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8. Mai 1945: Eine internationale Perspektive | 70 Jahre Kriegsende | bpb.de

70 Jahre Kriegsende Editorial 8. Mai 1945: Eine internationale Perspektive Ewiger Frieden? Zur Bedeutung und Haltbarkeit von Nachkriegsordnungen Zwischenzeit 1945 bis 1949. Über jüdische und andere Konstellationen Kriegsende in Frankreich Mythos "Trümmerfrau": deutsch-deutsche Erinnerungen Wehrmachts- und Besatzungskinder: Zwischen Stigmatisierung und Integration Der Frankfurter Auschwitz-Prozess. Ein Rückblick 50 Jahre nach dem Urteil Das Kriegsende als Erinnerungsort der extremen Rechten

8. Mai 1945: Eine internationale Perspektive

Richard Overy

/ 17 Minuten zu lesen

Der 8. Mai 1945 markiert zwar das Kriegsende, doch wurde er nicht überall als befreiend wahrgenommen. In Osteuropa begann mit der "Befreiung" die Unterordnung unter sowjetische Herrschaft.

Wenige Wochen nach der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 schrieb Thomas Mann in einem Brief aus dem kalifornischen Exil, die Deutschen sollten "sich jetzt nicht in erster Linie als Deutsche, sondern als Menschen fühlen, die es nicht zur Selbstbefreiung gebracht haben, sondern durch äußere Mächte zur Menschheit zurückgeführt werden mußten". Er sah die Zukunft Deutschlands zwar pessimistisch, erkannte in der Niederlage aber auch die Chance für einen Neuanfang. "Deutschland treibe Dünkel und Haß aus seinem Blut", schrieb er ein paar Monate später an den Schriftsteller Walter von Molo, "es entdeckt seine Liebe wieder, und es wird geliebt werden".

Mann sah also im Augenblick der Niederlage, der offiziell auf den 8. Mai, 23.01 Uhr festgelegt wurde, eine "Stunde Null": sowohl ein Ende als auch einen Anfang. Dies war eine durchaus verständliche Perspektive auf die Niederlage. Die meisten Deutschen wollten nicht zu den Unbilden der Diktatur und eines desaströsen Krieges zurück. Die katastrophalen Verhältnisse im besiegten Deutschland zwangen die Menschen, das Überleben in den Mittelpunkt zu stellen und zu hoffen, dass sich die Lage nicht verschlimmern würde. Beobachtern von außen fiel die Fähigkeit der deutschen Bevölkerung auf, ständig in der Gegenwart zu leben, besessen vom "tagtäglichen Kampf um die Existenz", wie der Historiker Richard Bessel schrieb. Die Zerstörung deutscher Städte schuf das, was der englische Dichter Stephen Spender, der im Sommer 1945 nach Deutschland gesandt wurde, corpse-towns nannte – "Leichenstädte", in denen die Bürger "auf einer Stufe niederen mechanischen Lebens" weiter existierten, verwurzelt in einem verbreiteten Nihilismus. "Hier wurde alles angehalten", schrieb er, "jenes Ineinanderfließen von Vergangenheit und Gegenwart".

Außerhalb Deutschlands war der Tag der deutschen Niederlage ein Moment des Sieges. In weiten Teilen Europas wurde das Kriegsende zudem als ein echter Bruch mit der Vergangenheit wahrgenommen, der dem Kontinent in vielerlei Hinsicht – international, politisch, sozial und kulturell – einen Neuanfang ermöglichen würde. Die Vorkriegsjahre der Diktatur, den gewaltsamen Imperialismus, die wirtschaftliche Not und den Kulturpessimismus – all das hoffte man hinter sich zu lassen. Die britische Pazifistin Ruth Fry schrieb 1945, dass Europa nun eine tabula rasa habe, auf der eine "schöne neue Welt" (brave new world) aufgebaut werden könne: "Alles ist zerschlagen. Wir stellen uns ein leeres Blatt Papier vor." Auch dies war eine verständliche Hoffnung nach sechs Jahren globalen Krieges, der auf einem größeren Gebiet und mit größerer Gewalt geführt worden war als jeder vorherige Krieg in der Geschichte. Das Vereinigte Königreich war allerdings die einzige europäische Kriegspartei, die tatsächlich am 8. Mai das Kriegsende feierte.

