzen einiger Therapien erörtern und unser besonderes Augenmerk auf den Vorschlag richten, künftig Abgeordnete auszulosen. Könnte das Losverfahren einen realistischen und wünschenswerten Beitrag zur demokratischen Mobilisierung von marginalisierten und sich selbst ausschließenden Wählergruppen hinsichtlich ihrer Wahlbeteiligung und ihrer Partizipation in Parlamenten und Parteien leisten? Wenden wir uns zunächst der Ursachenanalyse zu.

Wähler und Parteien im Wandel

Die über Jahrzehnte vergleichsweise hohe Beteiligung an Bundestagswahlen und die beiden großen Volksparteien mit ihrer tendenziell kleinbürgerlichen Prägung gehören zu den Erfolgsgeschichten der Demokratie in Deutschland. Sie haben den politischen Willen breiter Bevölkerungsschichten organisiert und für einen Ausgleich der Interessen gesorgt, vor allem auch mit den Interessen der politischen und ökonomischen Eliten. Doch spätestens seit den 1990er Jahren treten Unbehagen und Entfremdung an die Stelle von Zustimmung und Anerkennung in der Beziehung zwischen Bürgern, Politikern und ihren Parteien. Zwar verfügen die koalierenden Regierungsparteien im 18. Deutschen Bundestag über eine erdrückende Mehrheit, aber sie repräsentieren weniger als die Hälfte aller Stimmbürger. Berücksichtigt man die Wahlbeteiligung von 71,5 Prozent, dann haben bei der Bundestagswahl 2013 knapp 30 Prozent der wahlberechtigten Bürger für die CDU/CSU und etwa 18 Prozent für die SPD gestimmt. Rund elf Prozent der wahlberechtigten Bürger/-innen (15 Prozent der abgegebenen Stimmen) wählten Parteien, die wegen der Fünfprozenthürde nicht in den Bundestag einziehen durften. Die Abgeordneten des Bundestags repräsentieren demnach nur rund 60 Prozent der wahlberechtigten Bürger/-innen.

Angehörige der unteren Einkommens- und Bildungsschichten verweigern zunehmend ihre Teilnahme an Wahlen. "Zwar finden sich in der wachsenden Gruppe von Nichtwählern Menschen aller sozialen Schichten. Aber daraus zu schließen, dass sich die Wahlverweigerer gleichmäßig über die Gesellschaft verteilen, führt in die Irre. Denn die Wahrscheinlichkeit, nicht wählen zu gehen, unterscheidet sich systematisch nach Schichtzugehörigkeit, Einkommen und Bildung." Auch in den Mitgliederlisten der Volksparteien sind Angehörige der unteren Einkommens- und Bildungsschichten kaum noch zu finden. Die Sozialdemokratie, die traditionell die Arbeiterschichten politisch integriert, hat innerhalb von 15 Jahren über 400.000 Mitglieder, also einen guten Teil ihrer Basis verloren. Mittlerweile sind etwa 42 Prozent ihrer Mitglieder Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst und nur noch 16 Prozent Arbeiter. Die soziale Schichtung der Bevölkerung in Deutschland spiegelt sich damit nicht einmal mehr ansatzweise in der Zusammensetzung der Mitglieder der SPD wider. Gleiches gilt für die CDU/CSU. Eine bedenkliche Entwicklung, die zur Legitimationskrise der Volksparteien und der repräsentativen Demokratie beiträgt.

