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Zwischen Reformversprechen und Status quo: Frauen in Saudi-Arabien

Nora Derbal

/ 15 Minuten zu lesen

In Saudi-Arabien müssen sich Frauen verschleiern. Ob Muslima oder nicht, Einheimische oder Ausländerin – Frauen sind dazu aufgefordert, außerhalb des Privaten die ‘abaya, ein schwarzes Ganzkörpergewand, zu tragen. Kaum ein Aspekt Saudi-Arabiens erzeugt so viel Aufmerksamkeit außerhalb der Landesgrenzen und erhitzt die Gemüter ähnlich wie die Frauenfrage. Der "orientalistische" Blick vieler westlicher Medien suggeriert, dass der Ganzkörperschleier ein Sinnbild dafür ist, wie auf der Arabischen Halbinsel eine patriarchale, vormoderne Stammeskultur zusammen mit einer ultraorthodoxen, puritanischen Auslegung des Islam Frauen entrechtet, unterdrückt und aus dem öffentlichen Leben verbannt. Gegenüber dieser vermeintlich rückwärtsgewandten Kultur zeigt sich das Herrscherhaus als Emanzipator und Beschützer saudischer Frauen, indem es sich für liberale Reformen ausspricht, zugleich jedoch davor warnt, dass die Gesellschaft "Zeit für Veränderung" benötige. Weibliche saudische Intellektuelle wehren sich indes dagegen, auf ein Opferdasein reduziert zu werden. Aus der Mitte der Gesellschaft fordern Graswurzelinitiativen eine Ausweitung von Frauenrechten, während saudische Frauen auf den Arbeitsmarkt drängen.

Was verrät dieses komplexe und widersprüchliche Bild über die Situation saudischer Frauen in Saudi-Arabien? Deuten die staatlichen Reformen der vergangenen Jahre auf eine Liberalisierung der Geschlechterpolitik und mehr weibliche Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben? Oder ist das Festhalten am Ganzkörperschleier ein Ausdruck für das gesellschaftliche Festhalten an einem erzkonservativen Frauenbild und damit verbundenen Einschränkungen von Frauenrechten? Frauen sind in Saudi-Arabien vielfach Repressionen ausgesetzt. Dennoch greift eine kulturalistische Darstellung der saudischen Frau als Opfer ihrer Kultur und Gesellschaft, die mit Prädikaten belegt wird wie "patriarchal", "tribal" und "beduinisch" zu kurz, um die Geschlechterordnung im Königreich zu verstehen. Wie die folgenden Ausführungen zeigen, muss die Frauenfrage im historisch gewachsenen politischen Gefüge des Landes verortet und diskutiert werden.

Ein Leben lang unmündig

Spricht man mit Frauen in Saudi-Arabien über ihre Ansichten zu ‘abaya und Verschleierung, so verweisen sie auf die relative Bedeutungslosigkeit von Kleidungsvorschriften im Vergleich zu anderen geltenden und die Geschlechterordnung betreffenden Gesetzen. Die saudische Gesellschaftsordnung wurde 1992 in einer Grundgesetzverordnung beschrieben, welche den Koran und die Prophetentradition (Sunna) als Verfassung und die Scharia als Rechtsrahmen des Landes proklamiert. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass Frauen unter der Obhut eines männlichen, legalen Vormunds (mahram) stehen. Als solcher gilt üblicherweise der Ehemann oder ein männlicher Verwandter der Frau wie der Vater, ein Bruder oder Sohn.

Befürworter des bestehenden Vormundschaftssystems verweisen darauf, dass dieses Frauen beschütze – ähnlich dem Sorgerecht in Deutschland, das als höchstes Prinzip das Wohl von Schutzbedürftigen verfolge. Seine Gegner kritisieren, dass saudische Frauen nur mit der Zustimmung ihres Vormunds eine Fülle von Grundrechten wahrnehmen können. Beispielsweise braucht eine Frau das Einverständnis ihres mahram, um einen eigenen Personalausweis zu beantragen, höhere Bildungseinrichtungen zu besuchen sowie für eine Vielzahl medizinischer Eingriffe. Frauen können ohne seine Unterschrift keine Verträge abschließen, zum Beispiel keinen Miet-, Arbeits- oder Handyvertrag. Nur mit seiner schriftlichen Zustimmung dürfen sie verreisen. Die Ungleichheit vor dem Gesetz, die das Vormundschaftssystem besiegelt, benachteiligt saudische Frauen im Erb- und Wirtschaftsrecht, in Scheidungsprozessen und in Sorgerechtsprozessen um ihre Kinder.