Verschiedene "Tage des Sieges"

Die Kapitulation wurde in den frühen Morgenstunden des 7. Mai (um 1.41 Uhr) im Hauptquartier des Oberbefehlshabers der Westalliierten, Dwight D. Eisenhower, in Reims unterzeichnet; offiziell enden sollten die Kampfhandlungen aber erst am 8. Mai um 23.01 Uhr (0.01 Uhr mitteleuropäischer Zeit). General Eisenhower schlug vor, dass die drei Hauptalliierten – USA, Russland und das Vereinigte Königreich – die Kapitulation am 8. Mai zeitgleich um 15 Uhr bekanntgeben sollten, mit dem 9. Mai als offiziellem Tag des Kriegsendes in Europa (VE Day, kurz für Victory in Europe). Stalin war jedoch unzufrieden, dass das Oberkommando der deutschen Wehrmacht in Frankreich nur gegenüber den Westalliierten kapituliert hatte, und forderte eine gemeinsame Zeremonie der Hauptalliierten in Berlin, die für den Abend des 8. Mai angesetzt wurde. So empfahl Eisenhower, nichts bekanntzugeben, solange die Russen nicht zufrieden wären.

Am 8. Mai schlug der Chef des Operationsstabs der Roten Armee, Alexei Antonow, den Westalliierten schließlich vor, jegliche Erklärung einer Kapitulation bis zum Abend des 9. Mai zu verschieben, da es keinerlei Hinweis darauf gebe, dass deutsche Soldaten die Kampfhandlungen in Osteuropa beenden würden.

Doch war es unmöglich, die Nachricht von der bedingungslosen Kapitulation zu unterdrücken. Graf Schwerin von Krosigk, Außenminister in der Regierung des Hitler-Nachfolgers Karl Dönitz, gab sie in einer Radiosendung am Nachmittag des 7. Mai bekannt; noch am selben Abend waren in London jubelnde, fahnenschwingende Menschen auf den Straßen. Churchill entschied, die sowjetischen Befürchtungen zu ignorieren, und bestätigte am folgenden Tag inmitten von Freudenfeiern die deutsche Kapitulation. Für das Vereinigte Königreich und das britische Empire war der 8. Mai VE Day, und im öffentlichen Gedenken an das Kriegsende in Europa ist er das geblieben.

In anderen Ländern wurde das Kriegsende an anderen Tagen gefeiert. Die Nachricht der Kapitulation erreichte New York am frühen Morgen des 7. Mai, und mittags feierten etwa eine halbe Million Menschen den Sieg auf den Straßen von Manhattan. Der Tag wurde zu einer spontanen Feier des alliierten Erfolgs in Europa, gedämpft jedoch durch das Bewusstsein, dass der Krieg im Pazifik noch unvermindert anhielt. In den Vereinigten Staaten wurde der Tag der japanischen Kapitulation, der 15. August 1945, zum eigentlichen Siegestag.

Die Sowjetunion blieb bei der Entscheidung, die Kapitulation nicht vorzeitig bekanntzugeben, und der 9. Mai wurde offiziell als der Tag des Sieges verkündet, nachdem Feldmarschall Keitel – wie von Stalin gewünscht – im Namen des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht auf der Kapitulationszeremonie am Vorabend seine Unterschrift geleistet hatte. In Moskau versammelten sich geschätzte zwei Millionen Menschen, um den Sieg mit tausend Salutschüssen und einer Luftparade mit Hunderten von Flugzeugen, die den Himmel mit leuchtenden Farben überzogen, zu feiern. Der 9. Mai 1945 ist seither in Russland ein eminent wichtiger Gedenk- und Feiertag geblieben.

In Italien – zunächst ein Feindstaat, der dann an der Seite der Alliierten kämpfte – hatten die Deutschen am 2. Mai kapituliert, aber die Tage der Befreiung von deutscher Besatzung waren für die meisten Italiener bereits der 25. und 26. April, als die italienischen Partisanenbrigaden die Kontrolle über die Großstädte übernahmen. Im öffentlichen Gedächtnis ist der 25. April der Tag der Befreiung – weder das offizielle Ende der Kampfhandlungen in Italien am 2. Mai noch die Verkündung der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai haben eine vergleichbare Bedeutung.

Sowjetische Deutungen des Kriegsendes

Dass der Sieg in Europa an unterschiedlichen Tagen gefeiert wurde (und wird), ist kein Zufall. Die gewählten Daten spiegeln eine bestimmte Sicht auf die jeweiligen Kriegserfahrungen wider. Das sowjetische Oberkommando etwa hielt den eigenen Beitrag für das wichtigste Element bei der Bezwingung Deutschlands, und zahlreiche Historiker teilen diese Meinung. Stalin wollte daher, dass die deutsche Kapitulation nicht auf ehemals besetztem Gebiet stattfindet, sondern in Berlin, "dem Ort, von dem die faschistische Aggression ausging".

