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Die Wiederkehr der Konformität? | Mitte | bpb.de

Mitte Editorial Die Mittelschicht – das unbekannte Wesen? Die Mittelschicht – stabiler als gedacht Gefühlte Verunsicherung in der Mitte der Gesellschaft? Die Auflösung der migrantischen Mittelschicht und wachsende Armut in Deutschland Die neue globale Mittelschicht Die Wiederkehr der Konformität? Wandel der Mentalitäten – Wandel der Generationen Das Unbehagen in der bürgerlichen Mitte Die Entstehung des Mitte-Paradigmas in Politik und Gesellschaft

Die Wiederkehr der Konformität? Wandel der Mentalitäten – Wandel der Generationen

Cornelia Koppetsch

/ 16 Minuten zu lesen

Die Generation der nach 1975 Geborenen gilt als angepasst und konservativ. Die Hinwendung zu Familie und Traditionen in der Mittelschicht ist eine plausible Schutzreaktion auf die Privatisierung von Existenzrisiken im globalen Kapitalismus.

Wenn Herbert Henzler, der ehemalige Chef der Unternehmensberatung McKinsey Deutschland, fordert, dass junge Menschen heute herauskommen müssten aus der "Komfortzone", dann bedient er ein landläufiges Vorurteil. Das Image der Jugend ist nicht gut: Sie gilt als brav, angepasst, unpolitisch und vor allem als konservativ. Aber auch sozialwissenschaftliche Studien bescheinigen den jungen Erwachsenen von heute eine eher angepasste Haltung. Repräsentative Untersuchungen wie die "Spiegel"-Umfrage 2009, die Einstellungen und Orientierungen der 25- und 30-Jährigen ermittelte, und die Shell-Studie, die in Abständen von vier Jahren jeweils 2500 Jugendliche in Deutschland befragt, zeichnen das Portrait einer pragmatischen Generation, die sich in Arbeit und Beruf auf die eigene Person konzentriert, sich von politischen Gesellschaftsentwürfen abwendet und sich aus dem öffentlichen Leben zurückzieht. Familie, das eigene Heim und das Private rücken ins Zentrum des Lebens. Sie möchten an der Welt, so wie sie ist, nichts Grundsätzliches ändern, bleiben länger bei ihren Eltern wohnen und orientieren sich an traditionellen Werten wie Sicherheit und Familiensinn und an Sekundärtugenden wie Fleiß und Ehrgeiz. Das Experimentieren mit neuen Lebensformen und Lebensstilen erscheint für viele junge Erwachsene wenig verlockend.

Was sind die Ursachen für die eher konservativen Haltungen der jüngeren Generation? Warum ist diese so unheroisch, so pragmatisch und so widerstandslos angepasst? Warum scheinen junge Erwachsene heute vor allem am individuellen Fortkommen interessiert, anstatt sich, wie die vorangehenden Generationen, auf das Hochgefühl und die das Private übersteigende Gemeinschaft einer sozialen Bewegung einzulassen?

Im Folgenden werden die Haltungen und Wertorientierungen der jüngeren Generation der nach 1975 Geborenen als Ausdruck und Teil eines umfassenderen gesellschaftlichen Wandels der Mittelschicht innerhalb der Bundesrepublik Deutschland verstanden. Anders als in Medien und Öffentlichkeit oft behauptet, ist die jüngere Generation nicht deshalb konservativ, weil sie sich in einer Komfortzone bequem einrichten und im Rückzugsraum der Familie ein behagliches Leben führen möchte – dem widerspricht, dass sich auch die Jüngeren unter starkem Leistungsdruck sehen. Viele ihrer Haltungen und Wertorientierungen, so die im Folgenden entwickelte These, sind vielmehr plausible Reaktionsweisen auf gesellschaftliche Veränderungen, die auch bei den älteren Generationen Irritationen und entsprechende Anpassungs- und Suchbewegungen ausgelöst haben, wenngleich sie nur für die Jüngeren persönlichkeitsprägend geworden sind.