Mit den Veränderungen in der Zusammensetzung der Mitgliederschaft der großen Volksparteien, so die ernüchternde Diagnose des Soziologen Michael Hartmann, vollzieht sich ein tief greifender Wandel in der Rekrutierung der politischen Eliten beziehungsweise der politischen Klasse in Deutschland. Zentrale Positionen werden kaum noch mit Personen besetzt, die nicht aus bürgerlichen Verhältnissen stammen. Kandidaten für Parteiämter, die über weniger ökonomisches, kulturelles oder soziales Kapital verfügen, fehlt aus den genannten Gründen zunehmend die Unterstützung der Parteibasis, die in der Vergangenheit Personen aus ihrem eigenen Milieu, der Arbeiterschaft und dem Kleinbürgertum, durch Wahl an die Spitze der Parteibürokratien beförderte. So notierte Heiko Biehl bereits im Jahr 2006: "Heutzutage sind insbesondere diejenigen in den Parteien präsent, die ohnehin beruflich und wirtschaftlich privilegiert sind, die im Schnitt ein höheres soziales Ansehen genießen, kulturell bessere Chancen haben und in den außerparteilichen Politikformen ohnehin dominieren. Dadurch gelingt es den Parteien aber kaum noch, einen zahlenmäßig starken, sozial, kulturell und ökonomisch aber unterprivilegierten Teil der Bevölkerung im politischen Raum zu vertreten. Diese Entwicklung stellt die Fähigkeit der Parteien, insbesondere der Großparteien, als politisches Korrektiv für ökonomische und soziale Ungleichheiten zu fungieren, nachhaltig in Frage. Die Parteien laufen dadurch Gefahr, bestehende Differenzen zu verstärken und die politische Integration bildungsferner Schichten eher zu behindern als zu ermöglichen."

Konforme Gefolgschaften durch Kooptation

Verschärft wird dieser Trend durch die Kooptationspraxis der professionalisierten, heutzutage akademisch gebildeten und medial geschulten Parteieliten. Kooptation bedeutet: Politische Ämter werden vorwiegend mit wohlgefälligem Personal besetzt, das von den Parteieliten top down berufen wird (vergleichbar mit der Rekrutierung der ökonomischen Eliten in den Unternehmen), und nicht etwa durch Wahlen seitens der Mitglieder, also von der Basis. Dieses Verfahren gibt den inner circles die Chance, ihre Herrschaftsposition mit einer gleichgesinnten Gefolgschaft abzusichern und zu erweitern. Sie rekrutieren sich und ihre Beraterstäbe, vorbei an den demokratischen Aufstiegspfaden, die heutzutage als Ochsentour verunglimpft werden, aus den ihnen vertrauten Milieus. Das Phänomen ist jedoch nicht neu.

Schon vor mehr als hundert Jahren hat der Parteiensoziologe Robert Michels die Wirkung von Kooptation als Strategie des Aufbaus einer Oligarchie am Beispiel der Sozialdemokratie analysiert und als Defizit von innerparteilicher und gesellschaftlicher Demokratie identifiziert. Die Parteieliten immunisierten sich über Kooptation und vermieden es möglichst, sich zur Wahl zu stellen. Was Max Weber als über Ausbildung, Fachkompetenz und Expertentum vermittelte Form rationaler bürokratischer Herrschaft moderner Berufspolitiker charakterisierte, kritisierte sein Freund Robert Michels als raffinierte Strategie, den Zugang zur Macht in Parteien und im Staat für die eigene Hausmacht zu reservieren. Die Bearbeitung überkomplex inszenierter politischer Probleme entmündige einfache Parteimitglieder und fachlich ungeschulte Bürger/-innen. Zur "anschlussfähigen Kommunikation" (Niklas Luhmann), so lässt sich diese Beobachtung aktualisieren, sind dann nur ebenfalls hochgradig organisierte Repräsentanten von Verbänden und Medien in der Lage – ein weitgehend geschlossenes, sozial homogenes Netzwerk.