Diese lebenslange Entmündigung wird durch die wörtliche Auslegung eines unter muslimischen Gelehrten höchst umstrittenen Koranverses gerechtfertigt, der besagt: "Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie (von Natur vor diesen) ausgezeichnet hat." An dieser Stelle muss ausdrücklich betont werden: Nicht "der Islam" entmündigt Frauen in Saudi-Arabien. Vielmehr hält das saudische Regime eine Gesellschaftsordnung aufrecht, die Frauen vor dem Gesetz marginalisiert. Selektiv stützt sich die Regierung in Angelegenheiten des Zivilrechts auf die Scharia, eine spezifisch islamische, "umfassende Rechts- und Werteordnung" auf der Grundlage von Koran und Sunna. In Saudi-Arabien sind die Modalitäten ihrer Auslegung maßgeblich von einer Gruppe männlicher religiöser Rechtsgelehrter geprägt: dem "Rat der hochrangigen Gelehrten" (Hay’at kibar al-‘ulama’) und dem obersten Mufti (Dar al-ifta’). Beide Instanzen werden, staatlichen Behörden ähnlich, von der Regierung finanziert und mit von ihr ernannten hanbalitischen Rechtsgelehrten besetzt. Indem sich diese Gelehrten an die Wahhabiyya anlehnen, die eine zeitgenössische und plurale Auslegung des Islam verurteilt, beansprucht ihre Interpretation überzeitliche Geltung, derer sich die saudische Regierung bedient – etwa um eine "schariagerechte" Geschlechterordnung durchzusetzen. Andere Bereiche wie das inländische Finanz- und Wirtschaftswesen sollen zwar in Vereinbarkeit mit der Scharia abgewickelt werden, fallen aber in der Regel unter nichtreligiöse Instanzen der Rechtsprechung.

Kulturgut Frau

Die rechtliche Bindung der Frau an ihren mahram gehört zu den Maßnahmen einer symbolischen Geschlechterpolitik, die sich bewusst "islamisch" geriert, jedoch vielmehr als ein wirkungsmächtiges Instrument der Herrschaftssicherung des Königshauses angesehen werden muss. Rechtlich und räumlich werden Frauen von der herrschenden Politik eingegrenzt und auf die Kategorie Frau reduziert. Um den "islamischen" Charakter der Regierungsführung zu betonen, inszeniert diese die saudische Frau als idealtypische Muslima – eine weithin sichtbare Haltung, die zeigen soll, dass sich das Königshaus für den "islamischen" Charakter des Landes und sein "traditionelles" Erbe einsetzt. Gleichzeitig dient die saudische Frau als Symbol nationaler Einheit und als Distinktionsmerkmal saudischer Identität, das es – gleich einem Kulturgut – zu erhalten gilt. Das konservative Frauenbild, dessen sich die politische Leitkultur dabei bedient, bezieht sich auf religiöse und lokale Bräuche der zentralarabischen Region Najd, dem Ursprungsland der Königsfamilie. So ist beispielsweise die ‘abaya, die heute im ganzen Land von Frauen getragen und in westlichen Darstellungen häufig als "islamisch" und "saudisch" per se präsentiert wird, ein Kleidungsstück, das noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur von Frauen der Stämme Zentralarabiens getragen wurde. Etwa im Westen der Arabischen Halbinsel verschleierten sich Frauen lediglich mit einem weiten Tuch, das um die Körpermitte getragen und entlang der Unterarme eingeschlagen wurde.

Dass die saudische Regierung durch eine gezielt "islamische" Regierungspraxis unter maßgeblicher Einbindung von religiösen Gelehrten Legitimität erfährt, geht auf eine historische Allianz zwischen politischer Führung und religiöser Doktrin im 18. Jahrhundert zurück. Verschiedene sozioökonomische Entwicklungen haben außerdem zur Durchsetzung des idealtypischen Rollenbilds der saudischen Frau als Muslima, Hausfrau und Mutter beigetragen: zum einen die Erdölförderung und die damit einhergegangenen rapiden Veränderungen der Gesellschaft seit den 1960er Jahren. Erst die Modernisierung der Arbeits- und Lebenswelt bei gleichzeitig wachsendem Wohlstand ermöglichten es, auf Frauen als Arbeitskräfte zu verzichten und ihnen das "Privileg" der häuslichen Familienwelt zu gewähren. Zum anderen erlaubten die Einnahmen aus der Erdölförderung den Aufbau staatlicher Institutionen, die gleichsam die Institutionalisierung von als islamisch propagierten Normen verkörperten und vorantrieben. Hier ist besonders die geschlechtergetrennte Bildungslandschaft zu nennen, die im 1969 erlassenen Verbot von gemischtgeschlechtlichen Arbeitsplätzen fortgeschrieben wurde.