Generationen im Vergleich

Unter einer Generation sind nach Karl Mannheim eng benachbarte Geburtsjahrgänge zu verstehen, die in den formativen Jahren ihrer Persönlichkeitsentwicklung durch gemeinsame historische Erfahrungen, sogenannte Kollektivereignisse, geprägt wurden und daher einen Generationszusammenhang bilden, der gegenüber anderen Generationen deutlich unterscheidbare Wertorientierungen, Einstellungsmuster und Lebensziele aufweist. Generationen entstehen also nicht bereits durch die Tatsache der zeitlich eng beieinander liegenden Geburtskohorten; hinzukommen müssen einschneidende historische Ereignisse oder gesellschaftliche Veränderungen, die die Angehörigen einer Generation in einem Alter erleben, in dem sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung für äußere Einflüsse besonders empfänglich sind. Welche Ereignisse und Lebensumstände prägen nun die Jahrgänge der zwischen 1975 und 1990 Geborenen? Wie gestaltet sich ihr Erwachsenwerden? Und wie unterscheiden sich Haltungen, Persönlichkeitsprägungen und Wertorientierungen von denen der vorangehenden Generationen?

Die nach 1975 Geborenen bilden die erste Generation, die mit den Folgen der Globalisierung aufwächst. Für sie, die in neueren Untersuchungen treffenderweise auch "Generation Praktikum" genannt wird, ist der Rückbau des Sozialstaates und die Bedrohung durch prekäre Verhältnisse in der spielentscheidenden Phase des Berufseinstiegs persönlichkeitsprägend geworden. Die Jüngeren steigen unter sehr viel schlechteren Bedingungen in das Erwerbsleben ein als die Generationen davor. Die Verschärfung der Sozialgesetzgebung durch die Hartz-Reformen erhöht den Druck, eine prekäre, der eigenen Ausbildung oft nicht angemessene Beschäftigung oder eben ein weiteres Praktikum anzunehmen. Als junge Erwachsene verweilen sie oft über viele Jahre in Ausbildung, Nebenjobs und befristeten Arbeitsverhältnissen ohne erkennbare Aussicht auf eine gefestigte Position im Erwerbsleben. Damit geht eine verstärkte materielle Abhängigkeit von den Eltern einher, die Wohnung, Auto, Auslandsaufenthalte und Praktika bezuschussen. Wenn sie auf eigenen Füßen stehen wollen, müssen sie oft mit herben materiellen Einschränkungen leben. Dabei wünschen sich die jungen Erwachsenen zwischen 25 und 35 oft nichts sehnlicher, als Lebensformen und Lebensstandard der Eltern aufrechtzuerhalten.

Aufgrund des schwierigen Berufseinstiegs ist es daher auch nicht verwunderlich, dass sich bei den Jüngeren die Lebensphase Jugend stark ausgedehnt hat. Obwohl Jugendliche heute immer früher in die Pubertät kommen – diese beginnt bei den meisten schon mit zwölf Jahren – schiebt sich der Zeitpunkt ihres Erwachsenwerdens durch den verzögerten Berufseintritt weiter hinaus, insbesondere bei den Abiturienten und Hochschulabsolventen. Besonders auffällig ist zudem, dass die Jüngeren heute deutlich länger bei den Eltern wohnen bleiben. Von den 18- bis 26-jährigen leben fast zwei Drittel (63 Prozent) der Männer und 47 Prozent der Frauen noch zu Hause. Junge Männer verlassen ihr Elternhaus somit später als gleichaltrige Frauen. Viele stammen aus Familien mit sozial und wirtschaftlich gut situierten Eltern, zu denen sie eine respektvolle und tolerante Beziehung aufbauen konnten. Das Bedürfnis, sich gegen die Eltern aufzulehnen, ist dementsprechend gering. Bleiben sie deshalb so lange im Elternhaus wohnen?