Aber auf lange Sicht, so lautete Robert Michels Prognose zu Beginn des 20. Jahrhunderts, werden sich die Bürger für ihre Entmündigung zu hilflosen Laien rächen. Sie entzögen der Politik das Vertrauen und die Zustimmung durch Wahlen. Michels, zeitweise aktives Mitglied in sozialdemokratischen Ortsvereinen, unterstrich diese Prognose zunächst durch seine Sympathie für den damaligen Syndikalismus und später für den italienischen Faschismus. Sein "ehernes Gesetz", aus heutiger Sicht betrachtet, gilt aber nach wie vor. Funktionäre und Experten mit ihren Stäben sind in den Parteien und Parlamenten moderner Demokratie unverzichtbar geworden und Garant von Erfahrung, Sachverstand und größtenteils auch von Verantwortungsbewusstsein. Der Tendenz, die von ihnen ausgeht, ihren politischen Einfluss durch entsprechende Rekrutierung konformer Gefolgschaften der Kontrolle zu entziehen, kann heutzutage nur durch die konsequente Anwendung demokratischer Verfahren, Abstimmungen und Befristungen von Amtsperioden begegnet werden sowie durch eine lebendige politische Kultur in den Parteien und in der Gesellschaft.

Aber welche Initiativen tragen zur Belebung der politischen Kultur, zur Überwindung der diagnostizierten "Partizipations-Repräsentations-Lücke", zur Vertrauensbildung zwischen Politikern und Bürgern bei? Wie gelingt es, die aus dem demokratischen Betrieb verdrängten sozialen Schichten stärker in das parlamentarische System zu integrieren, ohne dessen Architektur zu unterminieren? Wie kann dem anhaltenden Trend entgegengewirkt werden, dass ganze Bevölkerungsgruppen im Parlament so gut wie nicht mehr vertreten sind und keinen Zugang zur politischen Elite finden?

Therapien zur Belebung der Demokratie

Therapien zur Belebung der Demokratie müssen kompatibel sein mit den spezifischen historischen Erfahrungen und kulturellen Tiefenstrukturen der Gesellschaft, in der sie wirksam werden sollen. Daher ist in Deutschland äußerste Skepsis angebracht gegenüber bestimmten therapeutischen Maßnahmen zur Mobilisierung der Bevölkerung, beispielsweise der Einführung einer allgemeinen Wahlpflicht oder der Abschaffung der Fünfprozenthürde. Beides, Wahlfreiheit und Fünfprozenthürde, haben sich in der Vergangenheit bewährt und sind Ausdruck einer spezifischen politischen Kultur geworden. Nach der Erfahrung von zwei Diktaturen auf deutschem Boden betrachten die Deutschen "ihre" Wahlfreiheit als ein hohes Gut. Schränkte man diese Freiheit ein, so erschiene dies den Bürger/-innen wahrscheinlich wie ein Eingriff in ihre persönliche Autonomie, vielleicht sogar in ihre Würde. Am Ende könnte die Ablehnung des parlamentarischen Systems die nicht intendierte Folge sein. Die Abschaffung der seit über 60 Jahren geltenden Fünfprozenthürde bei Bundestagswahlen würde die Zahl der Wähler/-innen, die nicht im Parlament vertreten sind, zwar sinken lassen. Aber eine ausufernde Parteienlandschaft in Bund und Ländern hätte unabsehbare Folgen für die gesetzgeberische Zusammenarbeit im föderalen Gefüge von Bundestag und Bundesrat. Neue Parteien brauchen zudem Zeit, um sich zu demokratisieren, sich aus den Fängen ihrer charismatischen Gründer und Glaubenssätze zu befreien. Auch Wähler/-innen benötigen Zeit, um diese Entwicklungen nachzuvollziehen. Die Sperrklausel zwingt Parteien dazu, als "lernende Organisationen" Erfahrungen zu verarbeiten und ihre Programmatik mit Pragmatik zu verknüpfen.

