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Das Kriegsende als Erinnerungsort der extremen Rechten | 70 Jahre Kriegsende | bpb.de

70 Jahre Kriegsende Editorial 8. Mai 1945: Eine internationale Perspektive Ewiger Frieden? Zur Bedeutung und Haltbarkeit von Nachkriegsordnungen Zwischenzeit 1945 bis 1949. Über jüdische und andere Konstellationen Kriegsende in Frankreich Mythos "Trümmerfrau": deutsch-deutsche Erinnerungen Wehrmachts- und Besatzungskinder: Zwischen Stigmatisierung und Integration Der Frankfurter Auschwitz-Prozess. Ein Rückblick 50 Jahre nach dem Urteil Das Kriegsende als Erinnerungsort der extremen Rechten

Das Kriegsende als Erinnerungsort der extremen Rechten

Michael Sturm Martin Langebach Martin Langebach Michael Sturm

/ 16 Minuten zu lesen

Aus der Perspektive der extremen Rechten verfolgten die Alliierten den Plan, das deutsche Volk zu vernichten. Um diese These zu stützen, wird vom Kriegsende eine entsprechende "Gegenerzählung" konstruiert.

Gestützt auf einen Stock, in der Linken einen alten Koffer, schleppt sich ein Mann mittleren Alters scheinbar mühselig die Straße entlang. Ihm folgen weitere Männer, manche tragen einen Kopfverband unter ihrer Feldmütze. Begleitet werden sie von einigen dick eingemummelten Frauen, zwei von ihnen ziehen eine Handkarre hinter sich her. Menschen auf der Flucht? Keineswegs – denn auch wenn sich die Männer und Frauen alle Mühe geben, einen möglichst geschundenen Eindruck zu hinterlassen, wirkt der Aufzug doch eher bizarr. Zu offenkundig inszeniert ist der Auftritt der augenscheinlich wohlgenährten "Flüchtlinge", die am 8. Mai 2014 durch die Straßen von Demmin in Vorpommern ziehen. Sie bilden die Spitze einer gespenstisch anmutenden Prozession, die an das Geschehen am Ende des Zweiten Weltkrieges erinnern soll, als zahllose Menschen aus den östlichen Gebieten des Deutschen Reiches auf der Flucht vor der heranrückenden Roten Armee die Straßen der Kleinstadt bevölkerten.

Organisiert wird das jährliche Spektakel durch die NPD und neonazistische Kameradschaften. Den Höhepunkt des "Trauermarsches" bildet eine Kundgebung im Hafen der Hansestadt, zu der am Kai im Halbkreis Aufstellung genommen wird. Medien sind dabei unerwünscht. Nach kurzen Ansprachen und einer Rede wird ein Kranz dem Wasser übergeben, der an jene Frauen und Mädchen erinnern soll, die sich in den letzten Kriegstagen hier das Leben nahmen. Viele von ihnen ertränkten sich damals in der Tollense oder Peene. Vorsichtige Schätzungen gehen von mindestens 500 Selbsttötungen aus.

Seit Jahren versucht die extreme Rechte, diese Tragödie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Der 8. Mai 1945 habe, betonte 2013 der damalige stellvertretende Bundesvorsitzende der Jungen Nationaldemokraten, Sebastian Richter, "nicht nur hier in Demmin, sondern im ganzen Deutschen Reich das Vorhaben der alliierten Kriegsverbrecher (zementiert), unser Volk von der Landkarte zu streichen". Im Jahr zuvor hatte der Fraktionsvorsitzende der NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, Udo Pastörs, am gleichen Ort konstatiert, dass dieser Tag "vor dem Hintergrund der Grauen des Zweiten Weltkriegs, für die deutsche Nation, für das deutsche Volk, für die deutschen Mütter, Frauen, Kinder, Schwerverwundeten (…) alles andere (…) als ein Tag der Befreiung" gewesen sei.