Für die Sowjetunion war der "Große Vaterländische Krieg" etwas Eigenständiges, ein Wettstreit zwischen Russland und Deutschland, der in gewissem Sinne mit dem übrigen, größeren Krieg und mit den Opfern der anderen Alliierten nichts zu tun hatte. In seiner Siegesrede am 9. Mai erwähnte Stalin die Westalliierten kaum, tat die Unterzeichnung in Reims als "vorläufiges Kapitulationsprotokoll" ab und verkündete: "Der jahrhundertelange Kampf der slawischen Völker hat mit dem Sieg über die deutschen Okkupanten und die deutsche Tyrannei geendet." Sowjetische und deutsche Streitkräfte setzten an Teilen der Front ihre Kämpfe weitere drei Tage lang fort, was Antonows Befürchtungen, die bedingungslose Kapitulation würde nicht sofort umgesetzt werden, bestätigte.

Am Ende des Krieges, nach vier Jahren unerbittlicher Kämpfe, war die Sowjetunion ein zerstörtes Land. Die Zahl der sowjetischen Todesopfer war 1945 nicht in vollem Umfang bekannt; sie ist seitdem auf 20 bis 27 Millionen geschätzt worden. Manche starben an Hunger, Mangelernährung oder Krankheiten aufgrund der kriegsbedingten Lebensbedingungen oder der staatlichen Politik, aber die neun Millionen gefallenen Soldaten und die im Zuge des Antipartisanenkrieges getöteten Millionen waren dem Krieg direkt zuzuschreiben. Die verheerende Zerstörung sowjetischer Städte und Dörfer war nicht nur das Ergebnis von Kampfhandlungen, sondern auch zweier aufeinanderfolgender Wellen einer Politik der verbrannten Erde: zunächst beim Rückzug der Roten Armee 1941, dann bei dem der Wehrmacht 1943 und 1944.

Die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung berichtete stets von der Zerstörung von 1700 Städten und 70000 Dörfern. Bislang gibt es keine Möglichkeit, diese Zahlen zu bestätigen, aber die fotografischen Belege dessen, was von Charkiw (Charkow), Stalingrad oder Kiew übrig blieb, verdeutlichen das enorme Ausmaß der Zerstörung. Die Sowjets machten den Verlust von 32000 Fabriken geltend – eine Zahl, die nach dem Krieg genutzt wurde, um die großflächigen Beschlagnahmungen auf deutschem Territorium 1945/46 als Reparationen zu rechtfertigen. Bahnlinien wurden zerrissen, Brücken zerstört; für Millionen Menschen in der Ukraine und Belarus bestand die Energieversorgung 1945 aus dem wenigen Holz, das noch aufzutreiben war. Im Jahr des Kriegsendes waren in den ehemals deutsch besetzten Gebieten 25 Millionen Menschen ohne Obdach. In diesem Sinne war der Sieg für die Sowjetunion eine bittersüße Angelegenheit.

Der lange Prozess des Wiederaufbaus nach dem Krieg erfolgte unter Lebensbedingungen, die noch schlimmer waren als in den schwierigen 1930er Jahren. In Leningrad war der Arbeitseinsatz für den Wiederaufbau der Stadt zusätzlich zur normalen Arbeitszeit verpflichtend vorgeschrieben: zehn Stunden pro Monat für Jugendliche, 30 Stunden für Berufstätige und 60 Stunden für den Rest der hauptsächlich weiblichen Bevölkerung.

Stalin sah im Krieg eine "Prüfung für das gesamte sowjetische System"; entsprechend diente der Krieg im öffentlichen Geschichtsbild als Mittel, um den Sowjetkommunismus gegenüber der Bevölkerung zu legitimieren – insbesondere gegenüber der ostmitteleuropäischen. In den 1960er Jahren wurde der 9. Mai zum Nationalfeiertag, der als Gründungstag der modernen Sowjetunion feierlich begangen wurde. Im öffentlichen Diskurs wurde der Tag des Sieges 1945 bedeutender als die Feiern anlässlich der bolschewistischen Revolution am 7. November, und er wird auch heute im postkommunistischen Russland begangen.