Ein weiterer, derzeit sehr populärer Vorschlag, plebiszitäre Verfahren auf die Bundesebene auszuweiten, gibt ebenfalls wenig Anlass zur Hoffnung, die wachsende Kluft zwischen Politik, Parteien und Bürgern zu schließen. Im Gegenteil: Mobilisierungsfähigen, ökonomisch und sozial mächtigen Minderheiten gelingt es immer häufiger, organisationsschwächere Bürger/-innen an den Rand zu drängen. Plebiszite stellen vor diesem sozialstrukturellen Hintergrund keine echte Alternative zur Rolle der Parteien in der repräsentativen Demokratie dar. Die lauthals geübte Kritik an Parteien verkennt deren Wesen: Parteien sind von den Bürgern geschaffene Instrumente zur Durchsetzung ihres Willens, die Macht im Staat zu übernehmen und zu kontrollieren. In seiner berühmten Schrift über den 18. Brumaire des Louis Napoleon verdeutlicht Karl Marx am historischen Beispiel, dass zur Selbstorganisation unfähige Bevölkerungsgruppen Diktatoren in die Hände spielen, die sich im Namen und mit dem Mittel des Plebiszits die Macht sichern. In Zeiten wachsender sozialer und ökonomischer Spaltung ist dagegen die repräsentative Demokratie mit der großen Bedeutung funktionsfähiger, wähl- und abwählbarer Parteien nach wie vor das geeignete Rezept. Vor diesem Hintergrund wollen wir überlegen, ob und in welcher konkreten Form ein weiterer Therapievorschlag, das Losverfahren zur Besetzung von politischen Ämtern, eine belebende Rolle in der politischen Kultur der parlamentarischen Demokratie spielen könnte.

Geloste Bürgergremien

Aristoteles charakterisiert das Losen als die genuin demokratische Weise der Auslese von politischem Personal: "So gilt es, wie ich sage, für demokratisch, dass die Besetzung der Ämter durch das Los geschieht, und für oligarchisch, dass sie durch Wahl erfolgt, und wieder demokratisch, dass für den Eintritt in die Ämter kein Zensus, und für oligarchisch, dass ein Zensus erfordert wird." In jüngster Zeit haben der Historiker Bernard Manin und der Politikwissenschaftler Hubertus Buchstein an die lange und fruchtbare Tradition der Auslese des politischen Personals durch Losen von der Antike über die republikanischen Stadtstaaten bis hin zu den Schweizer Landsgemeinden erinnert. In modernen Demokratien ist das Losverfahren jedoch fast vergessen. Als einer der Protagonisten des Losens, auch unter heutigen Bedingungen, kritisiert der Publizist Florian Felix Weyh, "dass die über Parteien selektierten Abgeordneten keinen soziologischen Querschnitt der Gesellschaft bilden". Er führt ins Feld, nur das Losverfahren garantiere uneingeschränkt die Norm der Gleichheit aller Teilnehmer. Alle Bürger, ob arm oder reich, weiblich oder männlich, jung oder alt, gesund oder krank, Unternehmer, Beamter oder Arbeiter hätten in der Demokratie die gleiche Chance, durch das Los gezogen zu werden. Kein Teilnehmer könne über eigenes ökonomisches, soziales oder kulturelles Kapital seine Chancen erhöhen, sich Vorteile gegenüber anderen verschaffen und den Ausgang der Lotterie beeinflussen.

Das Losverfahren verspricht also einen Ausweg aus dem alten Dilemma der ungleichen personalen Repräsentation der Wählerschaft in modernen Demokratien. Denn auch derzeit populäre Quotenregelungen – heute Frauenquoten, morgen vielleicht Beamten-, Arbeiter- und Rentnerquoten – sind umstritten. Ständestaatliche Lösungen, wie sie im britischen Oberhaus oder bis vor einigen Jahren im ehemaligen bayerischen Senat verwirklicht waren, sollten gesellschaftliche Gruppen, mächtige adelige Minderheiten, Glaubensgemeinschaften und Interessenverbände in die Parlamente integrieren. Lösungen dieser Art verschieben das Problem der personalen Repräsentation jedoch nur auf andere organisatorische Ebenen. Mehr oder weniger mächtige Verbände und deren Führungspersonal und nicht die Wähler bestimmen dann die Zusammensetzung der Parlamente. Um das Problem der Bestimmung von Gruppen und deren Quotierung zu umgehen, fordern Anhänger des Losverfahrens die Auslosung aller Sitze im Parlament.