Die politisch verordnete Segregation der Geschlechter und die Bindung der Frau an ihren mahram wirken sozialen Veränderungen entgegen und fangen eine häufig damit einhergehende gesellschaftliche Verunsicherung ab, indem sie ein als "traditionell" und "islamisch" inszeniertes Familienbild verordnen. Beispielsweise rechtfertigte in den 1960er Jahren König Faisal gegenüber Kritikern im Land die Einführung der Schulbildung für Mädchen im Königreich damit, dass sie Mädchen ermögliche, bessere Hausfrauen und Mütter zu sein, da ihre Bildung letztlich den Kindern der saudischen Nation zugutekomme. Die Inszenierung der "traditionellen" saudischen Familie, in der die saudische Frau auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter reduziert wird, verkennt die historische Tatsache, dass Frauen vor der Erdölrevolution unter anderem aufgrund der ökonomischen Notwendigkeit auch außerhalb des familiären Haushalts arbeiteten. Um darüber hinaus die Konformität der Mädchenbildung mit "islamischen" Werten zu bekräftigen, wurde diese an das Ministerium für Islamische Angelegenheiten, Stiftungen, Missionstätigkeit und Rechtleitung ausgelagert, im Gegensatz zur Bildung männlicher Schüler, die von Anfang an dem Bildungsministerium unterstand.

Ähnlich ausgelagert erfolgt die Überwachung der Geschlechterordnung und damit verbundener Normen wie das angemessene Verschleiern durch eine Sittenpolizei (hay’a), auch Religionspolizei genannt. Dabei handelt es sich komplementär zur zivilen Polizei um eine Art moralisches Organ, dessen Vorsitzender den Rang eines Kabinettsministers bekleidet. Aufgrund ihrer häufigen Übergriffe fördert sie gerade unter jungen Frauen eine Atmosphäre der Angst und Unsicherheit im öffentlichen Raum. Obwohl die tatsächliche Wirkungsmacht der Sittenpolizisten begrenzt ist und regional sehr unterschiedlich ausfällt, ist sie ein bedeutungsstarkes Symbol für die "islamische" Staatsführung der saudischen Regierung.

Staatliche Reformen im Kontext politischer Instabilität

Besonders in Zeiten großer gesellschaftlicher Veränderung und politischer Instabilität dient Geschlechterpolitik der saudischen Regierungsführung als ein wichtiges Instrument. Als Reaktion auf die heftige Kritik an der Verwestlichung der Königsfamilie und des saudischen Alltags, die 1979 in der Besetzung der Großen Moschee in Mekka gipfelte, verschärfte die Regierung ihre Geschlechterpolitik sichtbar, unter anderem indem sie Ausländerinnen verpflichtete, ihre Körper zu verschleiern. Ebenso reagierte König Fahd auf die Kritik am proamerikanischen Kurs der saudischen Regierung während der Golfkrise 1990 unter anderem mit einem demonstrativen Autofahrverbot für Frauen. Andererseits gab sich die Regierung unter dem internationalen Druck in Folge des 11. September 2001 prowestlich und dem "Kampf gegen den internationalen Terrorismus" zugewandt, indem sie gezielt in einen Reformdiskurs investierte, dessen Aushängeschild die Ausweitung der gesellschaftlichen Teilhabe von Frauen ist. Ähnlich reagierte das saudische Herrscherhaus auf den als Bedrohung empfundenen sogenannten Arabischen Frühling und präsentierte sich als "liberale" und "reformorientierte" Monarchie, indem es Frauen in den Schura-Rat, eine beratende Versammlung ohne (legislative) Machtbefugnisse, ernannte und ihnen die Beteiligung an den Gemeinderatswahlen 2015 in Aussicht stellte.