Dass der 9. Mai schon früh einen solchen Stellenwert erlangte, ist zum einen auf die Möglichkeiten zurückzuführen, das Kriegsgedenken zur Stärkung des Personenkults um Stalin zu nutzen (im Unterschied zum früheren Kult um Lenin); zum anderen darauf, dass der Tag zu einem Symbol des Kalten Krieges wurde, in dem die einstmals Verbündeten in Bezug auf das Ende und die Folgen des Zweiten Weltkrieges zu sehr unterschiedlichen Interpretationen gelangten.

Schon im Mai 1945 wurde im sowjetischen Oberkommando der Verdacht gehegt, dass die deutsche Kapitulation gegenüber den Westalliierten in Italien und dann in Reims eine Absicht ebenjener Mächte verschleiern könnte, sich mit Deutschland für einen antikommunistischen Kreuzzug in Osteuropa zusammenzutun. Und Churchill hatte in der Tat weitere kommunistische Landgewinne verhindern wollen: zunächst durch sein Beharren darauf, dass die Briten Triest besetzten, bevor Titos Partisanen dies tun konnten; dann durch seine Weigerung, einem Termin für eine gemeinsame Erklärung zur deutschen Niederlage zuzustimmen – in der Hoffnung, dass die amerikanische Armee die von ihr eingenommenen Gebiete in Ostdeutschland, die zur vereinbarten sowjetischen Zone gehörten, würde halten können. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang auch daran zu erinnern, dass die Bundesrepublik nur zehn Jahre später zum westlichen Sicherheitssystem gehörte, das gegen die Sowjetunion errichtet wurde.

Im Zwiespalt: Italien, Frankreich, Osteuropa

Dass in Italien nicht der 8. Mai, sondern der 25. April gefeiert wird, liegt ebenfalls in der Politik der Kriegs- und Nachkriegszeit begründet. Am 25. April 1945 begann die italienische Partisanenbewegung auf Anweisung des antifaschistischen Comitato di Liberazione Nazionale (CLN, Komitee der nationalen Befreiung) eine Reihe von Aufständen in den norditalienischen Städten, die immer noch von deutschen und italienischen Faschisten kontrolliert wurden. Mailand, Genua, Turin und Bologna wurden alle kurz vor Eintreffen der Alliierten von Partisanen befreit. Diesen lag sehr daran, die Rolle der Befreier einnehmen zu können, da sie sich davon eine Beteiligung am politischen Wiederaufbau des Landes erhofften. Für viele Italiener war der Sieg über den italienischen Faschismus genauso wichtig wie der über die deutschen Besatzer, und noch Monate nach der endgültigen Kapitulation setzte sich die Gewalt gegen Mitarbeiter und Führungskräfte der Faschistischen Partei und der berüchtigten brigate nere (schwarze Brigaden) fort.

Die Feiern zum alliierten Sieg im Mai waren offenkundig von gemischten Gefühlen begleitet: Die Partisanen wollten sich nicht – wie von den Alliierten vorgesehen – entwaffnen lassen, um den Bürgerkrieg gegen die Faschisten weiterführen zu können; zugleich hielten viele italienische Zivilisten den Preis für die Befreiung, nämlich die Verluste durch die großflächigen Bombardements in Mittel- und Norditalien, für zu hoch. Hunderte Dörfer und weite Gebiete der Großstädte waren durch Luftangriffe zerstört worden. Mehr als 60000 Italiener waren dabei zu Tode gekommen, während weitere Tausende dem Beschuss entlang der nach Norden rückenden Frontlinie zum Opfer gefallen waren. Die Folgen der Zerstörungen dieses Ausmaßes waren die Rückkehr von Epidemien und weitverbreiteter Hunger. Die schlechten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, gepaart mit einem Misstrauen gegenüber den Absichten der Alliierten, gaben dem Sieg einen sauren Beigeschmack – trotz der Erleichterung über das Ende der Kämpfe. Die Italiener fanden sich, mit den Worten des Historikers Guido Crainz, zwischen "einer schweren Vergangenheit und einer sehr unsicheren Zukunft" wieder.