Eine weniger konsequente Anwendung des Losverfahrens erkennt Hubertus Buchstein in der Institutionalisierung von ausgelosten Bürgergremien – Houses of Lots –, die dem Parlament bestimmte Entscheidungen abnehmen und die Abgeordneten in sensiblen Fragen wie Wahlrechtsreformen oder der Höhe der Diäten vor Machtmissbrauch und damit Vertrauensverlust schützen sollen. Buchstein verweist auf Experimente mit ausgelosten Bürgergremien wie den Citizen Assemblies (CA) in Kanada und in den Niederlanden, die sich vor allem mit umstrittenen Wahlrechtsfragen befasst haben. "Ein CA ist ein Gremium, das sich aus 100 bis 200 ausgelosten Bürgern zusammensetzt, einen zeitlich begrenzten und eindeutig definierten Arbeitsauftrag erhält und dazu einen Entscheidungsvorschlag erarbeitet." Auf den ersten Blick scheint eine Aufteilung von politischen Gestaltungsfeldern auf verschiedene Gremien unproblematisch: Auch in der föderalen Ordnung der Bundesrepublik sind die Politikfelder Kultur-, Sozial- oder Verteidigungspolitik auf verschiedene Parlamente der Bundes-, Landes- oder Gemeindeebene verteilt. Roland Lhotta, ein Kritiker des Losverfahrens, gibt jedoch zu bedenken, dass nicht zu definieren sei, bei welchen Entscheidungsmaterien ausgeloste Bürgergremien eingesetzt werden sollten und vor allem wer dem Parlament Neutralitätsdefizite in bestimmten Fragen unterstellen und dessen Entscheidungsbefugnisse beschränken darf. Nach Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes kommen nur die Abgeordneten selbst in Frage, denn sie "sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen." Die Abgeordneten wären demnach an Vorschläge, Aufträge und Weisungen extern geloster Bürgergremien, zum Beispiel zu einem neuen Wahlrecht, nicht gebunden.

Szenario für Deutschland

Die rechtlichen Grenzen, Losverfahren wie auch ständisch-proportionale Filter in das politische System der Bundesrepublik einzufügen, sind von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes eng gezogen worden. Dass Parlamente vom Volk zu wählen sind, bildet in unserem Verständnis von moderner Demokratie eine nicht hintergehbare Voraussetzung und ein zentrales Kriterium zur Beurteilung der Legitimität politischer Machtausübung. Dementsprechend wird die Bedeutung von Wahlen an zentralen Stellen unserer Verfassung festgelegt. Die Bundesrepublik Deutschland wird in Artikel 20 Absatz 1 als ein demokratischer und sozialer Bundesstaat qualifiziert, in welchem nach Absatz 2 alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, ausgeübt durch Wahlen, Abstimmungen und "besondere Organe" der Exekutive, Legislative und Judikative. Im gleichen Artikel Absatz 4 wird den Deutschen sogar ein Widerstandsrecht gegen jeden eingeräumt, "der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen", falls "andere Abhilfe nicht möglich ist." Der Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes regelt, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als Vertreter des ganzen Volkes "in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl" gewählt werden.

Welche realistischen Möglichkeiten bestehen dennoch, das Losverfahren als Mechanismus in die Architektur der modernen Demokratie einzuführen, um verfassungskonform eine höhere personale Repräsentation und Sichtbarkeit marginalisierter Interessen auf der Ebene des Bundestags zu implementieren? Im Folgenden skizzieren wir ein Szenario, das sowohl die innovativen Ideen Buchsteins wie die Kritik an Losverfahren ernst nimmt. Das Losverfahren darf das Wählen als den zentralen Mechanismus zur Koordination politischen Handelns nicht unterlaufen. Eine kluge Mischung aus beiden Verfahren, Wählen und Losen, trägt aber dazu bei, das Bewusstsein politischer Gleichheit, auch durch die personale Repräsentation im Parlament nicht vertretener Schichten und Gruppen, zu stärken und garantiert gleichzeitig die kompetente Führung der Geschäfte des Staates.

