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Exil, Diaspora, Transmigration

Jenny Kuhlmann

/ 15 Minuten zu lesen

Auf der Suche nach analytischen Konzepten, um die Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten zu untersuchen und zu beschreiben, haben die Begriffe Exil, Diaspora und Transmigration über die Grenzen verschiedener Wissenschaftsdisziplinen hinweg (unter anderem Politikwissenschaft und Soziologie, Ethnologie und Anthropologie, Kulturwissenschaften und Geografie) viel Aufmerksamkeit erfahren. Während Exil und Diaspora historische Begriffe sind und insbesondere letzterer seit den 1960er Jahren zunehmend in akademischen Debatten Verwendung findet, wurde die Idee von transnationaler Migration beziehungsweise Transmigration in den 1990er Jahren populär.

In der gegenwartsbezogenen Migrationsforschung sind Diaspora und Transmigration neben Exil häufig genutzte Termini, deren Bedeutungen sich zu unterschiedlichem Grad überschneiden und mitunter schwer voneinander zu trennen sind. Auch wenn diese Begriffe bisweilen synonym verwendet werden, so unterscheiden sich die (idealtypischen) Konzepte zu Exilierten, Diasporen und Transmigranten doch insbesondere hinsichtlich ihrer Vorstellungen von Heimat und Fremde, ihren Beziehungen zum Aufenthalts- und Heimatland sowie in Bezug auf ihre Identität und Loyalität und dem Gefühl von Marginalisierung und Hybridität (Zugehörigkeit zu mehreren kulturellen Räumen) voneinander.

Der Begriff Exil ist eng mit der klassischen Verwendung des Konzepts Diaspora verknüpft, dessen prototypisches Beispiel die jüdische Diaspora ist. Beide Begriffe beschreiben dabei Gruppen, die die historische Erfahrung von Verfolgung oder erzwungener Migration aus ihrem Heimatland teilen. Diese Erfahrungen sind geprägt durch die (mitunter weltweite) Zerstreuung ihrer Mitglieder, von einem Leben in der Fremde, dem Gefühl des Verlusts und der Marginalisierung sowie der Sehnsucht nach der Heimat und dem Wunsch nach Rückkehr. Exil und Diaspora beschreiben somit eine geografische Vertreibung beziehungsweise Entwurzelung von Menschen, Identitäten und Kulturen, die häufig auf die eine oder andere Art zu Widerstand und Hybridität führen.

In den 1990er Jahren führten Debatten über die klassische Definition und Bedeutung von Diaspora zu einer Begriffserweiterung dieses Konzepts. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen begannen, den exilbezogenen Eigenschaften von Diaspora (wie der unfreiwilligen Migration, Verfolgung, Leiden und dem Rückkehrwunsch) weniger Bedeutung zu schenken und stattdessen transnationale Aktivitäten und Praktiken hervorzuheben, die die Diasporagemeinschaften in verschiedenen Aufnahmeländer und das Herkunftsland miteinander verbinden.

Vor diesem Hintergrund bietet der Beitrag im Folgenden einen Überblick und eine Auseinandersetzung mit drei zentralen, sich überschneidenden Konzepten der Migrationsforschung. Dabei werden die Begriffe Exil, Diaspora und Transmigration aus semantischer und historischer Perspektive betrachtet und ihre Schnittmengen und Unterscheidungsmerkmale herausgestellt.

Exil und Diaspora

Wie Migration sind auch Exil und Diaspora Begriffe, die allgemein geläufig sind und auch außerhalb wissenschaftlicher Diskurse genutzt werden, deren Definition jedoch nicht einfach ist. Sowohl für Diaspora als auch für Exil gibt es eine Vielzahl von Auslegungen. Exil (lateinisch exilium, zu ex(s)ul = in der Fremde weilend, verbannt) bezeichnet im Allgemeinen die Vertreibung oder Verbannung von einem bestimmten Ort durch einen institutionellen Akt der Gewalt, während Diaspora (vom griechischen Verb diaspeirein = aus- beziehungsweise verstreuen) als Zerstreuung einer Gemeinschaft aus ihrer ursprünglichen Heimat über mehrere fremde Regionen verstanden werden kann. Exil und Diaspora beschreiben jedoch nicht nur Formen geografischer Entwurzelung, sondern auch emotionale beziehungsweise mentale Zustände, die eng verbunden sind mit Fragen von Identität und Zugehörigkeit. In der allgemeinen Migrationsliteratur beziehen sich beide Konzepte auf Menschen, die die schmerzhafte Erfahrung teilen, aus ihrer Heimat vertrieben worden zu sein und nun in einem anderen Land getrennt von dem Volk und der Kultur zu leben, die ihre Identität ausmachen und zu denen sie sich zugehörig fühlen. Beide Konzepte beschreiben somit Menschen, die außerhalb ihres Herkunftslandes leben (müssen), eine ausgeprägte Heimatlandorientierung aufweisen und in der Fremde (wenn auch zu unterschiedlichem Grad) ein Leben in sozialer und kultureller Abgrenzung von ihrer Aufnahmegesellschaft führen.