Unter ganz anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen gestaltete sich das Erwachsenwerden der beiden Vorgängergenerationen – der Generation der Neuen sozialen Bewegungen, also der zwischen 1959 und 1969 in Westdeutschland Geborenen, und der APO-Generation, der zwischen 1949 und 1955 geborenen Westdeutschen, die maßgeblich durch die Studentenbewegung und die Ereignisse im Umfeld des Jahres 1968 geprägt wurden. Diese beiden älteren Generationen erfuhren in Kindheit und Jugend oft das Gegenteil von Toleranz und Respekt: Ihr Start gestaltete sich mühsam, sie wuchsen unter schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen auf. Oft hatten sie mit ärmlichen Verhältnissen und einer autoritären Elterngeneration zu kämpfen, die durch Krieg und Nationalsozialismus traumatisiert war und wenig Verständnis für die Haltungen und politischen Überzeugungen ihrer Kinder aufwies. Repressive Erziehung, autoritäres Gehabe und rigide Reglementierungen waren selbstverständlich in den 1950er und 1960er, mancherorts sogar noch in den 1970er Jahren.

Dennoch schafften sehr viele junge Erwachsene aus beiden Nachkriegsgenerationen den sozialen Aufstieg. Ihr Berufseinstieg fiel in die Phase der Wohlstandsexpansion, in der sich Mobilitätschancen ausweiteten und sich die sozialen Gegensätze abschwächten. Eine zentrale Rolle spielte dabei das Bildungssystem, das vielen einen Milieuwechsel ermöglichte. Die expandierenden Dienstleistungsbranchen, etwa im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen, schufen neue Karriereoptionen für eine wachsende Zahl von Hochschulabsolventen. Und für alle jene, die sich nicht in ein herkömmliches Berufskorsett einzwängen lassen wollten, boten sich in selbstverwalteten Betrieben, Sozialprojekten oder ABM-Maßnahmen Beschäftigungsnischen fernab des Mainstreams. Die beiden Nachkriegsgenerationen waren keineswegs vom Ehrgeiz zerfressen. Dennoch gelang es ihnen, in kultureller Hinsicht den Ton anzugeben und Werte wie Toleranz, Engagement und Selbstentfaltung gesellschaftsweit zu verankern. Viele Angehörige der älteren Generationen haben es heute auf die gesellschaftlichen Logenplätze in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur geschafft.

Aber auch in politischer Hinsicht unterscheiden sich die Generationen. Die 68er und die nachfolgende Generation der Neuen sozialen Bewegungen wuchsen auf mit dem Vietnam-Krieg, der fehlenden Aufarbeitung des Nationalsozialismus und dem Wirtschaftswunder, sie glaubten, mit ihrem Kampf für mehr Freiheit und gegen den autoritären Lebensstil und die repressiven Einstellungen der Elterngeneration das Land durch gesellschaftliches Handeln zu verändern. Sie empfanden sich als Prototyp all dessen, was Jugend seitdem aus ihrer Sicht zu sein hat: Politisch engagiert, idealistisch und nonkonformistisch. Eine große Rolle bei der Bildung ihres Generationszusammenhangs spielte das Alternativmilieu, dem sich in den 1980er Jahren etwa die Hälfte der jungen Erwachsenen zugehörig fühlte und das sich im Kielwasser von Frauen-, Anti-AKW- und Friedensbewegung bildete. Dieses Milieu hat sich vor allem in den Großstädten eine eigene Infrastruktur, bestehend aus alternativen Projekten, Wohngemeinschaften, Szenekneipen, Buchläden und Frauenräumen, geschaffen.

Das gesellschaftliche Denken war prägend für die älteren Generationen. Die von ihnen als verhängnisvoll angesehene Trennung zwischen Gesellschaft und persönlicher Lebensführung, zwischen politischem Handeln und privatem Glück, sollte aufgehoben werden. Aus diesem Gesellschaftsbild resultierte die Idee auch einer neuen, umfassenden Sozialpolitik, die in der Phase der Expansion wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen Positionen für eine neue sozialwissenschaftliche Intelligenz schuf: Der Wohlfahrtsstaat sollte nicht nur Schutz gegen die existenziellen Risiken von Unfall, Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit bieten, sondern auch zur "Emanzipation", das heißt zur Bildung und umfassenden Förderung seiner Bürger beitragen. Weitere Kernthemen wie Ökologie und Chancengleichheit wurden sowohl von den Massenmedien als auch von der etablierten Politik aufgenommen und über die Partei Die Grünen kam es schließlich zu einer Institutionalisierung entsprechender Politikziele.