Dieselbe Ambivalenz kennzeichnete die Reaktionen auf den 8. Mai in Frankreich. Mit Ausnahme derjenigen, die mit dem Vichy-Regime und den deutschen Besatzern kollaboriert hatten, war für die französische Bevölkerung die Befreiung 1944 bedeutsamer als das Ende des Krieges am 8. Mai im Jahr darauf, was im öffentlichen französischen Gedenken auch so geblieben ist. Zu den Kosten des Sieges über die deutschen Streitkräfte zählte der Tod weiterer 60000 Zivilisten durch Bombardements und die Zerstörung – teilweise sogar Auslöschung – zahlreicher Städte im Norden und Westen Frankreichs, darunter Le Havre, Brest, Lorient, Nantes und Caen. Im Januar 1945 flogen die Alliierten drei sehr große Angriffe gegen die Stadt Royan nahe Bordeaux, wo sich die deutsche Besatzung 1944 geweigert hatte, zu kapitulieren. Etwa 7000 Tonnen Bomben wurden auf eine winzige Fläche abgeworfen, 85 Prozent der Stadt wurden ausradiert. Die Folge dieser letzten Strafangriffe, als Deutschland offenkundig bereits am Rande der Niederlage stand, war eine Entfremdung der französischen Öffentlichkeit von der angloamerikanischen Kriegführung. Nach der Kapitulation am 8. Mai wurden die Franzosen nur als Zeugen zur Unterzeichnungszeremonie nach Berlin eingeladen, nicht als Hauptunterzeichner (tatsächlich war dies jedoch auch der Fall beim ranghöchsten anwesenden amerikanischen Vertreter, General Carl Spaatz).

Ausgerechnet am 8. Mai griffen algerische Rebellen in Sétif die europäische Bevölkerung während ihrer Vorbereitungen für die Siegesfeiern an und töteten 28 Menschen – eine Erinnerung an Frankreichs belastete imperiale Vergangenheit und ein Vorbote einer noch schwierigeren Zukunft. In der Folge schlug die französische Kolonialmacht mit aller Härte zurück. Der Wunsch, die Befreiung als einen echten Gründungsmoment anzusehen, der einen klaren Bruch mit den Appeasement-Befürwortern und den Kryptofaschisten der 1930er und der Kriegsjahre markiert, stand in Frankreich in den Jahren seit 1945 im Wettstreit mit dem Verlangen nach Ehrlichkeit im Umgang mit den schwierigen Teilen der eigenen Vergangenheit, sowohl vor als auch nach 1945. Deutschland ist nicht das einzige Land mit dem Problem der "Vergangenheitsbewältigung"; auch Frankreich hatte seine crise d’histoire.

Zwiespältige Gefühle waren auch in den von der Roten Armee befreiten ostmitteleuropäischen Ländern weitverbreitet, wo die Befreiung angesichts der drohenden sozialen und wirtschaftlichen Revolution unter sowjetischen Vorzeichen meist als ihr Gegenteil wahrgenommen wurde. Die Kosten des Krieges in diesen Gebieten, vom Historiker Timothy Snyder als "Bloodlands" bezeichnet, waren außergewöhnlich hoch, weil sie vielfach zweimal im Kampf erobert wurden: erst zu Beginn des Krieges durch die angreifenden deutschen Truppen und dann von der sowjetischen Armee in ihren letzten großen Offensiven. Für die ehemaligen Achsenmächte – Ungarn, die Slowakei, Rumänien, Bulgarien – war der Tag des Sieges im Mai 1945 von relativ geringer Beteutung, obwohl drei von ihnen die Seiten gewechselt hatten.

Sogar in Jugoslawien, das von Guerillas unter kommunistischer Führung befreit worden war, wurde der Sieg als doppelbödig empfunden. Tausende jugoslawischer Frauen wurden von sowjetischen Soldaten vergewaltigt, wie auch Frauen und Mädchen in Ungarn und Polen. Tito konnte keinesfalls sicher sein, dass die Rote Armee nicht bleiben und Jugoslawien eine stalinistische Lösung aufzwingen würde. Da es nicht möglich war, die neuen sowjetischen Machthaber davonzujagen, ist der Reiz, der von der Möglichkeit ausging, zumindest die nun machtlosen noch in Ostmitteleuropa lebenden Deutschen zu vertreiben, leicht nachzuvollziehen. Geschätzte 13 Millionen wurden gezwungen, sich als Flüchtlinge auf deutsches Gebiet zu begeben.