Die Bedeutungen beider Ausdrücke sind semantisch und historisch eng miteinander verknüpft, und ihre Definitionen überschneiden sich insbesondere in Bezug auf die für beide Begriffe zentralen Elemente der Vertreibung und der Beziehung zum Heimatland. Eine klare Abgrenzung der beiden Konzepte voneinander ist daher nicht möglich und auch nicht sinnvoll.

Der Begriff Exil ist Bestandteil vieler Definitionen von Diaspora. So beschreibt beispielsweise der Sozialwissenschaftler Robin Cohen Diaspora als ein kollektives Trauma, eine Verbannung, in der die Sehnsucht nach der Heimat einem Leben im Exil entgegensteht, das dazu beiträgt, starke kollektive Identitäten als Leidensgemeinschaft aufrechtzuerhalten. Dass viele Definitionen Exil und Diaspora miteinander in Verbindung setzen, überrascht nicht, wenn wir einen Blick auf die Begriffsgeschichte beider Termini werfen, die eng mit der Geschichte des Judentums in Zusammenhang steht. Entwurzelung und Zerstreuung eines Volkes als Resultat eines traumatischen historischen Ereignisses und der Begriff Exil sind zentral, um die Erfahrungen der jüdischen Diaspora darzustellen.

Dabei unterlag der Begriff diaspora beziehungsweise diaspeirein in seiner semantischen Geschichte mehreren Bedeutungsänderungen. Ursprünglich nur den Prozess materieller Zerstreuung bezeichnend, erfuhr er einen semantischen Transfer mit der Übersetzung der jüdischen Schriften im Alexandria des dritten vorchristlichen Jahrhunderts, wo Diaspora – nun auf eine soziale Gruppe bezogen – die Lebenssituation des jüdischen Volkes außerhalb des Gelobten Landes beschrieb. Die Septuaginta (die Übersetzung der hebräischen Bibel, das spätere Alte Testament, ins damals geläufige Griechisch) gibt die hebräischen Begriffe galût und gôla (Deportation, Exil, Verbannung, Gefangenschaft) jedoch nicht mit dem griechischen, weniger negativ gefassten Wort diaspora wieder. Vielmehr unterschieden die jüdisch-griechischen Übersetzer zwischen galût, gôla und diaspora, um den historischen Erfahrungen der babylonischen Gefangenschaft im 6. Jahrhundert v. Chr. und späteren Abwanderungen und Lebenssituationen außerhalb Palästinas, die nicht notwendigerweise auf Zwang oder Unterdrückung basierten, sondern mitunter selbst gewählt waren, gerecht zu werden. In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich Diaspora jedoch zu einem Begriff, der die Situation der jüdischen Bevölkerung außerhalb Israels im Allgemeinen bezeichnete – unabhängig davon, ob diese auf Vertreibung und Entwurzelung oder mehr oder weniger freiwilliger Migration aus wirtschaftlichen Interessen basierte. Der Migrationsforscher Khachig Tölölyan sieht in diesen frühen Beispielen des ambivalenten Gebrauchs des Begriffs Diaspora bereits den Ursprung seiner späteren Uneindeutigkeit. Trotz der engen Verknüpfung der beiden Konzepte gibt es bei genauerer Betrachtung feine, aber wichtige Unterschiede, die verdeutlichen, dass Exil und Diaspora gleichwohl keine Synonyme sind:

Kollektivität versus Individualität:

Ein in der wissenschaftlichen Literatur auszumachender Unterschied findet sich darin, dass Exil tendenziell als individuelle Erfahrung gilt. So beschreibt der Kulturtheoretiker Edward Said Exil als "solitude experience outside the group: the deprivation felt at not being with others in the communal habitation". Diaspora bezieht sich dagegen per definitionem auf eine gemeinschaftliche Lebenssituation einer Gruppe von Menschen.