Der Kontrast der jüngeren Generation zu den beiden vorangehenden Generationen könnte in dieser Hinsicht kaum größer sein: Die Jüngeren haben sich von politischen Gesellschaftsbildern weitgehend abgewendet. An ideologische Großerklärungen und gesellschaftliche Weltformeln glauben sie ohnehin nicht, da sie Erklärungen misstrauen, die das komplexe Weltgeschehen auf einen einfachen Nenner bringen. Die Parteiendemokratie interessiert sie nicht, ebenso wenig geben sie vor, die Gesellschaft revolutionieren zu wollen. Sie sind nicht politikverdrossen, sie wissen nur nicht, warum sie sich mit Dingen beschäftigen sollen, die mit ihrem eigenen Leben nichts zu tun haben. Sie bauen ganz auf eigene Kräfte und glauben, ihr zukünftiger Erfolg sei davon abhängig, sich adäquat vermarkten zu können. Was zählt, ist die Eigeninitiative – strukturelle Hindernisse spielen scheinbar keine Rolle. Die Journalistin Hannah Beitzer schreibt selbstkritisch über ihre Generation: "Wir paukten brav exotische Sprachen. Wir wählten unsere Studienfächer immer auch ein wenig mit dem Hintergedanken, ob sich damit auch Geld verdienen lässt (…). Germanistik? Dann doch lieber Lehramt. Kulturwissenschaften? Dann doch lieber Bachelor International Management."

Dass Märkte und wirtschaftliche Aktivitäten zum Hauptmotor der Gesellschaft geworden sind, wird von den Jüngeren nicht als politisches Problem gesehen, sondern als gegeben vorausgesetzt. Sie haben den neuen Geist des Kapitalismus mit seinen Grundsätzen der Aktivität und Mobilität, der Flexibilität und Beweglichkeit, der Eigenständigkeit und Selbststeuerung verinnerlicht. Aus diesem Grund haben sie der neosozialen Politik im neu formierten Sozialstaat und dem aus der Diskussion um Hartz IV geläufigen Konzept vom Fördern und Fordern wenig entgegenzusetzen. Im Gegenteil: Die Gefühle dieser Generation und der Sozialstaat ergänzen sich gut.

Weil das eigene Ich zum Referenzpunkt der Entscheidungsfindung wird, fällt es vielen schwer, umfassendere gesellschaftliche Rahmenbedingungen überhaupt wahrzunehmen. Der Fokus liegt auf dem Problem, den eigenen Weg aus vielen Optionen zu wählen und an der Schwelle zum Erwachsenenleben die richtigen Entscheidungen zu treffen, was unausweichlich das Risiko des Scheiterns impliziert. Dabei ist es gerade für diese Generation aufgrund häufigerer Jobwechsel, Stadtwechsel, Wechsel von Freundeskreisen und Partnerwechsel oft schwierig, längerfristige Ziele und Lebensprojekte zu verfolgen. Viele Lebensentscheidungen, wie etwa die Familiengründung oder der Auszug aus dem Elternhaus, werden aufgeschoben, da sie aufgrund unsicherer Erwerbsperspektiven oft als nicht realisierbar erscheinen. Dennoch haben die Jüngeren meist den Eindruck, persönlich über sehr gute Voraussetzungen zu verfügen. Nicht für gesellschaftliche Belange, sondern für das eigene Leben fühlen sich die Jüngeren verantwortlich.

Die Familie, die Partnerschaft und der Freundeskreis sind neben dem Beruf zum wichtigsten Lebensinhalt geworden. Und auch die Geschlechterrollen werden wieder traditioneller. So ist im Verlauf der 1990er Jahre der Anteil junger Männer, die sich kaum an der Hausarbeit beteiligen und sich ausschließlich von Frauen, zuerst von der Mutter, dann von der Freundin oder Ehefrau versorgen lassen, beträchtlich gestiegen.