Die Dramaturgie der Demminer Veranstaltungen folgt konsequent den für das extrem rechte Geschichtsverständnis charakteristischen Kernnarrativen, die in schier endlosen Wiederholungen den angeblich ebenso leidvollen wie heroischen Opfergang des deutschen Volkes angesichts übermächtiger Gegner beschwören. "Geschichte" wird hier gleichsam als Waffe genutzt, um die eigenen ideologischen Grundpositionen mit dem Nimbus absoluter und unhinterfragbarer "Wahrheit" zu versehen. Diese Praxis ist nicht zuletzt Ausdruck eines Politikverständnisses, das durchgängig von Kompromisslosigkeit und dichotomen Freund-Feind-Kategorisierungen geprägt ist.

Zur Konstruktion extrem rechter Erinnerungsorte

Die geschichtspolitischen Deutungsmuster der extremen Rechten greifen weder auf Erkenntnisse überprüfbarer historischer Forschung zurück, noch entwickeln sie sich in der diskursiven Auseinandersetzung mit anderen geschichts- und erinnerungskulturellen Interpretationen. Vielmehr spiegeln sich in der extrem rechten Aneignung von Geschichte die fortwährenden Versuche wider, eine "historisch-fiktionale Gegenerzählung" zu entwerfen, die mit "Spekulationen, Mutmaßungen, widerlegten Thesen und teilweise auch mit reinen Fantasien" argumentiert. Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn hat in diesem Zusammenhang auch von "Fantasiegeschichte" gesprochen, die genutzt werde, "um eine Wirklichkeit zu interpretieren, die in den Augen ihrer Protagonisten so hätte gewesen sein sollen beziehungsweise müssen, um die eigenen Zukunftsvisionen und das Agieren in der Gegenwart legitimieren zu können".

Für die verschiedenen Strömungen dieses Spektrums stellt Geschichte somit ein zentrales, wenn auch ambivalentes Politikfeld dar. Zum einen bilden die präzedenzlosen Verbrechen des Nationalsozialismus eine Hypothek, zu denen sich die Protagonisten der extremen Rechten in irgendeiner Form verhalten müssen. Zum anderen haben sich geschichtspolitische Themen in den vergangenen Jahren vor allem für die bewegungsorientierten Strömungen der extremen Rechten als besonders mobilisierungsfähig erwiesen und dazu beigetragen, das notorisch zersplitterte und in Grabenkämpfe verstrickte Spektrum durch den Rekurs auf gemeinsam geteilte Mythen und "Fantasiegeschichten" zumindest anlassbezogen immer wieder zu einen.

Die Kernnarrative der extremen Rechten sind dabei über Jahrzehnte hinweg weitgehend unverändert geblieben. Die bereits für das antidemokratische Denken der Zwischenkriegszeit charakteristischen Kategorien und mythologisch aufgeladenen Schlüsselbegriffe wie "Volk", "Gemeinschaft", "Nation" und "Organismus" prägen die Wahrnehmungshorizonte und Deutungsmuster ihres Geschichtsverständnisses nach wie vor. Ausdifferenziert haben sich hingegen seit den frühen 1990er Jahren die geschichtspolitischen Anlässe, zu denen mobilisiert wird. Die Breite des Repertoires zeigte (und zeigt) sich etwa in der Agitation gegen die Wehrmachtsausstellungen (1995–2004) des Hamburger Instituts für Sozialforschung, in den "Trauermärschen" zum Todestag von Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess (seit 1988), anlässlich der Jahrestage der Bombardierung deutscher Städte während des Zweiten Weltkrieges und nicht zuletzt in der Vereinnahmung des propagandistisch zum "Tag der Schande" deklarierten Kriegsendes am 8. Mai 1945.

