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Rette sich, wer kann? Flüchtlingspolitik im Föderalismus | Flucht und Asyl | bpb.de

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Rette sich, wer kann? Flüchtlingspolitik im Föderalismus

Hannes Schammann

/ 13 Minuten zu lesen

Flüchtlingspolitik in Deutschland ist durch regional äußerst unterschiedliche Lebensrealitäten für Asylsuchende gekennzeichnet. Dennoch erfolgt bislang weder ein konsequenter föderativer Wettbewerb noch eine zentral gesteuerte Harmonisierung.

Flüchtlingspolitik sorgt bei steigenden Asylantragszahlen zuverlässig für Zündstoff zwischen den politischen Ebenen: Kommunen fühlen sich mit der Unterbringung von Flüchtlingen überfordert und rufen nach finanzieller Hilfe von Bund und Ländern. Der Bund wiederum sieht die Länder in der Pflicht, ihren gesetzlichen Zuständigkeiten effizienter nachzukommen und bemängelt beispielsweise ein inkonsequentes Vorgehen bei negativen Asylentscheidungen. Man kann dabei leicht den Eindruck gewinnen, flüchtlingspolitische Verantwortung ließe sich im Föderalismus "wie eine Flipperkugel hin und her schießen". Rasch kann zudem der Überblick verloren gehen: Wer ist eigentlich wofür zuständig? Wie funktioniert Flüchtlingspolitik im Föderalismus? Und wer entzieht sich seiner Verantwortung? Diese Fragen sind Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Zunächst werde ich die Aufgabenteilung zwischen Europäischer Union, Bund, Ländern und Kommunen umreißen, ehe ich anhand einiger Beispiele den daraus resultierenden Flickenteppich deutscher Flüchtlingspolitik skizziere. Schließlich sollen durch einen Abgleich mit zwei Funktionen des Föderalismus Defizite und Lösungswege aufgezeigt werden.

Was regelt die EU?

Flüchtlingspolitik im deutschen Föderalismus ist längst nicht mehr ohne die Einbettung ins europäische Mehrebenensystem zu denken. Als Meilenstein auf EU-Ebene ist dabei das 2013 verabschiedete Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) zu nennen, in dem einige Verordnungen und Richtlinien zusammengefasst, neu formuliert und EU-weite Mindeststandards festgesetzt worden sind, beispielsweise zur Feststellung des Flüchtlingsstatus, zur Führung des Asylverfahrens und zur menschenwürdigen Aufnahme von Asylsuchenden.

Allerdings bemängeln Kritiker, dass Anerkennungsquoten, Unterbringungsbedingungen und soziale Leistungen zwischen den Mitgliedsstaaten weiterhin stark differieren. Dies hat beispielsweise zur Folge, dass Deutschland über Griechenland eingereiste Asylsuchende derzeit nicht, wie nach der Dublin-Verordnung vorgesehen, dorthin rücküberstellt, weil man die Einhaltung europäischer Standards nicht garantiert sieht. Handlungsbedarf erkennt die EU-Kommission daher aktuell neben der Seenotrettung vor allem in der Harmonisierung der Umsetzungspraxis.

Was entscheidet der Bund?

In Deutschland als föderalem Bundesstaat ist Migrationspolitik in wesentlichen Teilen durch Bundesgesetze geregelt, wobei für Flüchtlingspolitik überwiegend die konkurrierende Gesetzgebung gilt (Artikel 74 Absatz 1 Nummer 4 und 6 GG). In der Folge ist nach Maßgabe des Asylverfahrensgesetzes ausschließlich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für das Asylverfahren zuständig. Kommen Asylsuchende nach Deutschland, wird ihr Antrag also auf der Bundesebene bearbeitet. Allerdings findet diese Bearbeitung nicht an einer zentralen Stelle statt, sondern in den demnächst rund 40 Außenstellen des BAMF. Die Asylsuchenden werden einer landesbetriebenen Erstaufnahmestelle in räumlicher Nähe zur jeweiligen Außenstelle des BAMF zugewiesen und nach einigen Tagen oder Wochen auf die Kommunen verteilt. An den ihnen zugewiesenen Orten müssen sie mindestens für die Dauer des Verfahrens wohnen, auch wenn inzwischen für die meisten ein vorübergehender Aufenthalt im gesamten Bundesgebiet erlaubt ist.