Der Bundestag kann und soll aus guten Gründen nicht durch eine ausgeloste Bürgerversammlung ersetzt werden. Der Fünfprozenthürde für die Wahl von Parteien auf Bundesebene kann aber ein Verfahren zur Seite zu gestellt werden, das allen wahlberechtigten Bürger/-innen die Chance eröffnet, einen von insgesamt fünf Prozent der Sitze im Bundestag (momentan etwa 30 Sitze) durch Los einzunehmen. Alle Wahlberechtigten erhalten mit dem Wahlschein eine Losnummer, die sie an das Wahlamt zurückgeben, wenn sie von ihrem Recht, gelost zu werden, bei der Bundestagswahl keinen Gebrauch machen wollen. Am Wahlabend werden nicht nur die Ergebnisse der Wahl, sondern auch die Losnummern der ausgelosten Abgeordneten bekannt gegeben. Alle Losabgeordneten müssen sich einer verfassungsrechtlichen Überprüfung unterziehen und haben das Recht, unter bestimmten Bedingungen vom Los zurückzutreten. Als historisches Vorbild für dieses, prima vista nicht mit Artikel 38 und 20 des Grundgesetzes kompatible Vorgehen dienen uns die "Berliner Abgeordneten". Sie wurden während des Vier-Mächte-Status von Berlin von 1949 bis 1990 vom Berliner Abgeordnetenhaus in den Bundestag entsandt, da damals in Berlin keine Bundestagswahlen stattfanden. Die Berliner Abgeordneten besaßen somit keine Legitimität durch Volkswahl. Sie waren, das ist für unseren Vorschlag bedeutsam, mit Ausnahme bei Abstimmungen zur Geschäftsordnung nicht stimmberechtigt. Also nahmen sie auch nicht an der Wahl oder Abwahl der Regierung oder an Abstimmungen über Gesetze teil. Dennoch besaßen sie nach der Geschäftsordnung des Bundestages ein uneingeschränktes Rederecht und konnten dort wichtige Funktionen übernehmen. Beispielsweise spielte Hans-Jochen Vogel als Fraktionsvorsitzender der SPD eine zentrale Rolle im parlamentarischen Betrieb.

Vergleichbar mit den Berliner Abgeordneten werden die durch Los ermittelten Losabgeordneten kein Stimmrecht bei Gesetzgebung und Regierungsbildung erhalten. Sie werden jedoch alle Mittel und Instrumente des Parlaments nutzen können, um an der Gesetzgebung mitzuwirken; vorzugweise wenn es um jene Gesetze und Normen geht, die die Parteien, das Parlament und die Parlamentarier/-innen selbst betreffen. Vor allem in diesen Fragen bilden die Losabgeordneten ein öffentlichkeitswirksames Korrektiv. Sie sind aber nicht wie in Buchsteins Vorschlag eines House of Lots auf bestimmte Themen- und Entscheidungsbereiche beschränkt. Das Losverfahren garantiert auf lange Sicht eine breite personale Repräsentation über alle denkbaren wahlberechtigten Bevölkerungsgruppen hinweg. Bedenken, viele Losabgeordnete könnten möglicherweise der Arbeit im Bundestag intellektuell nicht gewachsen und unfähig sein, sich gegen die geballte parlamentarische Akademiker- und Juristenmacht Gehör zu verschaffen, greifen nicht. Denn die Losabgeordneten werden, wie jeder gewählte Abgeordnete, nicht nur über deren Bezüge, sondern auch über einen professionellen Beraterstab verfügen, der ihnen hilft, sich in die parlamentarische Arbeit einzuarbeiten und ihre Interessen und Einstellungen zur Geltung zu bringen.