Rückkehr zu Mitte und Mittelmaß

Die älteren Generationen betrachten die apolitische und angepasste Haltung der Jüngeren vielfach mit Herablassung, da sie diese mit ihrem eigenen Verhalten als junge Erwachsene vergleichen. Sie fragen sich, warum die Jüngeren bereit sind, bis zur Charakterlosigkeit jede Bedingung zu akzeptieren. Warum setzen sie sich gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und geringen Einstiegsgehälter nicht zur Wehr? Wieso sind sie trotz ihrer enormen Anpassungsbereitschaft nicht erfolgreich und stattdessen so lange von den Eltern abhängig? Dabei übersehen die Älteren jedoch zumeist, dass die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen heute völlig andere sind als vor 30 Jahren und dass sie sich ebenfalls verändert haben. Bildung und Wissen führen nicht mehr automatisch zu Status und Ansehen, und "postmaterialistische" Werthaltungen zahlen sich heute weder in wirtschaftlicher noch in politischer Hinsicht aus.

So taugen die einst gegenkulturellen Ideale, wie Selbstverwirklichung, Expressivität und Authentizität, wie sie von den älteren Generationen als junge Erwachsene vertreten wurden, heute nicht mehr als Orte des Widerstandes und der Gesellschaftskritik. Längst sind sie dem Kapitalismus selbst einverleibt worden und damit zu Herrschaftsinstrumenten geronnen. So verlangen Arbeitgeber insbesondere von jüngeren Mitarbeitern ganz selbstverständlich Kreativität, Begeisterungsfähigkeit und Eigenständigkeit. Doch diese Tugenden – so sehen es viele der Jüngeren – sind heute Teil des Mainstreams und nichts Besonderes mehr. Sie führen auch nicht zwangsläufig zu mehr Selbstverwirklichung im Beruf, sondern eher in die kreative Selbstausbeutung. Viele Jüngere entziehen sich deshalb dem Anspruch auf berufliche Totalverfügbarkeit. Eine gelungene Balance von Arbeit und Leben ist ihnen wichtiger als Karriere, ein hohes Einkommen oder die berufliche Selbstverwirklichung. Die Familie, das Private soll dem Beruflichen nicht untergeordnet werden.

Die Älteren fühlen sich von den Haltungen der Jüngeren oftmals provoziert. Ausgerechnet die von ihnen als junge Erwachsene abgelehnten Leitbilder der Mitte und des Mittelmaßes gewinnen für die Jüngeren heute wieder an Attraktivität. Ging es für die älteren Generationen um den Ausbruch aus der beklemmenden Provinzialität und biederen Mittelmäßigkeit bürgerlicher Lebensentwürfe, so scheinen die Jüngeren genau dahin wieder zurückkehren zu wollen – allerdings unter den Vorzeichen von Digitalisierung und Kosmopolitismus.

Doch bei genauerem Hinsehen müssten auch die Älteren zugeben, dass sich ihre gesellschaftlichen Alternativen und Utopien von damals inzwischen verbraucht haben – immer mehr Menschen haben sich von politischen Visionen verabschiedet. Dies zeigt sich in der Entwertung gerade auch alternativer Lebensformen, die sich sozialstrukturell am Verschwinden des "alternativen" Milieus in Deutschland aufzeigen lässt: Laut Sinus-Milieustudie umfasste dieses Milieu 1982 noch fünf Prozent der Bevölkerung, seit 2000 ist es gar nicht mehr feststellbar. Ein Teil davon hat sich seit den 1990er Jahren von der Protestkultur hin zum "postmodernen Milieu" entwickelt, das alternatives Leben als ästhetisches Projekt weiterführt und in die Konsumsphäre integriert, ohne damit noch einen politischen Anspruch zu verfolgen. Den Linken fehlt eine klare Zukunftsvision. Sie sind konservativ geworden.

Hinzu kommt, dass unter den Vorzeichen des beschleunigten Wandels und der Umbrüche im Erwerbssystem das einst von den Älteren so verachtete Mittelmaß seine Selbstverständlichkeit verloren hat. Es wird selbst zu einem Standard, der erreicht und gehalten werden muss: So sind die Berufsarbeit mit auskömmlichen Verdienst, der Normallebenslauf oder die "normale" Familie für viele heute alles andere als selbstverständlich, sondern selbst zu Errungenschaften geworden. Und schließlich wird das Mittelmaß für immer mehr Menschen zum Standard auch für ausgewogene Lebensentwürfe und realistische Leistungsansprüche. Zunehmend abgelehnt werden das Exzessive, der Überbietungswettbewerb, die Konkurrenz und die Beschleunigung, die zu Erschöpfungszuständen, zum vielzitierten "Burn-out" führen können.