König Abdallah, seit 1995 de facto Herrscher über Saudi-Arabien, erscheint im Rahmen des Reformdiskurses der Regierung als liberaler Reformer und Emanzipator saudischer Frauen. Entgegen seinem Ruf sind die tatsächlichen Reformschritte, die im Namen des 91-jährigen, seit Jahren schwerkranken Königs angestoßen wurden, bislang größtenteils rein symbolischer Natur. Durch Initiativen wie eine Sitzung im Nationalen Dialogforum zu den Rechten und Pflichten der Frau 2004 hat sich das Regime des "Themas Frau" bemächtigt und diktiert die Leitlinien der Diskussionskultur. Im Rahmen von Reformmaßnahmen ernennt es bestimmte Frauen in auffallend sichtbare, symbolische Positionen, deren Funktion es ist, die Gesamtheit saudischer Frauen zu repräsentieren, ohne sie tatsächlich mit ausführenden Machtbefugnissen auszustatten. Diese "Vorzeigefrauen" sind jedoch nur bedingt repräsentativ: Zum einen wurden sie nicht gewählt, sondern vom König ernannt, zum anderen handelt es sich vornehmlich um Mitglieder einer kleinen, wohlhabenden Elite, die auf diesem Weg bedient und kooptiert wird. Der Regierung gelingt es, sich reformorientiert darzustellen, wie das positive Echo auf ähnlich gesteuerte symbolhafte Maßnahmen, etwa die Beteiligung saudischer Frauen am Nationalen Dialogforum oder die Berufung von Nura al-Faiz zur ersten Vizeministerin für Mädchenbildung 2009, zeigt.

Innersaudische Diskurslinien in der Frauenfrage

Die saudische Regierung erlaubt zwar, die Frauenfrage zu diskutieren, zugleich setzt sie jedoch die Grenzen des Sagbaren, indem sie die Institutionen kontrolliert, in denen sie verhandelt werden darf, etwa die Presse, das Internet und die von ihr geschaffenen Menschenrechtsorganisationen.

Wenngleich der in Saudi-Arabien häufig verwendete Begriff "Frauenfrage" aus einem Diskurs stammt, der im 19. Jahrhundert in Europa maßgeblich von feministischen Bewegungen geprägt wurde, distanzieren sich saudische, insbesondere islamistische Akteure in der Regel von einer Bezeichnung als "feministisch", weil sie mit der ungewollten Übernahme westlicher Werte gleichgesetzt wird. Normativer Referenzpunkt in der Frauenfrage ist vielmehr der Islam. Sogenannte liberale Intellektuelle, die in Saudi-Arabien meist als "Säkularisten" (‘ilmaniyun) bezeichnet werden, da sie nicht für eine Islamisierung der Gesellschaft eintreten, diskutieren "Frauenrechte" ebenso häufig im Kontext von Koran und Sunna wie sogenannte islamistische Feministinnen, die sich darüber definieren, dass sie in der Islamisierung der Gesellschaft die Verwirklichung einer gerechten Gesellschaftsordnung sehen. Anhängerinnen und Anhänger beider Lager argumentieren beispielsweise für das Recht von Frauen auf selbstständiges Autofahren mit der Begründung, dass der Koran Frauen Autofahren nicht verbiete. Das Beispiel Aischas, der Frau des Propheten, die für ihre Beteiligung an der "Kamelschlacht" im Jahr 656 bekannt ist, zeige, dass Autofahren – analog zum Kamelreiten – mit der Scharia vereinbar sei. Selbst autofahrende Aktivistinnen bleiben damit innerhalb einer politischen Leitkultur, in der das Gemeinwohl darüber bestimmt wird, was als "islamisch" anerkannt wird.

Graswurzelinitiativen wie der Protest autofahrender Frauen kratzen am vorhandenen gesellschaftlichen Rollenbild der idealtypischen saudischen Frau als unmündiger Hausfrau. Ähnlich bemerkenswerte Initiativen mit weitreichenden Folgen sind beispielsweise die Forderung der seit 2005 zugelassenen Jurastudentinnen, als rechtmäßige Anwältinnen zugelassen zu werden; eine 2010 an den König gerichtete Petition für die Aufnahme von Studentinnen an der prestigeträchtigen König Fahd Universität, die Frauen für die Arbeit im Erdölsektor befähigen würde; private Frauenuniversitäten, die Frauen zu Ingenieurinnen und Architektinnen ausbilden – Bereiche, die bis vor kurzem Männern vorbehalten waren; und schließlich Frauen, die durch ihr Erscheinen bei Stadtverwaltungssitzungen in Jidda 2013 mehr weibliche Teilhabe an politischen Prozessen forderten.