Die immer wieder aufgerufenen Mythen, Erzählungen und Referenzfiguren können als "Erinnerungsorte der extremen Rechten" bezeichnet werden. Der auf den französischen Historiker Pierre Nora zurückgehende Terminus lieux de mémoire bezeichnet keinen topografischen Ort, sondern dient als ein Bild, das sich in unterschiedlichen Formen und Praktiken konkretisiert. Als Erinnerungsorte firmieren "reale wie mystische Gestalten und Ereignisse, Gebäude, Denkmäler, Institutionen und Begriffe, Bücher und Kunstwerke". Konstitutiv ist nicht seine Gegenständlichkeit, sondern seine symbolische Aufladung, die sich aus kollektiv geteilten Gedächtnisinhalten speist. Diese entstehen freilich nicht beliebig oder im luftleeren Raum; sie stellen vielmehr soziale Konstruktionen dar. Erinnerungsorte bilden demnach nicht notwendigerweise tatsächliches historisches Geschehen ab, sondern erfüllen eine identitätsstiftende Funktion, die sich vorwiegend an den "Kriterien der Gegenwart" orientiert. Der sozialkonstruktivistische Charakter kollektiver Erinnerung ist nicht nur für die extreme Rechte, sondern für Geschichts- und Erinnerungskulturen insgesamt kennzeichnend, wie nicht zuletzt der Blick auf die sich wandelnden Deutungen des 8. Mai 1945 zeigt. Die Spezifik extrem rechter Erinnerungsorte ergibt sich indessen aus ihrer "fundamentaloppositionellen" Aufladung, die letztendlich darauf abzielt, eine "realitätsresistente Wertegemeinschaft" historisch zu fundieren.

Grundsätzlich konnte sich die extreme Rechte mit ihren geschichtspolitischen Vorstößen zu keinem Zeitpunkt in Politik, Gesellschaft oder Wissenschaft durchsetzen. Gleichwohl waren auf unterschiedliche Weise hegemoniale und fundamentaloppositionelle Erinnerungskulturen in der Bundesrepublik immer auch aufeinander bezogen und wiesen dabei im Hinblick auf bestimmte Narrative durchaus Überschneidungen auf. Diese Feststellung gilt etwa für den langlebigen Mythos von der "sauberen Wehrmacht", der erst im Laufe der 1990er Jahre zunehmend auch öffentlich hinterfragt wurde. Sie gilt aber ebenso für die Bewertung des 8. Mai 1945, der in der bundesdeutschen medialen und politischen Öffentlichkeit keineswegs von Beginn an als "Tag der Befreiung" gewürdigt wurde.

Der 8. Mai in der deutschen Erinnerungskultur

Der 8. Mai 1945 avancierte erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einem zentralen, auch von öffentlichkeitswirksamen Aktionen begleiteten Erinnerungsort der extremen Rechten. Diese Entwicklung korrespondierte mit den Deutungsverschiebungen, die der Jahrestag in der (staatsoffiziellen) Erinnerungskultur spätestens mit der viel beachteten Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag erfuhr. Anders als in der DDR, wo der "Tag der Befreiung" seit 1949 als offizieller (bis 1967 auch arbeitsfreier) Gedenktag mit Großveranstaltungen und Militärparaden begangen wurde, blieben die erinnerungskulturellen Interpretationen des Datums in der Bundesrepublik für annährend vier Jahrzehnte ambivalent. In der politischen Öffentlichkeit, in den Medien und im Alltagsbewusstsein der Bundesbürger wurde der 8. Mai zweifellos eher als "Niederlage", "Katastrophe" und "Zusammenbruch" gedeutet denn als "Tag der Befreiung". Jedoch formierten sich – anders als nach dem Ende des Ersten Weltkrieges – keine wahrnehmbaren Initiativen, die das Datum und die damit verbundenen Ereignisse für revanchistische Forderungen und Agitation nutzten. Die Auseinandersetzung mit dem Jahrestag des Kriegsendes verlief daher weitgehend abstrakt.

Bis zum Ende der 1960er Jahre waren es vor allem die überlebenden Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, die etwa im Rahmen von Gedenkveranstaltungen den 8. Mai als "Tag der Befreiung" feierten. In der Mehrheitsgesellschaft blieben ihre Perspektiven jedoch randständig. So lassen sich vor allem die 1950er Jahre als eine Phase einer juristischen, administrativen, politischen und gesellschaftlichen "Bewältigung der frühen NS-Bewältigung" (Norbert Frei) beschreiben, die zwar einerseits durch eine normative Abgrenzung vom Nationalsozialismus, andererseits aber auch von Schlussstrichmentalitäten und einer weitreichenden Integration ehemaliger Mitläufer und Funktionseliten des nationalsozialistischen Regimes in das politische System und in die Gesellschaft der Bundesrepublik gekennzeichnet war. In diesem Sinne hat etwa der Historiker Jan-Holger Kirsch den 8. Mai als "Tag der Amnesie und der Amnestie" bezeichnet.