Anderswo dauerten die Kampfhandlungen auch lange nach dem offiziellen Kriegsende noch an. In den baltischen Staaten, Polen, der Slowakei und der Ukraine wurden antisowjetische Widerstandsbewegungen aktiv und setzten den Krieg als eigene Befreiungskriege fort. Der Historiker Alexander Statiev hat berechnet, dass zwischen 1944 und 1946 in den westlichen Randgebieten des sowjetischen Imperiums 133000 Menschen wegen antisowjetischen Widerstands getötet und 194000 festgenommen wurden. In der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland bestand der "Entnazifizierungsprozess" aus der Festnahme und Inhaftierung von 123000 Menschen, von denen 43000 in Gefangenschaft starben. Wer als politische oder soziale Bedrohung der kommunistischen Zukunft galt, wurde festgenommen, deportiert oder getötet. Tausende mussten die Enteignung ihrer Grundstücke und Betriebe hinnehmen. Die Hypothek der sowjetischen Nachkriegsherrschaft wurde erst 1990 abgelegt, in dem Jahr, als eine tatsächliche Befreiung im Sinne von 1945 endlich erreicht wurde.

Deutschland: Ein Neuanfang?

Wie stellte sich all dies nun im Falle Deutschlands dar? Als britische und amerikanische Beamte und Kulturbotschafter im Mai 1945 in Deutschland eintrafen, gab es einerseits die Befürchtung, es könne eine deutsche Widerstandsbewegung geben, andererseits die Erwartung, dass viele Deutsche die Erlösung vom Krieg als befreiend empfinden und den Alliierten für den Sieg dankbar sein würden. Diese Erwartung war jedoch naiv. Die ersten Kontakte zeigten, dass Verbitterung über die Niederlage durchaus verbreitet war; die Besucher registrierten weitaus weniger Reue, als sie erwartet hatten, stattdessen sogar das starke Empfinden unter Deutschen, selbst Opfer zu sein – was für unangebracht gehalten wurde.

Stephen Spender, der beauftragt war, deutsche Professoren über die Zukunft zu befragen, traf auf viele gebildete Deutsche, die einen Krieg zwischen der Sowjetunion und dem Westen erwarteten. Sie sahen im 8. Mai eher ein Intermezzo zwischen der Gewalt, nicht deren Ende. Spender fand sogar Deutsche, die hofften, die britische Zone könnte ein Herrschaftsgebiet unter dem britischen Empire werden – was 1944/45 vom Political Warfare Executive in Deutschland verbreitete Propagandabotschaften widerspiegelte, in denen die Deutschen ermuntert worden waren, durch die Anerkennung bestimmter britischer Werte und Leistungen "britischer" zu werden.

Die Schwierigkeiten der Alliierten, die Einstellungen der Deutschen im Mai 1945 zu verstehen, sind zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass sie die Gesellschaft recht undifferenziert betrachteten. Die Antworten auf die Frage, was der 8. Mai symbolisiere, hing 1945 von den Lebensumständen, der politischen Einstellung und den persönlichen Erwartungen der jeweils Befragten ab; es gab in dem Sinne nicht "den Deutschen".

Spätestens mit den gegen Kriegsende geheim mitgeschnittenen Gesprächen deutscher Kriegsgefangener hätte klar sein müssen, dass es unterschiedliche Einstellungen gab. In einer Sammlung von Transkriptionen mit dem Titel "What is the German Saying?" ("Was sagt der Deutsche?"), werden diese Unterschiede deutlich. So konstatierte ein Soldat im Gespräch mit seinen Kameraden: "Eins steht fest, wir sind immer noch die Herrenrasse." Und ein anderer behauptete: "Es wird 30 Jahre dauern, bis wir wieder Krieg führen können." Ein junger Unteroffizier, der an der italienischen Front gefangen genommen worden war, vertrat hingegen eine ganz andere Sichtweise: "Was haben wir wirklich vom Leben? Mitten im Krieg geboren, Kinder während der Inflation, zur Schule in der Depression, unser Leben in den letzten zehn Jahren vom Nazismus und der Armee bestimmt, und jetzt Gefangene. Was ist das für ein Leben? Ist es nicht besser, in einem freien Land zu leben, wo man eine andere Regierung wählen kann, wann immer man will? Es ist nicht Freiheit, für die wir jetzt kämpfen; es ist für eine aussichtslose Sache."

Die Meinungen zum Krieg und zur Niederlage gingen in der deutschen Bevölkerung im Mai 1945 weit auseinander, je nach Geschlecht, Region und Klasse. Millionen Deutsche, tatsächlich eine Mehrheit, hatten 1932 nicht für die NSDAP gestimmt; Millionen Deutsche, wären sie gefragt worden, wollten 1939 keinen Krieg, und auch nicht seine Ausdehnung auf die Sowjetunion 1941. Geheime Polizeiberichte konnten wenig der Begeisterung feststellen, die 1914 bei Kriegsbeginn an den Tag gelegt wurde, und Hitlers Popularität erreichte im Juli 1940 ihre Spitze, als viele hofften, dass die Niederlage Frankreichs unmittelbar bevorstehenden Frieden bedeute.