(Un)Freiwilligkeit:

Diasporen und Exilierten ist gemeinsam, dass ihre Migration primär durch Umstände in ihrer Heimat verursacht wurde, die nicht mit dem Wunsch, sich ein neues Leben anderswo aufzubauen, in Verbindung stehen. Der Aspekt des Zwangs beziehungsweise der Gewalt wird dabei in der wissenschaftlichen Literatur für beide Konzepte insbesondere hinsichtlich der Ursachen und des Prozesses der Abwanderung herausgestellt. In Bezug auf den Zustand (das heißt ein Leben im Exil oder in der Diaspora) findet der Aspekt der Unfreiwilligkeit jedoch stärkere Betonung für das Exil. Ähnlich wie bei Diaspora handelt es sich beim Exil allgemein um eine langfristige Trennung vom Heimatland infolge von Verbannung, Vertreibung, Ausbürgerung, politischer oder religiöser Verfolgung durch eine Obrigkeit oder untragbaren (politischen) Verhältnissen. Das Verlassen der Heimat beruht somit in beiden Fällen auf Zwang. Während das sich in der Folge ergebende Leben in der Diaspora in der wissenschaftlichen Literatur jedoch durchaus auch auf Freiwilligkeit beruhend betrachtet wird, trifft dies für ein Leben im Exil in der Regel nicht zu.

Heimat und Zugehörigkeit:

Ein grundlegender Unterschied zwischen Exil und Diaspora kann in der Vorstellung von Heimat gesehen werden. Während Mitglieder einer Diaspora zwar eine enge (emotionale) Bindung zu ihrem Ursprungsland besitzen, dieses als wahres Zuhause betrachten und ihre eigene (kulturelle) Identität pflegen, sind sie in der Lage, sich mit einem Leben anderswo, das heißt außerhalb ihres Heimatlandes, zu arrangieren, soziale und symbolische Verbindungen zum Aufenthaltsland aufzubauen und dieses zu einem gewissen Grad zur Heimat in der Fremde werden zu lassen. Für Exilierte dagegen bleibt das Leben im Gastland ein provisorischer, vorübergehender Aufenthalt als Fremde "always out of place" und "outside habitual order", das Gastland selbst ein "territory of non-belonging". Der Hauptbezugspunkt ihrer Loyalität bleibt ihr Heimatland. Anders als Diasporen sind sie nicht fähig (oder bereit), neue Wurzeln zu schlagen.

Wunsch nach Rückkehr:

Exil und Diaspora unterscheiden sich auch in ihrem Verständnis von Rückkehr. Anders als für Exilierte stellt das Heimatland für Diasporen nicht zwangsläufig einen Ort der unmittelbaren physischen Rückkehr dar. Es bildet vielmehr einen wichtigen (geistigen) Bezugspunkt der eigenen individuellen und kollektiven Identität und Zugehörigkeit. Zwar streben auch Diasporen prinzipiell nach Rückkehr, sind gedanklich fest in ihrer Heimat verankert und identifizieren sich mit dieser; wenn diese jedoch nicht erreichbar ist, nicht länger existiert oder identifiziert werden kann, sind sie in der Lage, zu akzeptieren, dass eine physische Rückkehr vielleicht niemals möglich sein wird. Diaspora ist ein beständiger, wenn nicht permanenter Zustand, der Generationen überdauern kann. Exil dagegen, obgleich prinzipiell ebenfalls langfristig, wird von Exilierten selbst lediglich als temporärer Zustand begriffen. Für sie ist die Heimat ein physischer Ort, an den es, sobald es die Umstände zulassen (das heißt sobald die für das unfreiwillige Verlassen der Heimat verantwortlichen Ursachen beseitigt sind), zurückzukehren gilt. Exil geht also nicht nur mit der Sehnsucht nach der Heimat einher, sondern auch mit dem allgegenwärtigen Streben nach baldiger, tatsächlicher Rückkehr.