Auch während der 1960er Jahre, als etwa der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965) dazu beitrug, die präzedenzlosen Verbrechen des Nationalsozialismus stärker ins öffentliche Bewusstsein zu tragen, blieb der Jahrestag als erinnerungskulturelles Datum vergleichsweise unbedeutend. Willy Brandt war schließlich der erste Bundeskanzler, der das Datum in einer Regierungserklärung im Mai 1970 zumindest für "andere Völker" als Tag der "Befreiung von Fremdherrschaft, von Terror und Angst" würdigte, ohne dabei allerdings konkreter auf die gesellschaftliche Verankerung des Nationalsozialismus und dessen Verbrechen zu sprechen zu kommen.

Seit dem Ende der 1970er Jahre vollzogen sich jedoch tief greifende erinnerungskulturelle Umbrüche, die auch Auswirkungen auf die Deutung des 8. Mai hatten. Wichtige Impulse gingen dabei von den allenthalben entstehenden Geschichtswerkstätten und der damit vielfach einsetzenden kritischen Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus "vor Ort" aus. Große Bedeutung für diese Entwicklung hatte aber nicht zuletzt auch die US-amerikanische Fernsehserie "Holocaust", die im Januar 1979 in Deutschland ausgestrahlt wurde und eine erste breite öffentliche Debatte über die systematische Entrechtung, Ausplünderung und Ermordung der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus auslöste.

Der erinnerungskulturelle Paradigmenwechsel in der Interpretation des 8. Mai, den Richard von Weizsäcker 1985 in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes gewissermaßen offiziell formulierte, ist in diesem weiter gefassten Kontext zu sehen. Das Datum sei über die Jahrzehnte hinweg auch im Bewusstsein der bundesdeutschen Bevölkerung zu einem "Tag der Befreiung" von "dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" geworden, so der Bundespräsident. In der allgemeinen Öffentlichkeit wurde die Rede überwiegend positiv aufgenommen. Vertreterinnen und Vertreter des rechtskonservativen und extrem rechten Spektrums verurteilten deren Inhalt jedoch scharf. Ab diesem Zeitpunkt avancierte der 8. Mai zu einem "fundamentaloppositionellen" Erinnerungsort der extremen Rechten.

Deutungsmuster der extremen Rechten

In Dutzenden Artikeln, in Büchern, auf Tagungen oder auf der Straße versuchen Protagonisten der extremen Rechten ihre "Lesart" des 8. Mai gegen das offizielle Geschichtsbild zu stellen. Begriffliche Gegenentwürfe zum 8. Mai als "Tag der Befreiung" halten sie indes nicht bereit. Sie beziehen sich vielmehr auf allgemein verbreitete Topoi beziehungsweise Interpretationen wie "Kapitulation", "Deutscher Niederbruch" oder "Deutsche Katastrophe". Neue Formeln schöpfen sie dabei einzig aus der Negation der offiziellen Gedenk- und Erinnerungsveranstaltungen: "Befreiungslüge" oder "8. Mai 1945 – Wir feiern nicht", wie die Losung einer erstmals Mitte der 1990er Jahre initiierten Kampagne lautete. Die inhaltliche Bestimmung des Erinnerungsortes "8. Mai" basiert dabei auf einer Vielzahl unterschiedlicher Narrative, die im Kern versuchen, der mittlerweile vorherrschenden Interpretation des Datums zwei Prämissen entgegenzusetzen. Zum einen wird formal auf Grundlage der Rechtsauffassung argumentiert, dass von "Kapitulation" und "Besetzung" zu sprechen sei. Zum anderen wird ein inhaltliches Argument ins Feld geführt, das mit dem Verweis auf von Alliierten verübte "Kriegsverbrechen" und andere "Vergehen" an den besiegten Deutschen die Deutung des Kriegsendes als "Befreiung" verwirft.