Neben dem Ablauf des Asylverfahrens legt die Bundesebene auch die Rahmenbedingungen für den Zugang von Asylsuchenden zu weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens fest. Wichtige Grundlage dafür ist das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), dessen jüngste Novellierung im März 2015 in Kraft trat. Es regelt, welche Leistungen Asylsuchenden in den ersten 15 Monaten für "Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts" oder für die "Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände" zustehen. Zudem trifft es Aussagen über den Zugang zu Arbeitsgelegenheiten.

Die Federführung für das AsylbLG hat auf Bundesebene das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Die Verantwortung für asyl- und aufenthaltsrechtliche Fragen sowie die Fachaufsicht über das BAMF liegt dagegen beim Bundesministerium des Innern. In dieser Ressortzuständigkeit manifestiert sich ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen einem wohlfahrtsstaatlichen Ansatz auf der einen Seite (Versorgung und arbeitsmarktorientierte Integration) und einem ordnungsrechtlichen auf der anderen (Migrationskontrolle). Dieser Konflikt prägt die Flüchtlingspolitik auf Bundesebene und setzt sich, da er dort institutionell nicht gelöst wird, als ständiges Ringen um Kohärenz auf Ebene der Länder und Kommunen fort.

Was machen die Länder?

Bundesländer haben trotz der beschriebenen Regelungskompetenz des Bundes erhebliche Spielräume, und zwar sowohl in Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe von Flüchtlingen als auch im primär aufenthaltsrechtlichen Bereich. Eine wichtige aufenthaltsrechtliche Kompetenz ist, dass die obersten Landesbehörden humanitäre Aufenthaltstitel vergeben können – für Einzelfälle eigenständig über die Einsetzung von sogenannten Härtefallkommissionen und für Gruppen in Abstimmung mit dem Bundesinnenministerium. Ferner führen sie die Fachaufsicht über die Ausländerbehörden der Kommunen, die für die Umsetzung des Aufenthaltsgesetzes während und vor allem nach Beendigung des Asylverfahrens zuständig sind. Deren Entscheidungsspielraum können die Bundesländer über Landesaufnahmegesetze und Erlasse einschränken.

Daneben hat der Bund die Zuständigkeit für "Aufnahme, Unterbringung und Gewährung (…) existenzsichernder Leistungen", und damit vor allem für die Umsetzung des AsylbLG, an die Bundesländer delegiert. In der Praxis reichen die meisten Bundesländer diese eher integrationspolitischen Aufgaben ganz oder teilweise an die kommunale Ebene weiter und stellen ihr dafür entweder finanzielle Mittel in äußerst unterschiedlicher Höhe zur Verfügung (meist über Pro-Kopf-Pauschalen wie in Baden-Württemberg, Hessen oder Sachsen) oder tragen die Kosten direkt (Bayern, Hamburg oder Berlin).

Was bleibt für die Kommunen?

Diese regional unterschiedliche Delegation von Aufgaben ist nur deshalb möglich, weil Kommunen staatsrechtlich gesehen keine eigene Ebene, sondern Teil des jeweiligen Bundeslandes sind. Sie agieren daher in einigen Bereichen als untere Verwaltungsbehörden der Länder. Jenseits der delegierten Bereiche verfügen sie aber auch über ein Selbstverwaltungsrecht. Flüchtlingspolitik betrifft beide Aspekte dieser "hybriden Identität" der Kommune.