Identität:

Obgleich sich Diasporen, ebenso wie Exilierte, stark mit ihren historischen, religiösen, kulturellen, linguistischen und nationalen Wurzeln identifizieren, haben auch die Erfahrungen des Prozesses und des Ergebnisses ihrer Abwanderung Auswirkungen auf ihre Identitätsformierung. In der Diasporaforschung werden die Identitäten von Diasporen daher häufig als hybride beziehungsweise fragmentierte Identitäten beschrieben, die sich als Resultat verschiedener Einflüsse und der Entwicklung eines Empfindens mehrere Zugehörigkeiten hier (Aufenthaltsland) und dort (Heimatland) ergeben. Hybridität und Heterogenität sind Attribute, die Exilierten dagegen weniger zugeschrieben werden. Edward Said beschreibt Exil als einen grundsätzlich unterbrochenen Daseinszustand, der aus der erzwungenen Trennung der Exilierten von ihren Wurzeln, ihrem Land und ihrer Vergangenheit resultiert. Exilierte begreifen sich als Ausgegrenzte im doppelten Sinne: Sie sind ausgeschlossen vom Leben in ihrer Ursprungsgemeinschaft im Heimatland und sie gehören nicht zur Gesellschaft, in der sie leben (müssen). Ihre Identität orientiert sich klar an ihrer Heimat, ohne das Bedürfnis der kulturellen Anpassung an eine Aufnahmegesellschaft, in der sie nur gezwungenermaßen zu Gast sind und für die sie kein Gefühl der Zugehörigkeit empfinden.

Transnationalität:

Diaspora wird in der Migrationsforschung allgemein als ein Netzwerk verschiedener Gemeinschaften gleichen Ursprungs außerhalb des Heimatlandes verstanden, das die triadischen Beziehungen zwischen der (global) zerstreuten Diaspora, den verschiedenen Aufnahmeländern sowie dem Heimatland umfasst. In dieser Eigenschaft einer spezifischen Form transnationaler Gemeinschaften, die nicht nur bedeutende soziale und symbolische Beziehungen zum Heimat-, sondern auch zum Aufenthaltsland unterhalten, unterscheiden sich Menschen in der Diaspora von Exilierten, deren primärer Bezugspunkt beim Heimatland liegt.

Politische Aktivitäten:

Obwohl sowohl Diaspora als auch Exil im Allgemeinen einen politischen Hintergrund der unfreiwilligen Migration aus dem Herkunftsland implizieren, trägt insbesondere das Konzept Exil eine starke politische Konnotation. Die empirische Exilforschung und die historische und gegenwärtige Exilliteratur kennen zahlreiche Beispiele von Exilierten, deren Leben von politischem Kampf und dem starken Wunsch, wenn nicht sogar dem Gefühl der Pflicht, nach dem Exil zurückzukehren, bestimmt war und ist. Folglich wird Exil auch konzeptionell häufig im Zusammenhang mit heimatlandpolitischem Aktivismus oder dem Diskurs eines zu erreichenden politischen Wandels im Herkunftsland diskutiert. So sieht der Politikwissenschaftler Yossi Shain Exilierte als aus dem Heimatland Vertriebene, die durch politische Aktivitäten, die gegen die Politik des Regimes im Heimatland, gegen das Regime selbst oder gegen das gesamte politische System gerichtet sind, versuchen, Bedingungen für eine baldige Rückkehr zu schaffen. Obwohl auch Diasporagemeinschaften politisch aktiv sind, steht der politische Kontext für das Konzept Diaspora nicht so zentral im Vordergrund wie er dies für Exil tut.

Definitionen beanspruchen in der Regel Allgemeingültigkeit und Unveränderlichkeit. Exil und Diaspora sollten jedoch nicht als statische Zustände verstanden werden: Sie überschneiden sich semantisch und konzeptionell und können ineinander übergehen. So kann Diaspora als mögliche Entwicklung von Exil betrachtet werden, das heißt, Exil kann mit der Zeit zu Diaspora werden, wenn die ersehnte, baldige Rückkehr ins Heimatland verwehrt bleibt. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn sich über einen langen Zeitraum keine politischen Veränderungen im Heimatland ergeben und Exilierte ihre Hoffnung auf Rückkehr ins Heimatland aufgeben. Oder wenn sie sich mit der Vorstellung, irgendwann zurückzukehren, arrangieren, sich graduell auf ein Leben im Aufenthaltsland physisch und gedanklich einlassen, eine Neuverhandlung von Heimat trotz des Wunsches nach Rückkehr zulassen und sich in der Lage sehen, Wurzeln an einem Ort zu schlagen, der zuvor als lediglich vorläufig und vorübergehend erschien. Auch muss sich die Exilidentität der ersten Generation mit ihren entsprechenden sozialen, kulturellen und politischen Interaktionsmustern, Praktiken und Identifikationen nicht zwangsläufig in den folgenden Generationen fortsetzen. In der Tat sehen einige Wissenschaftler Exil nur als adäquate Beschreibung für die Erfahrungen der ersten Generation, während alle nachfolgenden Generationen zutreffender als Diaspora zu verstehen sind.