Um das erste Argument zu stützen, wird von Vertretern aus dem (extrem) rechten Spektrum regelmäßig die Direktive 1067 des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte (Joint Chiefs of Staff, JCS) als formaljuristischer Beleg angeführt. Die Anweisung vom 26. April 1945, die die amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland grundlegend regelte, erging an Dwight D. Eisenhower, den Kommandierenden General der Besatzungstruppen der Vereinigten Staaten in Deutschland. Darin heißt es unter anderem in Punkt 4b: "Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat. Ihr Ziel ist nicht die Unterdrückung, sondern die Besetzung Deutschlands, um gewisse wichtige alliierte Absichten zu verwirklichen." Angesichts dessen, dass die Alliierten gerade jene Macht unter Kontrolle zu bringen versuchten, die Europa kurz zuvor in einen totalen Krieg gestürzt hatte, erscheint die Anweisung keineswegs als überzogen. Wortmeldungen der extremen Rechten, die sich darauf beziehen, geben die Direktive indes stets nur verkürzt wieder, ohne Beachtung des zeithistorischen Kontextes und ohne darauf hinzuweisen, dass sie nur von kurzer Geltung für die US-amerikanische Besatzungsmacht war. Zentrale Teile wurden bereits mit den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 obsolet.

In einem zweiten wesentlichen Argumentationsstrang wird behauptet, dass die Kriegführung der Alliierten gegen Deutschland und die Deutschen mit der Kapitulation nicht zu Ende gewesen sei. Beklagt werden – in allen Besatzungszonen – massive Verbrechen an deutschen Soldaten und an der Zivilbevölkerung. In der Regel wird dabei unterstellt, dass die Gewaltakte seitens der Alliierten und ihren Besatzungskommandanturen gewollt waren. "Der 8. Mai war der Tag, an dem sie dem Tod ausgeliefert wurden", hieß es beispielsweise 2003 in der Monatszeitung "Deutsche Stimme" im Hinblick auf die internierten deutschen Soldaten. Manche Autoren überbieten sich dabei mit Zahlen, wie viele Wehrmachtsangehörige in Kriegsgefangenschaft umgekommen seien.

Gleiches gilt für die kolportierten Opferzahlen unter den aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Geflüchteten und Vertriebenen. Die Angaben werden dabei bewusst ins Verhältnis zu den Dimensionen der Shoah gestellt, die ihrerseits heruntergespielt wird, um den Völkermord an den Juden zu relativieren. So schrieb etwa der damalige NPD-Bundesvorsitzende, Günter Deckert, 1994 in der "Deutschen Stimme": "Die ‚Einzigartigkeit‘ hat niemand gepachtet, und schon gar nicht Judenführer Bubis, der noch immer an der ‚symbolischen Zahl‘ festhält, obwohl auch diese Zahl unter der Zahl der gemordeten und geschändeten Deutschen liegt, die mit Billigung, Duldung und dem Wissen der Sieger-Demokraten von 1945 von ihrem Leben ‚befreit‘ wurden."

Deckert griff damit gezielt den damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, sowie die bundesdeutsche Erinnerungspolitik an. Die verwendeten Termini "Einzigartigkeit" und "symbolische Zahl" beziehen sich auf die Singularität des Massenmords an sechs Millionen Juden. Der damalige NPD-Vorsitzende setzte sie sicherlich mit voller Absicht in Anführungszeichen, um seine Distanz auszudrücken – 1995 wurde er wegen Leugnung des Holocausts in anderen Fällen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

Der Relativierung der Shoah dient auch der Vergleich mit den Übergriffen auf Mädchen und junge Frauen durch alliierte Soldaten, bei denen es sich in der Diktion der extremen Rechten um einen "Notzuchtterror der Sieger" und einen "sexuellen Holocaust" gehandelt habe. Die Vergewaltigungen seien gezielt und aus strategischen Motiven verübt worden. Der ehemalige Vorsitzende der Partei Die Republikaner, Franz Schönhuber, schrieb 2005 in der extrem rechten Zeitschrift "Nation & Europa" anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung: "Der sowjetisch-jüdische Schriftsteller Ilja Ehrenburg hatte an die Rotarmisten appelliert: ‚Nehmt Euch die deutschen Frauen als Beute!‘" Diese Botschaft sei damals, so ist immer wieder in geschichtsrevisionistischen Publikationen zu lesen, sogar auf Flugblättern verbreitet worden. Eine nachvollziehbare Quellenangabe zu diesem vermeintlichen Ehrenburg-Zitat gibt es jedoch nicht. Vielmehr entstammt es mutmaßlich der nationalsozialistischen Propaganda. Mit dem Verweis auf Ehrenburg soll vor allem der angeblichen Existenz eines nicht nur von den Sowjets, sondern auch von den Vereinigten Staaten verfolgten Plans Plausibilität verliehen werden, das deutsche Volk gezielt zu vernichten.