Frauen äußern sich vornehmlich zu sogenannten Frauenthemen und Frauenrechten. Das gilt auch für den Bereich Kunst und Kultur, wo sich saudische Frauen in Literatur, Film und Malerei kritisch mit ihrem Leben im Königreich auseinandersetzen und Tabus und Missstände wie sexuelle Selbstbestimmtheit und häusliche Gewalt, die Abhängigkeit vom mahram und wirtschaftliche Existenzangst thematisieren. Umgekehrt diskutieren auch Männer über die Frauenfrage, und sei es, um ihre Solidarität zu bekunden. Aufgrund der ihnen auferlegten strukturellen Zwänge sind insbesondere Frauen von der schleichenden Verarmung betroffen, die zunehmend in der saudischen Gesellschaft um sich greift. Hohe Arbeitslosenzahlen bei stetig hohen Geburtenraten erlauben jungen saudischen Familien längst nicht mehr, auf das Einkommen von Frauen zu verzichten. Frauen drängen auf den Arbeitsmarkt und ergreifen Anstellungen, die noch vor kurzem undenkbar waren, etwa als Verkäuferinnen oder Journalistinnen.

Weibliche (Frei-)Räume und Mobilität

Die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt können zu einer Neuaushandlung von gesellschaftlichen Normen führen: Zum Beispiel haben sie Debatten darüber angestoßen, ob das Aufeinandertreffen von nichtverwandten Männern und Frauen (ikhtilat) nur dann unrechtmäßig sei, wenn eine Frau allein auf einen Mann in einem geschlossenen Raum (khulwa) trifft. Wie in keinem anderen Land ist der saudische Alltag durch eine Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum geprägt. Die rechtlich verordnete und gesellschaftlich sanktionierte Geschlechtertrennung wird aufgrund der Annahme durchgesetzt, dass das Aufeinandertreffen von Männern und Frauen, die in keinem direkten familiären Verhältnis zueinander stehen, zu Schande (‘ib) und Sittenverfall beitrage.

Bei der Geschlechtertrennung handelt es sich jedoch nicht um eine Aufteilung der Gesellschaft in einen männlich-öffentlichen Raum einerseits und einen weiblich-privat-häuslichen Raum andererseits. Es wäre ein Fehlschluss zu glauben, Frauen seien vom gesellschaftlichen Leben gänzlich ausgeschlossen. Vielmehr zeichnet sich die städtische Lebenswelt Saudi-Arabiens zunehmend durch die Existenz paralleler öffentlicher Räume aus: zum einen ein männlich dominierter öffentlicher Raum, der von saudischen Männern und Ausländern frequentiert wird, zum anderen ein häufig verschlossener, aber nichtsdestotrotz öffentlicher Raum saudischer Frauen, in dem nichtverwandte Saudi-Araberinnen aufeinandertreffen und zueinander in Beziehung treten. Bestes Beispiel für diese Art der geschlechtergetrennten parallelen Öffentlichkeiten ist die saudische Bildungslandschaft. So hat beispielsweise die staatliche König Abd al-Aziz Universität in Jidda jeweils einen Campus für Männer und Frauen. Obwohl räumlich nur wenige hundert Meter voneinander getrennt, sind die Mauern des Frauencampus für Studenten kaum zu überwinden. "Gemeinsame", das heißt gemischtgeschlechtliche Seminare, finden über Video- beziehungsweise Audioliveschaltung statt.

Die Bereiche des öffentlichen Lebens, die ausschließlich Frauen vorbehalten sind, wachsen seit den 1960er Jahren stetig: Heutzutage existieren eigens für Frauen eingerichtete ministerielle Behörden, Wartehallen und Beratungsstellen, Geschäfte, Bankfilialen, Fitnessstudios und Festhallen für die üblicherweise getrenntgeschlechtlichen Hochzeitsfeste. Des Weiteren haben Frauen Zugang zu Bereichen, die Familien vorbehalten sind. Dabei handelt es sich um Räume, zu denen Frauen de facto allein (beziehungsweise in Frauengruppen) Zutritt haben, Männern ohne weibliche Begleitung jedoch der Zugang verwehrt wird. Unter diese Regelung fallen viele Restaurants und Cafés, Vergnügungsparks und Museen. Die Entwicklung hin zum stetigen Ausbau von rein weiblichen öffentlichen Räumen in den Städten Saudi-Arabiens fordert unser westliches Gesellschaftsbild heraus, in dem gesellschaftliche Teilhabe von Frauen daran bemessen wird, inwiefern diese an einer – nach wie vor in weiten Teilen der Welt – männlich dominierten Öffentlichkeit partizipieren.