Globalisierung als Autonomieverlust

Die Persönlichkeitsprägungen und Werthaltungen der Jüngeren sind also vor dem Hintergrund einer allgemeinen Wende hin zu konservativen Werthaltungen und Lebensmustern zu verstehen. Die gesellschaftspolitische Zurückhaltung der Jüngeren, ihr Verzicht auf Rebellion und ihr Rückzug ins Familienleben und auf Traditionen ist eine naheliegende und plausible Schutzreaktion auf hochgetriebene Ansprüche an das Individuum, die aus der Individualisierung von Lebenszusammenhängen und Existenzrisiken resultieren. Sie ist eine Reaktion auf die Auswirkungen der Globalisierung: Viele Funktionen und Regulative, die früher von Institutionen innerhalb des Nationalstaates, beispielsweise dem Wohlfahrtsstaat, den hierarchischen Organisationen, den Gewerkschaften oder den nationalen Bildungs- und Berufsverbänden übernommen worden sind, werden nun nach innen und nach außen verlagert: Nach außen auf globale oder internationale Einrichtungen; nach innen auf das Individuum. Das Individuum wird zu der Kompensationsinstanz für alles, was in der Gesellschaft nicht mehr funktioniert. Es soll die Erosion industriemoderner Strukturen und Institutionen durch eigene Initiative und Anpassungsleistungen auffangen und ausgleichen. Genau dies wird mit der sozialpolitischen Forderung nach Flexibilität und Eigenverantwortung angestrebt.

Doch für den Einzelnen ist der Anspruch auf Flexibilität und Eigenverantwortung nicht nur eine Überforderung, sondern vielfach auch mit dem Risiko der sozialen Desintegration und Entkopplung behaftet. Im Zeitalter der Globalisierung werden gesellschaftliche Rollen unpersönlicher: Patienten, Klienten, selbst Studenten wechseln aus der zugestandenen Abhängigkeit in den neutralen Status des Kunden, der eine Leistung einkauft. Sie erhalten kaum mehr Schutz, sondern sollen nun selbst wissen, was gut für sie ist. Aber die im Internet verankerten sozialen Netzwerke sowie die Projekte der flexiblen Arbeitswelt können weder Geborgenheit noch Gemeinschaft, weder Sicherheiten noch Wertorientierungen stiften. Sie vermitteln keine milieuhafte Zugehörigkeit mehr – ihre Integrationskraft bleibt gering.

Je kurzfristiger die Bindungen an Arbeitskollegen, Partner oder Freunde, desto eher kann es vorkommen, dass Ehekrisen oder berufliche Misserfolge für den Einzelnen zum Verhängnis werden, zumal sich Misserfolge in den netzwerkförmigen Strukturen der lockeren Bindungen oft in alle Richtungen ausweiten: Freunde werden rar oder erweisen sich als "falsche" Freunde. Verdachtsmomente verdichten sich zu einem Bild mangelnder Kompetenz. Neue Kontakte und Bindungen, die zusätzliche Energien kosten, sind nicht sofort zur Stelle. Gleichzeitig gilt es, die Haltung zu wahren, da eine gedrückte Ausstrahlung in den auf expressive Kompetenz getrimmten Arbeitsbereichen, in denen Begeisterungsfähigkeit und Teamfähigkeit als oberstes Gebot gelten, weitere Beschämungen und Ausgrenzungen nach sich ziehen können. Damit wächst jedoch das Risiko, in biografischen Krisen sozial verwundbar zu sein. Lebensformen werden irregulärer.