Als weiterer Beleg für diese Behauptung wird häufig das Memorandum "Suggested Post-Surrender Program for Germany" herangezogen, das am 4. September 1944 vom US-amerikanischen Finanzminister Henry Morgenthau vorgelegt worden war. Das Papier, das als Morgenthau-Plan bekannt wurde, setzte sich mit den Fragen der Bestrafung von Kriegsverbrechen ebenso auseinander wie mit der Entnazifizierung und der Rolle der deutschen Industrie respektive Rüstungsindustrie. Vor dem Hintergrund des Massenmordes an den Juden, über den der Minister früh gut informiert war, sowie angesichts der anderen Kriegsverbrechen und der aggressiven deutschen Kriegspolitik schlug Morgenthau eine "industrielle Entwaffnung" Deutschlands vor. Da es dem "Reich" ohne seine eng mit dem nationalsozialistischen System verwobene Industrie nicht möglich gewesen wäre, den Krieg zu führen, müsse diese beseitigt beziehungsweise stark begrenzt werden, um zu verhindern, dass ein weiterer Weltkrieg von Deutschland ausgehen könne. Im Geschichtsbild der extremen Rechten sah der Plan jedoch "eine unendliche Zerstörung" Deutschlands vor, wie 2005 in der "Deutschen Stimme" betont wurde: "Wo Deutschland gewesen war, sollte mittelalterliche Sklaverei entstehen, gedemütigt als landwirtschaftliche Kolonie, die ohne Maschinen in Handarbeit wirtschaften sollte, ohne jeden Dünger außer dem, den Tiere hinterließen." Mit den Details – dass der Plan weder eine Vernichtung des deutschen Volkes anstrebte, noch dass er bereits vor dem Kriegsende wieder verworfen wurde – hält sich die extreme Rechte indes nicht auf. Stattdessen fügt sich die Morgenthau-Legende zusätzlich in antisemitische Verschwörungstheorien ein, da der Urheber des Memorandums selbst Jude war.

Fazit: "Befreiung von der Befreiung"?

2014 versammelten sich die vorwiegend jungen Neonazis in Demmin hinter einem Transparent mit der provokanten Losung: "Freiheit zertrümmert". Doch welche Freiheit soll hier 1945 zertrümmert worden sein? Hinter dem Slogan steht unverkennbar eine apologetische Bewertung der Zeit des Nationalsozialismus – wie so oft in diesem Spektrum. In der extrem rechten Zeitschrift "Deutschland in Geschichte und Gegenwart" hieß es anlässlich des 50. Jahrestages beispielsweise: "Die Friedensjahre des nationalsozialistischen Deutschland waren für die überwältigende Mehrheit seiner Bewohner durch eine funktionierende Wirtschaft und eine funktionierende Gesellschaftsordnung gekennzeichnet." Der Deutschland vermeintlich aufoktroyierte Krieg hätte die Deutschen von "ihrem Staat ‚befreit‘, der der Masse des Volkes ‚Arbeit und Brot‘ und den sozialen Frieden gebracht hatte".

Derartige Sichtweisen werden jedoch von den allermeisten Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik offenkundig nicht mehr geteilt, was ein anderer Autor in der "Deutschen Stimme" im Mai 2009 darauf zurückführte, dass diese nach 1945 auch von ihrem "gesunden Menschenverstand befreit" worden seien. Solche Lesarten sind im extrem rechten Spektrum omnipräsent. Die Entnazifizierung und vor allem die Reeducation werden als "Gehirnwäsche" betrachtet, als "Charakterwäsche", wie der rechtskonservative Publizist Caspar Schrenck Notzing bereits 1965 schrieb. Bis heute würden die Deutschen "umerzogen", und es werde ein übertriebener "Schuldkult" betrieben. Es bedürfe daher einer "Befreiung von der ‚Befreiung‘", wie es die extrem rechte Gesellschaft für freie Publizistik 2005 anlässlich des 60. Jahrestags des Kriegsendes formulierte.