Eine Pflichtaufgabe der Kommunen ist der Vollzug des Aufenthaltsrechts. Insbesondere wenn ein Asylantrag abgelehnt wird, stellen kommunale Ausländerbehörden fest, ob Abschiebungshindernisse vorliegen und für wie lange gegebenenfalls eine "Duldung", also die Aussetzung einer Abschiebung, ausgestellt werden kann. Sie entscheiden auch darüber, ob Asylsuchende ihrer "Mitwirkungspflicht", beispielsweise bei der Passbeschaffung, nachgekommen sind. Erkennen sie hier Versäumnisse, kann etwa der Zugang zu Arbeit, Ausbildung oder Studium versagt werden. Einige Studien legen die Vermutung nahe, dass kommunale Behörden ihre damit einhergehenden Ermessensentscheidungen gezielt und sehr unterschiedlich nutzen.

Auch wenn Kommunen damit durchaus migrationssteuernd agieren, werden sie in der Migrationsforschung überwiegend als Ort von Integrationspolitik bezeichnet. Dies lässt sich mit Blick auf Flüchtlinge vor allem mit dem zweiten Komplex an Pflichtaufgaben begründen: der Umsetzung des AsylbLG. Besonders medial präsent ist dabei die Erschließung neuer Unterkünfte. Zwar gibt das jeweilige Land einige Mindeststandards vor, etwa Quadratmeterzahl oder Ausstattung. Wo und wie die Personen aber genau untergebracht werden (zentral/dezentral), wie dies kommuniziert wird, ob zusätzlich zu der Pauschale des Landes eigene Finanzmittel vorgesehen werden und ob eine Einbindung in die Stadtgesellschaft befördert werden soll, liegt überwiegend im Ermessen der Kommune.

An dieser Stelle wird deutlich, dass die vom Land übertragenen Pflichtaufgaben eng mit Herausforderungen der kommunalen Selbstverwaltung verknüpft sind: Flüchtlingspolitische Konzepte auf Ebene der Kommune entstehen deshalb meist aus der Pflichtaufgabe der Unterbringung und verbinden diese mit freiwilligen Leistungen. Darunter können beispielsweise Deutschkurse, Migrationsberatungsstellen, Begegnungsprojekte oder Koordinierungsstellen für ehrenamtliches Engagement fallen. Wer von kommunaler Flüchtlingspolitik spricht, meint daher im Ergebnis letztlich kommunale Integrationspolitik für Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus.

Ginge es nach dem Buchstaben des Bundesaufenthaltsgesetzes (AufenthG), dann dürfte es eine so definierte Flüchtlingspolitik gar nicht geben, denn nach Paragraf 44 haben Personen ohne gesicherte Bleibeperspektive zum Beispiel keinen Anspruch auf den bundesgeförderten Integrationskurs. Kommunen jedoch, die davon ausgehen müssen, dass Flüchtlinge auch nach Ablehnung des Asylantrags mit einer Duldung in ihrer Zuständigkeit verbleiben, haben meist ein Interesse daran, möglichst früh in Integrationsangebote zu vermitteln. Ob und welche Maßnahmen eine Kommune anbietet, hängt von ihren finanziellen Ressourcen ab – und vom politischen Willen, diese zu akquirieren.

Flickenteppich Flüchtlingspolitik: Drei Beispiele

Bereits anhand der groben Skizze der Gestaltungsspielräume von Ländern und Kommunen lässt sich erahnen, dass Flüchtlingspolitik im deutschen Föderalismus durch eine große Vielfalt in der regionalen Praxis gekennzeichnet ist – und damit durch eklatant unterschiedliche Lebensrealitäten für Flüchtlinge. Drei Beispiele illustrieren dies schlaglichtartig.

Deutschkurse.