Diaspora und Transmigration

Anfang der 1990er Jahre löste sich im Zusammenhang mit Debatten um Globalisierungstheorien und Phänomenen des Transnationalismus der zuvor grundsätzlich negativ besetzte Begriff Diaspora semantisch von den historischen Exilerfahrungen des jüdischen Beispiels, das bis dahin die Vorlage vieler Definitionsansätze zur Beschreibung dessen, was eine Diaspora ausmacht, war. Kritik an der essenzialisierenden Benutzung des Terminus (auf die jüdische und nur wenige weitere historische Erfahrungen beschränkt) ging einher mit der gleichzeitigen Tendenz, Diaspora als Sammelbegriff für eine Vielzahl verschiedenster Migrationsphänomene, -praktiken und -formen zu verwenden, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachten sind, einschließlich für Immigranten, Flüchtlinge, "Gastarbeiter" und ethnische Minderheiten. Die Frage nach Freiwilligkeit beziehungsweise Unfreiwilligkeit im Migrationsprozess war dabei wesentlich in der Diskussion um die Abkehr von der Vorstellung einer Diaspora als Exilgemeinschaft. So argumentierten Wissenschaftlerinnen wie Michele Reis, dass Exil, traumatische Erfahrungen und kollektive Identität zwar für klassische Diasporas (wie die jüdische oder auch die durch den atlantischen Sklavenhandel im 16. Jahrhundert entstandene afrikanische Diaspora) zentral wären, die Migration heutiger Diasporagruppen jedoch nicht zwangsläufig eine permanente Trennung vom Heimatland oder eine tief greifende Entwurzelung bedeute. Eine solche Definition werde den Erfahrungen heutiger Diasporagruppen somit nicht gerecht.

Der Begriff Diaspora wurde zunehmend in die semantische Nähe des in den 1990er Jahren populär werdenden Konzepts Transnationalismus beziehungsweise Transmigration gerückt. Der Begriff transmigrant beziehungsweise transnational migrant findet heute breite Verwendung in der Migrationsforschung, um eine Form von Migranten zu beschreiben, die mannigfaltige Beziehungen aufbauen und unterhalten, die die Gesellschaften ihrer Herkunftsländer mit denen ihrer Aufenthaltsländer verbinden. Anders als Immigranten lassen sie ihre Heimat nicht hinter sich und assimilieren sich in ihrer Aufnahmegesellschaft. Sie agieren über wirtschaftliche, soziale, kulturelle, ethnische, politische und nationale Grenzen hinweg in einem transnationalen Raum, der sowohl das Herkunfts- als auch das Aufenthaltsland einbezieht. Ihr Zugehörigkeitsgefühl beschränkt sich nicht auf ihren Herkunftsort. Während Diasporen bereits eine spezifische, heimatlandbezogene Identität besitzen, die sie von der Aufnahmegesellschaft unterscheidet und die sie in Abgrenzung zur Aufnahmegesellschaft zu erhalten beziehungsweise zu erneuern versuchen, umschließt die Identität von Transmigranten vielmehr die Zugehörigkeit zu beiden Orten, hier und dort. Für Transmigranten besteht keine Notwendigkeit, neue Wurzeln zu schlagen, da sie nie entwurzelt wurden. Sie sind sowohl in Bezug auf ihre Identität als auch physisch in beiden Ländern zu Hause.