Der 8. Mai als Erinnerungsort der extremen Rechten repräsentiert zu großen Teilen nicht die Erinnerungen jener "Erlebnisgeneration", die den 8. Mai 1945 aus verschiedenen Gründen tatsächlich nicht als Befreiung wahrnahm. Er konstituiert sich vielmehr weltanschaulich. Für Nationalsozialisten war die Kapitulation, die auf den totalen Krieg folgende totale Niederlage, ein traumatisches Ereignis, das sich fortsetzte, als die extreme Rechte der Nachkriegszeit realisierte, dass es – anders als nach dem Ersten Weltkrieg – keine "nationale Wiedergeburt" geben würde. Stattdessen distanzierten sich weite Teile der Bevölkerung mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum "Dritten Reich" und der "Tragödie von ’45" von nationalistischen und nationalsozialistischen Vorstellungen.

Aus der Perspektive der extremen Rechten wurde der Zweite Weltkrieg von den Alliierten geführt, um Deutschland und das deutsche Volk zu vernichten. Die Kapitulation, die folgende Besetzung mit ihren Konsequenzen und vor allem die heutige Erinnerungskultur der Bundesrepublik, die den 8. Mai als Tag der Befreiung deutet, werden als Beweise für dieses vermeintliche Vorhaben angesehen, das im Übrigen noch nicht vollendet sei. Das "nationale Spektrum" sah und sieht sich daher nicht nur als die einzige gesellschaftliche Kraft, die ihrer Wahrnehmung nach die "richtige" Interpretation der geschichtlichen Verläufe hütet und dem offiziösen Bild seine Deutungen entgegenzusetzen versucht. Vielmehr bilden diese Gegenerzählungen auch für die Politik beziehungsweise für die politischen Vertreter der extremen Rechten zentrale Fixpunkte.

In Demmin sind sich Bürgerinnen und Bürger dieser Herausforderung gewahr geworden. 2014 veranstaltete das "Aktionsbündnis 8. Mai" gemeinsam mit dem Demminer Regionalmuseum einen historischen Mahngang, um den verzerrenden Darstellungen der rechtsextremen Propaganda einen kritischen und umfassenderen Blick auf die Geschichte entgegenzustellen, ohne dabei die Tragödie der massenhaften Selbsttötungen am Ende des Zweiten Weltkriegs zu bagatellisieren. 2015 wird unter anderem eine Konferenz zum 70. Jahrestag des Kriegsende stattfinden, mit der eine internationale Perspektive auf das Thema eröffnet werden soll. In diesem Sinne könnte die Auseinandersetzung mit den Apologien extrem rechter Geschichtspolitik – so paradox das zunächst klingen mag – auch eine Chance für die historisch-politische Bildung darstellen. Mittlerweile sind nicht nur in Demmin bemerkenswerte zivilgesellschaftliche Initiativen entstanden, die sich kritisch mit den Mythen der extremen Rechten auseinandersetzen. Dieses Engagement ist oftmals durch alltags- und lokalgeschichtliche Zugänge sowie lebensweltliche und gegenwartsorientierte Bezüge gekennzeichnet, die zugleich einen Gegenpol zur vielfach beklagten Ritualisierung der Erinnerungskultur und dem "Verfall geschichtlichen Denkens" bilden können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Demminer Regionalmuseum (Hrsg.), Das Kriegsende in Demmin 1945. Umgang mit einem schwierigen Thema, Demmin 2013.

  2. Unter den Begriff "extreme Rechte" wird hier ein heterogenes Spektrum gefasst, das von den bewegungsorientierten neonazistischen "Kameradschaften" über die NPD bis hin zu den eher diskursorientierten Netzwerken der sogenannten Neuen Rechten reicht, gleichwohl aber durch ähnliche weltanschauliche Grundpositionen gekennzeichnet ist. Zentral für alle Strömungen der extremen Rechten ist ein ethnozentrisches, von Ungleichwertigkeitsvorstellungen geprägtes Denken.