Das gesellschaftliche Netz weicht zurück – deshalb konzentrieren sich die Einzelnen wieder stärker auf die Dinge, die halten: Familienbindungen zum Beispiel. Denn in Krisensituationen sind es häufig die Eltern, Geschwister, Tanten und Onkel, Großeltern, Jugendfreunde, später die eigenen Kinder, an die man sich wendet. Deren Ressourcen können in bestimmten Situationen ausschlaggebend dafür sein, ob es in Phasen der Verwundbarkeit und der existenziellen Notlage gelingt, in der Mittelschicht zu verbleiben oder ob etwa der Ausschluss aus dem normalen Erwerbsleben mit einem sozialen Abstieg einhergeht. Pointiert formuliert: Globalisierung entlässt den Einzelnen nicht in größere Freiheit, sondern verweist ihn paradoxerweise verstärkt an seine Herkunftsbindungen und damit in die Abhängigkeit von Klasse und Stand zurück. Denn die Ressourcen der Herkunftsfamilie werden in Zukunft voraussichtlich noch wichtiger für die Zuteilung von Lebenschancen. Dies gilt insbesondere auch in finanzieller Hinsicht. Vermögende Eltern können ihre Kinder ein Leben lang – auch in Krisenzeiten – unterstützen. Dadurch wird der Abstand zwischen den Privilegierten und Unterprivilegierten größer: Meist konzentrieren sich Vermögen in den ohnehin schon privilegierten Schichten, was soziale Ungleichheiten in der Kindergeneration vergrößert.

Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit: Beschleunigung und Flexibilisierung sind Übergangs- und Durchgangsphänomene. Die globale Netzwerkgesellschaft führt nicht zur Aufhebung, sondern zur Privatisierung von Abhängigkeit und damit auch zur Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich. Eine Politik, die Flexibilität und Beschleunigung als das Merkmal der globalen Gesellschaftsordnung ausgibt, täuscht sich daher über den institutionellen Fundierungsbedarf dynamischer und fragmentierter Gesellschaften. In der alten Bundesrepublik konnte die kollektive Fundierung einer unabhängigen Lebensführung nur deshalb verborgen bleiben, da die Strukturen von Sozialstaat und Lohnarbeitsgesellschaft, mitsamt den Flächentarifverträgen, den Berufsverbänden und den Standardlebensläufen, zugleich einen "kollektiven Individualismus" etablierten. Heute müssen Familie und Herkunftsmilieu diese Fundierungsleistung übernehmen. Deshalb ist es nur plausibel, wenn die Jüngeren heute wieder konservativ werden und sich auf Familie und Traditionen besinnen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Herbert Henzler, Raus aus der Komfortzone, in: Handelsblatt vom 11.3.2013, S. 48.

  2. Vgl. "Spiegel"-Umfrage: Wir Krisenkinder. Wie junge Deutsche ihre Zukunft sehen, in: Der Spiegel, Nr. 25 vom 15.6.2009, S. 48–59.

  3. Vgl. Klaus Hurrelmann/Mathias Albert, Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck. 15. Shell-Jugendstudie, Frankfurt/M. 2006, S. 39; dies./Gudrun Quenzel, Jugend 2010. 16. Shell-Jugendstudie, Frankfurt/M. 2010.

  4. Vgl. Jutta Rump/Silke Eilers, Die jüngere Generation in einer alternden Arbeitswelt. Baby Boomer versus Generation Y, Sternfels 2013, S. 115.

  5. Vgl. Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, Neuwied–Berlin 1970, S. 509–565.

  6. David Bebnowski, Generation und Geltung. Von den "45ern" zur "Generation Praktikum" – übersehene und etablierte Generationen im Vergleich, Bielefeld 2012.

  7. Die Arbeitslosenquote der 16- bis 24-Jährigen ist stark angestiegen. 2006 betrug sie 28 Prozent – sechs Jahre vorher waren es nur 16 Prozent gewesen. Und der Einkommensunterschied zwischen 30- und 50-jährigen Deutschen stieg im gleichen Zeitraum von 15 auf 40 Prozent. Vgl. Frauke Austermann/Branko Woischwill, Generation P: Von Luft und Wissen leben?, in: Michael Busch/Jan Jeskow/Rüdiger Stutz (Hrsg.), Zwischen Prekarisierung und Protest. Die Lebenslagen und Genrationsbilder von Jugendlichen in Ost und West, Bielefeld 2010, S. 275–304, hier: S. 280.