Dass trotz dieser verschiedenen Entwicklungen häufig der Eindruck entsteht, Frauen könnten in Saudi-Arabien nur bedingt am gesellschaftlichen Leben teilhaben, mag unter anderem an ihrer eingeschränkten Mobilität liegen. Saudi-Arabien hat kaum öffentliche Verkehrsmittel – und wo es diese gibt, ist Frauen deren Nutzung untersagt. Dies erklärt die Bedeutung des vielzitierten Autofahrverbots für Frauen. Tatsächlich findet sich kein Gesetz, das Frauen das Autofahren verbietet. Indirekt sind Frauen jedoch vom selbstständigen Fahren ausgeschlossen, da ihnen im Land kein Führerschein ausgestellt wird. Somit beschränkt sich die Mobilität von Frauen, die sich keinen eigenen Fahrer leisten können, auf die Nutzung von Taxis, was viele als potenzielle Schande (‘ib) und Gefahr ansehen, da Frauen im geschlossenen Raum des Autos dem fremden Taxifahrer ausgeliefert seien. Die meisten Frauen sind deshalb in ihren Bewegungen von männlichen Angehörigen abhängig, was für Familien eine enorme auch zeitliche Belastung darstellt.

Kann ökonomischer Zwang Freiheit schaffen?

In den Metropolen des Landes zeichnet sich eine Veränderung des gesellschaftlichen Rollenbilds der idealtypischen saudischen Frau ab. Durch ihr selbstbestimmtes Auftreten gewinnen saudische Frauen auf dem Arbeitsmarkt Freiräume außerhalb der Familie. Die Notwendigkeit zu arbeiten und der Wunsch, am globalen Konsum teilzuhaben, der ebenso wie Fernsehen und Internet die saudische Alltagskultur stark beeinflusst, schaffen gleichzeitig neue Zwänge, denen sich Frauen unterworfen sehen. Etwa bedeutet eine berufliche Karriere häufig Einschränkungen in der Familienplanung und nicht selten werden Anforderungen des Arbeitsmarktes, wie Pünktlichkeit und Disziplin als unerwünschte Einschränkungen wahrgenommen.

Die Rolle des saudischen Staates bleibt höchst ambivalent. Wenngleich sich dieser hinsichtlich der bestehenden Gesellschaftsordnung reformorientiert inszeniert, waren die tatsächlichen Reformen bislang kosmetischer Natur. Der Furor, der sich im Internet vor allem über Twitter in Saudi-Arabien entlädt und die Religionsgelehrten des Regimes scharf für die Gängelung von Frauen kritisiert, sollte hellhörig machen, wenn es heißt, die saudische Gesellschaft stehe hinter einer Marginalisierung von Frauen, der Staat hingegen beschütze diese. Vielmehr organisieren sich Frauen zunehmend in staatsunabhängigen Graswurzelinitiativen, die mehr Frauenrechte fordern. Trotz staatsfeministischer Fassade marginalisiert die Geschlechterpolitik des Regimes nach wie vor Frauen in Saudi-Arabien. In diesem Sinne werden Frauen von Politik und Gesetz unmündig und entrechtet gehalten – und haben damit, obwohl saudi-arabische Männer ebenfalls nicht den Schutz ihrer Menschen- und Bürgerrechte genießen, besonders unter den undemokratischen Strukturen des saudischen Staates zu leiden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ohne ‘abaya toleriert werden Angestellte an Krankenhäusern und Pilgerinnen während der Hajj. Außerdem herrschen eigene Kleiderregeln beispielsweise innerhalb westlicher Compounds, an der König Abdallah Universität für Technologie und Naturwissenschaften und bei der Erdölgesellschaft Aramco.