Diese Millionen wollten im Mai 1945 einen Neuanfang, denn es gab keine Alternative zum Weg nach vorn. Es ist bezeichnend, dass bald vom "Neubau" deutscher Städte gesprochen wurde, nicht vom "Wiederaufbau", was das Verlangen nach einer Rückkehr in die Vergangenheit hätte anklingen lassen. Aus alliierter Sicht stellte diese Haltung einen vorsätzlichen Gedächtnisschwund dar, um sich vor der Verantwortung drücken zu können. Die alliierten Autoritäten waren zudem beeinflusst vom Unvermögen der Deutschen, sich durch einen Sturz des Regimes selbst zu befreien.

Diese Erwartung hatte dem eskalierenden Bombenkrieg jedoch zugrunde gelegen: Die Kriegführung gegen Deutschland basierte auf der Annahme, dass es einen Volksaufstand geben müsse, wenn die Bombardierungen enden sollten – obwohl die verfügbaren Geheimdienstinformationen zeigten, wie unwahrscheinlich dies angesichts des Terrorregimes in den letzten Kriegsjahren war. Im Februar 1945 schmuggelte eine für den britischen Geheimdienst arbeitende Agentin einen Bericht aus der Rhein-Ruhr-Region, in dem sie den naiven Glauben der Alliierten, Deutschland im Jahr 1945 sei wie Deutschland im Jahr 1918, stark kritisierte: "Aus der Erkenntnis, dass ein Umsturz von innen heraus nicht möglich ist, ist die oppositionelle Bevölkerung über die Propaganda im englischen Rundfunk, die immer wieder zum Sturz Hitlers auffordert, ungehalten, wenn nicht empört (…) Man kann nicht verstehen, dass in England solch grosse Unkenntnis über die wirkliche Lage in Deutschland herrscht."

Natürlich war es auch enthusiastischen Anhängern des Hitler-Regimes oder Tätern im Terror- und Verfolgungsapparat nach dem Krieg möglich, jegliche direkte Verantwortung zu leugnen, sich hinter der Maske vorgetäuschten Nonkonformismus zu verstecken und damit eine Bestrafung zu vermeiden. Wie gut sich diejenigen, die in irgendeiner Funktion für das Regime tätig gewesen waren, nach 1945 in beiden deutschen Staaten reintegrieren konnten, ist hinlänglich bekannt. Aber ebenso ist die Feststellung richtig, dass weder die Bundesrepublik noch die DDR auf dem Fundament der abgeschafften NS-Ordnung und ihrer diskreditierten Eliten hätte aufgebaut werden können. Es gab mehr als genug Deutsche, die gewährleisteten, dass die in den 1950er Jahren entstehenden Systeme nachweislich anders waren als die Politik der Ressentiments und der Diskriminierung, die in den 1930er Jahren die nationalsozialistische Diktatur angetrieben hatte (auch wenn sich die DDR ihrerseits durch zahlreiche unerträgliche Praktiken als Diktatur erwies).

Insofern sei an den Schluss von Thomas Manns eingangs zitierten Brief an von Molo erinnert: "Man höre doch auf, vom Ende der deutschen Geschichte zu reden!", schrieb er im September 1945. "Deutschland ist nicht identisch mit der kurzen und finsteren geschichtlichen Episode, die Hitlers Namen trägt. (…) Es ist im Begriffe, eine neue Gestalt anzunehmen, in einen neuen Lebenszustand überzugehen, der vielleicht nach den ersten Schmerzen der Wandlung und des Übergangs mehr Glück und echte Würde verspricht, der eigensten Anlagen und Bedürfnissen der Nation günstiger sein mag als der alte." In diesem Sinne war der 8. Mai 1945 als Ende und Anfang in Deutschland durchaus bedeutsamer als anderswo in Europa.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Briefe von Thomas Mann an Victor Reissner vom 12. Juli 1945 und an Walter von Molo vom 7. September 1945, in: Erika Mann (Hrsg.), Thomas Mann. Briefe, Bd. 2: 1937–1947, Frankfurt/M. 1963, S. 435, S. 447.