Kann der skizzierte, moderate Einsatz des Losverfahrens im Zuge der Bundestagswahl der "Wahlmüdigkeit" immer größerer Teile der Bevölkerung entgegenwirken und so ein zentrales Problem der repräsentativen Demokratie lösen? Als isolierte Einzelmaßnahme sicher nicht. Aber das Losverfahren als zusätzliches Recht auf Partizipation kann langfristig dazu beitragen, dass die Parteien wieder zu einer breiten sozialen Verankerung finden und die Kultur der politischen Debatten attraktiver wird für die Teile der Wählerschaft, die sich gegenwärtig kulturell ausgeschlossen und nicht mehr repräsentiert fühlen. Die Wähler bleiben in unserem Gedankenspiel der Souverän. Sie entscheiden über Fragen der politischen Macht; denn nur die repräsentative Demokratie verbindet die Idee der Volkssouveränität mit den funktionalen Erfordernissen, die heutigen komplexen Staatswesen angemessen sind. Die Stärke des Losens hingegen ist seine symbolische Kraft. Am Wahlabend signalisiert das Losritual jedem wahlberechtigten Bürger, dass er in einer lebendigen Demokratie die Seiten wechseln kann. Um für diesen Fall der Fälle gewappnet zu sein, wird das Interesse der Bevölkerung an politischer Bildung womöglich erheblich zunehmen. Das von uns vorgeschlagene Verfahren hat daher das Potenzial, ein Instrument der politischen Bildung im Geiste der Demokratie zu werden. Das Losritual im Anschluss an die Bundestagswahl würde wie ein Magnet die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich ziehen. Was dort geschieht, beträfe jeden Einzelnen nicht mehr nur mittelbar, sondern sogar unmittelbar. Das Institut des Losens zur Besetzung einer bescheidenen, aber sichtbaren Zahl von Parlamentssitzen könnte außerdem dazu beitragen, die vielfach überzogene und ungerechtfertigte Kritik an Politikern, Parlamenten und Parteien zu mäßigen, weil es für die Leistungen der nicht selten pauschal verachteten politischen Klasse sensibilisiert. Seit je her und überall sind Menschen von Lotterien fasziniert in der Hoffnung, ihrem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen. Der Zufall könnte jeden Einzelnen treffen, der sein Los in die Waagschale geworfen hat. Die Losabgeordneten mit ihren lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Ansichten gerieten in den Fokus der medialen Beobachtung. Sie könnten ihre Chance nutzen, auf Themen und Interessen aufmerksam zu machen, die im professionalisierten Politikbetrieb unsichtbar und vielleicht sogar unvorstellbar sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Wolfgang Merkel, Krise? Krise!, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.5.2013.

  2. Die verbreitete kritische Kommentierung eines der zentralen Vorhaben auf der politischen Agenda, der Zusammenschluss der europäischen Staaten zu einer Gemeinschaft als "Elitenprojekt", veranschaulicht dieses Problem.

  3. Vgl. Christiane Bender, Die Kultur der Gerechtigkeit, in: Heimo Hofmeister/Ivan Mikirtumov (Hrsg.): Krise der lokalen Kulturen und die philosophische Suche nach Identität, Frankfurt/M. 2014, S. 29–44.

  4. Die geläufigen Schlagworte hierzu sind Politikverdrossenheit (1992 von der Gesellschaft für deutsche Sprache als Wort des Jahres gewählt) und Wutbürgertum.

  5. Armin Schäfer, Wahlbeteiligung und Nichtwähler, in: APuZ, (2013) 48–49, S. 39–46, hier: S. 46. Bestätigt wird diese Aussage durch die Ergebnisse der Untersuchung der Bertelsmann Stiftung: Armin Schäfer/Robert Vehrkamp/Jérémie Felix Gagné, Prekäre Wahlen. Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013, Gütersloh 2013.

  6. Vgl. Markus Klein, Wie sind die Parteien gesellschaftlich verwurzelt?, in: Tim Spier et al. (Hrsg.), Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011, S. 39–59, hier: S. 51.