Die Debatten um einen Paradigmenwechsel in der wissenschaftliche Literatur weg vom starren Konzept von Diaspora als nation-in-exile hin zu einer semantischen Erweiterung des Begriffs hinterließen der Migrationsforschung jedoch eine Reihe uneindeutiger Merkmalszuschreibungen für Diasporas im auslaufenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert. Charakteristika, wie die Zerstreuung einer Gruppe, die einen gemeinsamen nationalen, kulturellen oder ethnischen Ursprung teilt, über mindestens zwei verschiedene Länder und die Unterhaltung von Netzwerkbeziehungen zwischen diesen verschiedenen Orten sowie symbolische oder reale Beziehungen zum Heimatland, treffen auf verschiedenste Migrationsformen zu, einschließlich der Transmigration. Warnungen vor dem inflationären Gebrauch des Begriffs Diaspora beziehungsweise seiner unkritischen und unreflektierten Anwendung auf jedwede Art globaler Zerstreuung oder Form der Migration wurden lauter. Die allgemeine wissenschaftliche Kritik bestand folglich darin, dass das Konzept von Diaspora mit einem solchen vagen Merkmalskatalog seinen theoretischen Definitionsgehalt und seine analytische Nützlichkeit verliere. Eine konzeptionelle Unterscheidung zwischen Transmigranten und Diasporen würde somit kaum noch möglich, wenn wesentliche Aspekte wie die der eigenständigen kulturellen Identität, der symbolischen Zugehörigkeit, Loyalität und emotionalen Beziehung beziehungsweise Verbundenheit mit dem Heimatland an definitorischer Bedeutung einbüßten.

Auch wenn der häufig diskutierte Vorschlag des Politikwissenschaftlers William Safran, den Exilcharakter von Diaspora als Definitionsgrundlage beizubehalten, um den Begriff als analytische Kategorie sinnvoll zu erhalten, weithin als zu rigide Einschränkung betrachtet wurde, besteht in der aktuellen Diasporaforschung doch eine breite Zustimmung zur Notwendigkeit, das Konzept von Diaspora nicht zu vage zu fassen, um es von Transnationalisierung beziehungsweise Transmigration unterscheiden zu können.

Schlussbetrachtung

Wie ich dargelegt habe, gibt es wesentliche konzeptionelle und terminologische Überschneidungen der Begriffe Exil, Diaspora und Transmigration. Die Konzepte weisen viele gemeinsame Merkmale auf und sind daher nicht klar voneinander trennbar. Sie sind jedoch auch keine Synonyme und ihre Unterschiede sind entscheidend. Die konzeptionelle Gemeinsamkeit aller drei Begriffe liegt darin, dass sie Migrationsbewegungen von Menschen über Grenzen hinweg beschreiben. Zudem beziehen sich alle drei Begriffe auf die Erfahrungen der geografischen Trennung vom und der Neuverortung außerhalb des Herkunftsortes sowie der damit einhergehenden Aushandlung von (unter anderem nationalen, sozialen und kulturellen) Identitäten. Dabei unterscheiden sich Exilierte, Diasporen und Transmigranten jedoch deutlich in ihrem Verständnis von Zugehörigkeit und der Vorstellung von Heimat. Der Beitrag verdeutlicht auch, dass die Bedeutungen der diskutierten Begriffe nicht statisch sind, sondern durchaus semantischem Wandel unterliegen. Während sich zum Beispiel der Begriff Diaspora ursprünglich konkret auf das Exil des jüdischen Volkes und seine Zerstreuung außerhalb des historischen Heimatlandes bezog, findet er heute zunehmend Anwendung auf transnationale Migrationsformen.

Trotz (oder gerade wegen) aller semantischen und konzeptionellen Gemeinsamkeiten der drei diskutierten Begriffe bleibt es eine Aufgabe der aktuellen Migrationsforschung, auch die wesentlichen Unterschiede von Exil, Diaspora und Transmigration als wichtige Kategorien dieses Forschungsfeldes herauszustellen, um eine klarere, analytisch sinnvolle Typologie verschiedener Migrationsformen zu erarbeiten – eine Typologie, die nicht starr ist (und nicht sein kann), aber es der theoretischen und empirischen Migrationsforschung ermöglicht, die Mannigfaltigkeit globaler Bewegungsphänomene besser erfassen und verstehen zu können sowie der Herausforderung eines nuancierten Verständnisses von historischen und gegenwärtigen Migrationsphänomenen gerecht zu werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Stuart Hall, Cultural Identity and Diaspora, in: Jonathan Rutherford (Hrsg.), Identity, London 1990, S. 222–237; Paul Gilroy, It Ain’t Where You’re From, It’s Where You’re At … : The Dialectics of Diasporic Identification, in: Third Text, 13 (1991) 13, S. 3–16.