  2. Richard Bessel, Germany 1945: From War to Peace, London 2009, S. 6.

  3. Stephen Spender, Deutschland in Ruinen, übersetzt und mit einer Einleitung von Joachim Utz, Heidelberg 1995, S. 39 (engl. Originalausgabe: European Witness, London 1946, S. 23f.).

  4. A. Ruth Fry, 1945: Annus Mirabilis (private Publikation), o.O. 1945, S. 5.

  5. Vgl. The National Archives (TNA), London, WO 106/4449A, Eisenhower to Combined Chiefs of Staff, 7 May 1945; Eisenhower to British Chiefs of Staff, 7 May 1945.

  6. Vgl. TNA, WO 219/1252, Military Mission Moscow to Chiefs of Staff, 8 May 1945.

  7. Vgl. Nigel Nicolson (Hrsg.), Harold Nicolson: Diaries and Letters, 1939–1945, London 1967, S. 456f.

  8. Vgl. Ilya Ehrenburg, Men-Years-Life, Bd. 5: The War Years 1941–1945, London 1964, S. 187ff.

  9. Zit. nach: S.M. Shtemenko, The Last Six Months, New York 1977, S. 410f.

  10. Zit. nach: TNA, WO 106/4449A, British embassy, Moscow, to Foreign Office, 12 May 1945; Deutsche Übersetzung auf: Externer Link: http://www.zeitgeschichte-online.de/sites/default/files/media/stalin45.pdf (11.3.2015).

  11. Zu sowjetischen Gefallenen vgl. John Erickson, Soviet War Losses: Calculations and Controversies, in: ders./David Dilks (hrsg.), Barbarossa: The Axis and the Allies, Edinburgh 1994, S. 256ff., S. 262–266.

  12. Vgl. Aleksandr Heller/Mikhail Nekrich, Utopia in Power: The History of the Soviet Union from 1917 to the Present, London 1986, S. 462f.

  13. Vgl. Alec Nove, An Economic History of the USSR, London 1987, S. 279, S. 284.

  14. Vgl. Santo Peli, Storia della Resistenza in Italia, Turin 2006, S. 169, S. 171ff.; Mirco Dondi, La lunga liberazione: Giustizia e violenza nel dopoguerra italiano, Rom 2004, S. 91f.

  15. Vgl. Guido Crainz, L’ombra della Guerra. Il 1945, l’Italia, Rom 2007, S. 9.

  16. Siehe hierzu auch den Beitrag von Ulrich Pfeil in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  17. Zu Bombardierungen in Frankreich vgl. Claudia Baldoli/Andrew Knapp, Forgotten Blitzes: France and Italy under Allied Air Attack 1940–1945, London 2012.

  18. Vgl. Martin Thomas, Colonial Violence in Algeria and the Distorted Logic of State Retribution: The Sétif Uprising of 1945, in: Journal of Modern History, 75 (2011), S. 523–556.

  19. Vgl. Timothy Snyder, Bloodlands: Europe Between Hitler and Stalin, London 2010, Kapitel 10.

  20. Vgl. Alexander Statiev, The Soviet Counter-Insurgency in the Western Borderlands, Cambridge 2010, S. 110.

  21. Vgl. Achim Kilian, Einzuweisen zur völligen Isolierung. NKWD-Speziallager Mühlberg/Elbe 1945–1948, Leipzig 1993, S. 7.

  22. Vgl. S. Spender, European Witness (Anm. 3), S. 29.

  23. Vgl. TNA, FO 898/409, PWE files "Projection of Britain".

  24. Alle Zitate aus: Library of Congress, Eaker papers, Box I: 30, Intelligence Section Mediterranean Allied Air Force, "What is the German Saying?", o.D. (März 1945).

  25. TNA, FO 371/46747, Ronald Thornley to Geoffrey Harrison (Foreign Office), enclosing "Jutta’s trip, 18 Jan–6 Feb 1945", S. 3.

  26. Zu diesem Prozess vgl. insbesondere Konrad H. Jarausch, After Hitler: Recivilizing Germans, 1945–1995, New York 2006; Jan Palmowski, Inventing a Socialist Nation: Heimat and the Politics of Everyday Life in the GDR, Cambridge 2009.

  27. Thomas Mann an Walter von Molo (Anm. 1), S. 446.

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Ph.D., geb. 1947; Professor für Geschichte an der Universität Exeter, Department of History, Streatham Campus, Northcote House, EX4 4QJ Exeter/Vereinigtes Königreich. E-Mail Link: r.overy@exeter.ac.uk