  8. Vgl. K. Hurrelmann/M. Albert (Anm. 3), S. 32.

  9. Vgl. Keine Wut im Bauch. Interview mit Klaus Hurrelmann, in: Die Zeit, Nr. 36 vom 1.9.2011, S. 73f.

  10. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Frauen und Männer in verschiedenen Lebensphasen, Wiesbaden 2010, S. 10.

  11. Vgl. Martina Gille et al., Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland. Lebensverhältnisse, Werte und gesellschaftliche Beteiligung 12- bis 19-Jähriger, Wiesbaden 2006, S. 120ff.

  12. Vgl. Michael Vester et al., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt/M. 2001, S. 398.

  13. Vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt/M. 2014, S. 44.

  14. Vgl. ebd., S. 572ff.

  15. Vgl. "Spiegel"-Umfrage (Anm. 2).

  16. Vgl. J. Rump/S. Eilers (Anm. 4), S. 163.

  17. Hannah Beitzer, Wir wollen nicht unsere Eltern wählen. Warum Politik heute anders funktioniert, Reinbek 2013, S. 65.

  18. Vgl. D. Bebnowski (Anm. 6), S. 204ff.

  19. Von den 20- bis 25-jährigen Männern waren es 1991/1992 55 Prozent, die die Zubereitung von Mahlzeiten sowie das Tischdecken und die Geschirrreinigung durchweg weiblichen Personen aus ihrer Herkunftsfamilie oder ihren Partnerinnen überlassen haben. Zehn Jahre später (2001/2002) ist dieser Anteil sogar auf 72 Prozent angestiegen. Die Tatsache, dass sich über zwei Drittel der jungen Männer in diesem Alter fast vollständig versorgen lassen, untermauert, dass die in der öffentlichen Diskussion häufig vertretene These nicht haltbar ist, wonach sich tradierte Rollenmuster in der jüngeren Generation allmählich auflösen. Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Siebter Familienbericht 2006, S. 217.

  20. Vgl. Luc Boltanski/Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.

  21. Vgl. Hermann Kotthof/Alexandra Wagner, Die Leistungsträger. Führungskräfte im Wandel der Firmenkultur. Eine Follow-up-Studie, Berlin 2008.

  22. Vgl. Stefan Hradil/Holger Schmidt, Angst und Chancen. Zur Lage der gesellschaftlichen Mitte aus soziologischer Sicht, in: Herbert-Quandt-Stiftung (Hrsg.), Zwischen Erosion und Erneuerung. Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland. Ein Lagebericht, Frankfurt/M. 2007, S. 163–226, hier: S. 215.

  23. Vgl. Cornelia Koppetsch, Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die verunsicherte Mitte, Frankfurt/M. 2013, S. 7ff.

  24. Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft und die Transnationalisierung sozialer Ungleichheiten, in: ders./Angelika Poferl (Hrsg.), Zur Transnationalisierung sozialer Ungleichheit, Frankfurt/M. 2010, S. 25–52, hier: S. 28.

  25. Vgl. Stephan Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2008.

  26. So zeigt sich, dass 2007 das reichste Zehntel über mehr als 60 Prozent des gesamten Vermögens verfügte. Darunter besaßen die obersten fünf Prozent 46 Prozent des Vermögens. Gegenüber den vorangehenden Jahren hat die Konzentration der Nettovermögen weiter zugenommen. Vgl. Joachim R. Frick/Markus Grabka, Gestiegene Vermögensungleichheit in Deutschland, DIW-Wochenbericht, 76 (2009) 4, S. 54–67, hier: S. 59. Vgl. auch Martin Kohli, Von der Gesellschaftsgeschichte zur Familie. Was leistet das Konzept der Generationen?, in: Frank Lettke/Andreas Lange (Hrsg.), Generationen und Familien, Frankfurt/M. 2007, S. 47–95; Marc Szydlik/Jürgen Schupp, Wer erbt mehr? Erbschaften, Sozialstruktur und Alterssicherung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 56 (2004), S. 609–629.

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Dr. phil., geb. 1967; Professorin für Geschlechterverhältnisse, Bildung und Lebensführung am Institut für Soziologie, TU Darmstadt, 64283 Darmstadt. E-Mail Link: koppetsch@ifs.tu-darmstadt.de