Zu den wichtigsten freiwilligen Leistungen bei der Integration von Flüchtlingen zählen Deutschkurse. In Stuttgart erhalten Asylsuchende einen städtischen Kurs von 200 Stunden. In Bayern und Hamburg sind es 300 Stunden, jeweils finanziert durch Landesmittel. Im Land Brandenburg erhalten Asylsuchende, finanziert aus EU- und Landesmitteln, bis zu 600 Stunden – und damit genauso viele wie im regulären Integrationskurs für dauerhaft Bleibeberechtigte. Gleichzeitig werden in zahlreichen Kommunen keinerlei professionelle Deutschkurse angeboten. Die Chancen auf sprachliche Teilhabe von Flüchtlingen hängen also stark vom zugewiesenen Wohnort ab.

Gesundheitsversorgung.

Ein zweites Beispiel erwächst aus der Pflichtaufgabe der Kommunen zur Gesundheitsversorgung nach Paragraf 4 AsylbLG. In zahlreichen Kommunen benötigen Asylsuchende für jeden Arztbesuch einen sogenannten Behandlungsschein, der vom Sozialamt nach Rücksprache mit dem Arzt ausgestellt wird. Auch Rezepte bedürfen einer Genehmigung durch die Behörde. Dies kann den Weg zu einer dringenden Behandlung äußerst langwierig gestalten und vom Arztbesuch abhalten. Im Gegensatz dazu erhalten Asylsuchende in den Stadtstaaten Bremen und Hamburg elektronische Gesundheitskarten der Allgemeinen Ortskrankenkassen. Dies bewirkt, dass der Arztbesuch aus Sicht der Asylsuchenden demjenigen von normal Versicherten ähnelt. Auch für die Kommune wird der Verwaltungsaufwand erheblich gesenkt. Solche Verträge mit Krankenkassen könnten grundsätzlich auch Kommunen in Flächenländern in eigener Verantwortung abschließen. Allerdings sorgen vor allem nicht restlos geklärte Finanzierungsfragen zwischen Ländern und Kommunen dafür, dass der Prozess bislang nur langsam vorankommt.

Berufsschulpflicht.

Das dritte Beispiel kommt aus einer traditionellen Domäne der Länder: der Bildung. Bundesweit besteht für Asylsuchende faktisch Schulpflicht beziehungsweise ein Schulbesuchsrecht im Primar- und im Sekundarbereich I. Junge Flüchtlinge aber, die nicht mehr schulpflichtig sind und keinen Schulabschluss haben, fallen durch das Raster des Bildungssystems. Vor diesem Hintergrund hat Bayern 2011 eine Berufsschulpflicht für junge Flüchtlinge im Alter von 16 bis 21 Jahren (in Ausnahmefällen bis 25 Jahren) eingeführt. Parallel dazu wurde ein zweijähriges Unterrichtskonzept entwickelt und mittlerweile nahezu flächendeckend umgesetzt.

Damit hat der oft als restriktiv bezeichnete Freistaat ein bislang bundesweit einzigartiges Modell der Bildungsintegration geschaffen. Interessant mit Blick auf föderale Prozesse ist, dass die Initiative nicht vom Land ausging, sondern von einem Projekt in freier Trägerschaft, der Münchener SchlaU-Schule. Die Landeshauptstadt München unterstützte das Vorhaben seit 2001 finanziell und beeinflusste so mittelbar die Flüchtlingspolitik des Landes.

Wie stark die jeweilige flüchtlingspolitische Praxis von einem spezifischen lokalen "Klima", von expliziten politischen Vorgaben oder von den handelnden Akteuren bestimmt wird, ist bislang nur in Ansätzen erforscht. Gleiches gilt für die Kopplung zwischen den Ebenen. Es ist jedoch eine Tatsache, dass die deutsche Flüchtlingspolitik von einer Variationsbreite gekennzeichnet ist, die sich auch auf die unterschiedlichen Teilhabechancen von Flüchtlingen auswirkt.

Funktioniert der Föderalismus?