  2. "Orientalismus" beschreibt nach Edward Said ein politisches Projekt, das den Islam als Determinante muslimischer Gesellschaften festschreibt, der als das exotische Andere und Negativfolie einer vermeintlich überlegenen, fortschrittlichen westlichen Zivilisation konstruiert wird. Vgl. Edward Said, Orientalism, New York 1979.

  3. Die hohe Präsenz nicht-saudischer Frauen in Saudi-Arabien sollte bei der Betrachtung saudischer Frauen mitbedacht werden, ihre Lebenswelten unterscheiden sich jedoch stark.

  4. Vgl. Lila Abu Lughod, Do Muslim Women Really Need Saving?, in: American Anthropologist, 104 (2002) 3, S. 783–790.

  5. Al-nizam al-asasi lil-hukm, Externer Link: http://www.saudiembassy.net/about/country-information/laws/The_Basic_Law_Of_Governance.aspx (17.9.2014).

  6. Vgl. Human Rights Watch, Perpetual Minors, April 2008, Externer Link: http://www.hrw.org/reports/2008/04/19/perpetual-minors-0 (17.9.2014).

  7. Sure 4, Vers 34.

  8. Gudrun Krämer, Skripte, Externer Link: http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/islamwiss/_media/Dateien/Kraemer_Skripte (1.10.2014).

  9. Zur eigenständigen Urteilsbemühung (ijtihad) in der saudischen Rechtsprechung vgl. Frank E. Vogel, Islamic Law and Legal System. Studies of Saudi Arabia, Leiden 2000.

  10. Vgl. Esther van Eijk, Sharia and National Law in Saudi Arabia, in: Jan Michiel Otto (Hrsg.), Sharia Incorporated, Leiden 2010, S. 139–180.

  11. Vgl. Eleonor A. Doumato, Gender, Monarchy and National Identity in Saudi Arabia, in: British Journal of Middle Eastern Studies, 19 (1992) 1, S. 31–47.

  12. Vgl. Mai Yamani, Cradle of Islam: The Hijaz and the Quest of an Arabian Identity, London 2004.

  13. Siehe auch Interner Link: Henner Fürtigs Beitrag in diesem Heft (Anm. d. Red.).

  14. Vgl. beispielhaft Soraya Altorky/Donald Cole, Arabian Oasis City: The Transformation of ‘Unaiza, Texas 1989.

  15. Vgl. zur Rolle von exceptional women Madawi al-Rasheed, A Most Masculine State, Cambridge 2013.

  16. Vgl. Amélie Le Renard, "For Women Only": Women, the State, and Reform in Saudi Arabia, in: Middle East Journal, 62 (2008) 4, S. 610–629.

  17. Vgl. dies., Personal Development and "Women’s Rights": Women’s Appropriation of Religion in Saudi Arabia, in: Critique Internationale, (2010) 46, S. 67–86.

  18. Siehe auch Interner Link: Sebastian Sons' Beitrag in diesem Heft (Anm. d. Red.).

  19. Vgl. Amélie Le Renard, Femmes et espaces publics en Arabie saoudite, Paris 2011.

  20. Vgl. Eleanor Abdella Doumato, Education in Saudi Arabia: Gender, Jobs, and the Price of Religion, in: Eleanor Abdella Doumato/Marsha Pripstein Posusney (Hrsg.), Women and Globalization in the Arab Middle East, Boulder 2003.

  21. Praktische Gründe, Gebäudeinstandhaltung oder Gartenarbeiten erlauben regelmäßig männlichen Angestellten den Zugang zu vielen Räumen, die an sich Frauen vorbehalten sind.

  22. Bereiche mit weniger klar definierten Grenzen zwischen den Geschlechtern finden sich im urbanen Raum häufig in ärmeren Stadtteilen, aber je nach Landesteil spezifisch.

  23. Hiervon ausgenommen sind Flugzeuge, ein verbreitetes und relativ günstiges Verkehrsmittel zwischen den Städten des Landes.

  24. Vgl. Amélie Le Renard, A Society of Young Women, Stanford 2014.

  25. Aktuelle Beispiele in Joseph A. Kechechian: Legal and Political Reform in Sa‘udi Arabia, London–New York 2013, S. 43–51, S. 59ff., S. 214–217.

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M.A., geb. 1984; Doktorandin an der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies, Freie Universität Berlin, Altensteinstraße 48, 14195 Berlin. E-Mail Link: derbal@bgsmcs.fu-berlin.de