  2. Vgl. Nico Israel, Outlandish: Writing Between Exile and Diaspora, Stanford 2000, S. 1.

  3. Vgl. Robin Cohen, Global Diasporas, Seattle 1997, S. IX; Amanda Wise, Embodying Exile: Trauma and Collective Identities Among East Timorese Refugees in Australia, in: Social Analysis, 48 (2004) 3, S. 24–39.

  4. Vgl. Martin Baumann, Diaspora: Genealogies of Semantics and Transcultural Comparison, in: Numen, 47 (2000) 3, S. 313–337.

  5. Vgl. Matthias Krings, Diaspora: Historische Erfahrungen oder Wissenschaftliches Konzept?, in: Paideuma, 49 (2003), S. 137–156, hier: S. 139.

  6. Vgl. ebd.; M. Baumann (Anm. 4), S. 316–317.

  7. Vgl. Khachig Tölölyan, Rethinking Diaspora(s), in: Diaspora, 5 (1996) 1, S. 3–36, hier: S. 11.

  8. Vgl. James Clifford, Diasporas, in: Cultural Anthropology, 9 (1994) 3, S. 302–338, hier: S. 308, S. 329; Avtar Brah, Cartographies of Diaspora, London–New York 1996, S. 193.

  9. Edward Said, Reflections on Exile, in: More Robinson (Hrsg.), Altogether Elsewhere: Writers on Exile, Boston 1994, S. 137–149, hier: S. 140.

  10. Ebd., S. 140, S. 143, S. 149.

  11. Vgl. A. Brah (Anm. 8), S. 197; E. Said (Anm. 9).

  12. Vgl. Halleh Ghorashi, Ways to Survive, Battles to Win, New York 2003, S. 133ff.

  13. Vgl. E. Said (Anm. 9), S. 140.

  14. Vgl. Thomas Faist, Transnationalization in International Migration, in: Ethnic and Racial Studies, 23 (2000) 2, S. 189–222, hier: S. 197.

  15. Vgl. Yossi Shain, The Frontier of Loyality, Ann Arbor 2005, S. 15.

  16. Vgl. Bendetta Calandra, Exil and Diaspora in an Atypical Context, in: Buletin of Latin American Research, 32 (2013) 3, S. 311–324, hier: S. 320; Nicholas von Hear, From Durable Solutions to Transnational Relations: Home and Exile Among Refugee Diasporas, Genf 2003, S. 1.

  17. Vgl. Erik Olsen, From Exile to Post-Exile: The Diasporisation of Swedish Chileans in Historical Contexts, in: Social Identities, 15 (2009) 5, S. 659–676, hier: S. 660.

  18. Vgl. Kim D. Butler, Defining Diaspora, Refining a Discourse, in: Diaspora, 10 (2001) 2, S. 189–219, hier: S. 192.

  19. Vgl. u.a. Gabriel Sheffer, Diaspora Politics: At Home Abroad, Cambridge u.a. 2003.

  20. Vgl. Ruth Mayer, Diaspora: Eine kritische Begriffsbestimmung, Bielefeld 2005.

  21. Vgl. Michele Reis, Theorizing Diaspora: Perspectives on "Classical" and "Contemporary" Diaspora, in: International Migration, 42 (2004) 2, 41–60, hier: S. 47.

  22. Vgl. Nina Glick Schiller/Linda G. Basch/Cristina Szanton Blanc, Towards a Transnational Perspective on Migration, New York 1992.

  23. Vgl. u.a. Jana Evans Braziel/Anita Mannur, Nation, Migration, Globalization: Points of Contestation in Diaspora Studies, in: dies., Theorizing Diaspora: A Reader, Malden 2003, S. 1–22.

  24. Einschließlich des unfreiwilligen Verlassens der Heimat, der Heimatlandorientierung und dem Wunsch nach Rückkehr sowie eines sich auf diese Erfahrungen beziehenden und sich von der Aufnahmegesellschaft unterscheidenden Gemeinschaftsbewusstseins, das die kollektive Identität und Solidarität prägt.

  25. Vgl. William Safran, Diasporas in Modern Societies, in: Diaspora, 1 (1991) 1, S. 83–99.

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Dr. phil., geb. 1979; ehem. wissenschaftliche Mitarbeiterin am Global and European Studies Institute der Universität Leipzig, Emil-Fuchs-Straße 1, 04105 Leipzig. E-Mail Link: kuhlmann@uni-leipzig.de