  7. Vgl. Elmar Wiesendahl, Volksparteien. Aufstieg, Krise, Zukunft, Opladen 2011.

  8. Vgl. Michael Hartmann, Soziale Ungleichheit – Kein Thema für die Eliten?, Frankfurt/M. 2013, hier: S. 64–71; ders., Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Frankfurt/M. 2002. Hartmann unterscheidet sozialstrukturell zwischen Großbürgertum, Bürgertum, Mittelschichten und Arbeiterschaft. Zum Bürgertum gehören historisch Unternehmer größerer Betriebe, (Groß-)Grundbesitzer, gutsituierte akademische Freiberufler, leitende Angestellte sowie höhere Beamte und Offiziere.

  9. Heiko Biehl, Zur Dominanz von Akademikern in den Parteien. Eine Entgegnung auf Markus Klein, in: Politische Vierteljahresschrift, 47 (2006) 3, S. 467–470, hier: S. 470.

  10. 1910 ist in Turin eines der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts erschienen: "Zur Soziologie des Parteienwesens in der modernen Demokratie" von Robert Michels. Michels zeigt, dass gerade die unterdrückten Klassen und Schichten für ihre Emanzipation starke Organisationen benötigen, dass sich aber in Parteiorganisationen Oligarchien herauskristallisieren, die die übrigen Mitglieder von der Teilhabe an der Macht ausschließen. Dieses "eherne Gesetz" hat Michels auf die Formel gebracht: "Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie. Im Wesen der Organisation liegt ein tief aristokratischer Zug." Zitiert nach: Christiane Bender/Elmar Wiesendahl, "Ehernes Gesetz der Oligarchie": Ist Demokratie möglich? in: APuZ, (2011) 44–45, S. 19–24, hier S. 20.

  11. Vgl. Thorsten Faas, Thinking about Wahlpflicht: Anmerkungen zu einer überfälligen Diskussion, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 22 (2012) 3, S. 407–418.

  12. Die Geschichte von Bündnis 90/Die Grünen belegt diese Beobachtung.

  13. Vgl. Karl Marx, Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, New York 1852.

  14. Aristoteles, Politik, übers. von Eugen Rolfes, IV, 9, 1294b 7–9, Hamburg 19814, S. 142.

  15. Vgl. Hubertus Buchstein, Demokratie und Lotterie. Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU, Frankfurt/M. 2009; Bernard Manin, Kritik der repräsentativen Demokratie, Berlin 2007.

  16. Zwar ist auch noch für Jean-Jacques Rousseau Losen das schlechthin angemessene Mittel einer egalitären Herrschaftspraxis, aber der Weg der bürgerlichen Emanzipation, um das Bewusstsein der Freiheit zu erlangen und zu bewahren, kann für ihn nur über die Bildung eines gemeinsamen Willens durch Versammlung, vernünftige Argumentation und wechselseitige Anerkennungsprozesse erfolgen.

  17. Florian Felix Weyh, Losen statt Wählen, in: Kursbuch, (2013) 174, S. 54–70, hier: S. 59.

  18. Hubertus Buchstein, Wählen, Losen und politische Gerechtigkeit – Plädoyer für einen 'demokratisch-deliberativen pouvoir neutre', in: Zeitschrift für Politikwissenschaften, 22 (2012) 3, S. 384–403, hier: S. 400.

  19. Vgl. Roland Lhotta, Gehen Sie nicht über Los! Eine Erwiderung auf Hubertus Buchstein, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 44 (2013) 2, S. 404–418, hier S. 415.

  20. Weitere bekannte Berliner Abgeordnete waren Hans-Christian Ströbele (Die Grünen), Hans-Günter Hoppe (FDP) und Eberhard Diepgen (CDU).

  21. Vgl. Laszlo Trankovits, Verteidigung der Demokratie, in: APuZ, (2012) 38–39, S. 3–9.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Christiane Bender, Hans Graßl für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und der Autoren/-innen teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Dr. rer. pol. habil., Dr.phil., Dipl. Soz.; Professorin für Allgemeine Soziologie an der Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg. E-Mail Link: bender@hsu-hh.de

PD Dr. phil.; geb. 1962; Soziologe; Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Siegen, Adolf-Reichwein-Str. 2, 57068 Siegen E-Mail Link: grassl@soziologie.uni-siegen.de