  3. Gideon Botsch, "Schluß mit dem Holocaust". Der Brandanschlag auf die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen im Kontext rechtsextremer Geschichtspolitik, in: Christoph Kopke (Hrsg.), Angriffe auf die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen. Rechtsextremismus in Brandenburg und die Gedenkstätte Sachsenhausen, Berlin 2014, S. 40–52, hier: S. 48.

  4. Samuel Salzborn, Extremismus und Geschichtspolitik, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte, 2 (2011), S. 13–25, hier: S. 21.

  5. Vgl. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962, S. 307.

  6. Vgl. Martin Langebach/Michael Sturm (Hrsg.), Erinnerungsorte der extremen Rechten, Wiesbaden 2015.

  7. Vgl. Pierre Nora, Les lieux de mémoire, 3 Bde., Paris 1984–1993.

  8. Étienne François/Hagen Schulze, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. I, München 2001, S. 9–24, hier: S. 17f.

  9. Michael Kohlstruck, Erinnerungspolitik: Kollektive Identität, Neue Ordnung, Diskurshegemonie, in: Birgit Schwelling (Hrsg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden, S. 173–193, hier: S. 176.

  10. Ders., Fundamentaloppositionelle Geschichtspolitik. Die Mythologisierung von Rudolf Heß im deutschen Rechtsextremismus, in: Claudia Fröhlich/Horst-Alfred Heinrich (Hrsg.), Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten? Stuttgart 2004, S. 95–109.

  11. Rainer Erb, "Der letzte Mann" – oder: Wie Rechtsextremisten eine militärische Niederlage in einem moralischen Sieg umdeuten, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 20 (2011), S. 287–313, hier: S. 287.

  12. Vgl. Harald Schmid, Deutungsmacht und kalendarisches Gedächtnis – die politischen Gedenktage, in: Peter Reichel/Harald Schmid/Peter Steinbach (Hrsg.), Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung, Bonn 2009, S. 175–216, hier: S. 182.

  13. Vgl. Peter Hurrelbrink, Der 8. Mai 1945. Befreiung durch Erinnerung. Ein Gedenktag und seine Bedeutung für das politisch-kulturelle Selbstverständnis in Deutschland, Bonn 2005; Jan-Holger Kirsch, "Wir haben aus der Geschichte gelernt". Der 8. Mai als politischer Gedenktag in Deutschland, Köln–Weimar–Wien 1999.

  14. Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. Siehe hierzu auch den Beitrag von Richard Overy in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  15. J.-H. Kirsch (Anm. 13), S. 49.

  16. Zum Frankfurter Auschwitz-Prozess siehe auch den Beitrag von Peter Jochen Winters in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  17. Vgl. Maximilian Strnad, "Grabe, wo Du stehst": Die Bedeutung des Holocaust für die Neue Geschichtsbewegung, in: ders./Michael Brenner (Hrsg.), Der Holocaust in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Bilanz und Perspektiven, Göttingen 2012, S. 162–198.

  18. Vgl. Frank Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von "Holocaust" zu "Der Untergang", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 55 (2007), S. 1–32.

  19. Vgl. J.-H. Kirsch (Anm. 13), S. 96–122.

  20. Vgl. Peter Jahn (Hrsg.), Ilja Ehrenburg und die Deutschen. Ausstellungskatalog des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst, Berlin 1997, S. 77.

  21. Vgl. Boris Fresinski, Ilja Ehrenburg in Rußland und der Welt, in: ebd., S. 9–15, hier: S. 13.

  22. Ausführlicher: Bernd Greiner, Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Plans, Hamburg 1995.

  23. Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007, S. 9.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Michael Sturm, Martin Langebach für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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M.A., geb. 1972; Historiker; Pädagogisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter der Mobilen Beratung im Regierungsbezirk Münster. Gegen Rechtsextremismus, für Demokratie (mobim); Herausgeber des Buches "Erinnerungsorte der extremen Rechten" (2015, gemeinsam mit Martin Langebach); Geschichtsort Villa ten Hompel, Kaiser-Wilhelm-Ring 28, 48145 Münster. E-Mail Link: sturm@stadt-muenster.de

M.A., Dipl.-Sozialpädagoge, geb. 1970; Soziologe; Referent im Fachbereich Extremismus der Bundeszentrale für politische Bildung, Adenauerallee 86, 53113 Bonn. E-Mail Link: martin.langebach@bpb.de