Wie ist diese Vielfalt zu bewerten? Der Blick auf zwei Funktionen des Föderalismus kann hier weiterhelfen. Die erste ist aus dem Subsidiaritätsprinzip abgeleitet: Aufgaben, die von regionalen Gegebenheiten abhängig sind, können am besten am Ort selbst gelöst und entschieden werden. Diese Funktion ist beispielsweise für die Suche nach Unterkünften sinnvoll, hier ist zweifellos dezentrale Entscheidungskompetenz notwendig.

Aber gilt das ebenso für die Berufsschulpflicht oder Deutschkurse? Ein Argument, das auch in diesen Bereichen für dezentrale Entscheidungskompetenzen sprechen und eine Vielfalt der Praxis gutheißen würde, wäre das des föderativen Wettbewerbs. Dieser meint, dass im Föderalismus die Bundesländer (und Kommunen) um die besten Lösungen ringen und so die Innovationskraft insgesamt befördern – abgeleitet aus den Prinzipien des freien Marktes, in dem Wettbewerb die größtmögliche Wohlfahrt stiftet.

Zentrale Voraussetzung für ein positives Ergebnis ist jedoch, dass Belohnungs- und Sanktionsmöglichkeiten existieren. Ganz praktisch könnten dies zum Beispiel regionale Wahlen oder Wohnsitz- beziehungsweise Standortverlagerungen sein – etwa von Unternehmen, die auf regionale Wirtschaftspolitik reagieren. Beide Sanktionsmechanismen greifen in der Flüchtlingspolitik aber nur unvollständig: Erstens haben Drittstaatsangehörige (Nicht-EU-Bürger) in Deutschland auf keiner Ebene das Wahlrecht. Die Schaffung (un)attraktiver Rahmenbedingungen für Flüchtlinge wird somit nur von der aufnehmenden Bevölkerung bewertet. Zweitens können Asylsuchende und Geduldete nicht frei entscheiden, in welchem Bundesland oder in welcher Kommune sie leben möchten. Sie können also über lokale Flüchtlingspolitik nicht "mit den Füßen abstimmen".

Wollte man zumindest den zweiten Sanktionsmechanismus stärken, so könnte man über die Aufhebung der Wohnsitzauflage nachdenken. Doch welche Konsequenzen hätte dies für die Flüchtlingspolitik im Föderalismus? Würden Kommunen mit attraktiven Rahmenbedingungen um Asylsuchende buhlen? Oder würden sie im Gegenteil versuchen, als möglichst unbeliebte Destination zu gelten? Um in der Vision eines föderativen Wettbewerbs flüchtlingspolitischer Praxis die Wahrscheinlichkeit des ersten Szenarios zu erhöhen, müssten zusätzlich zur bundesweiten Freizügigkeit weitere, tief greifende Reformen erfolgen. Unabdingbar wäre eine weitreichende und konsequente Dezentralisierung flüchtlingspolitischer Kompetenzen, beispielsweise hinsichtlich des Arbeitsmarktzugangs.

Doch ist Flüchtlingspolitik überhaupt das richtige Feld für föderativen Wettbewerb, zumal im deutschen Selbstverständnis eines kooperativen Föderalismus? Wenn man – wie dies Artikel 74 Absatz 1 Nummer 4 und 6 GG nahelegen – die Flüchtlingsaufnahme als vom Bund koordinierte, gemeinsame humanitäre Aufgabe aller föderalen Ebenen versteht, müsste die unterschiedliche flüchtlingspolitische Praxis in Ländern und Kommunen im Vergleich zur wettbewerblichen Sicht größere Sorge bereiten. Sie wäre nämlich als Anzeichen zu verstehen, dass das zumindest für einen Teil der Flüchtlingspolitik geltende Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet nicht erreicht ist. In der Konsequenz müsste der Bund auf eine Harmonisierung lokaler Praxis drängen – ohne dabei die fraglos existente, innovative "Labor-Funktion" des Föderalismus zu eliminieren. Bislang jedoch geht es in Treffen zwischen Bund, Ländern und Kommunen meist um Finanzierungsfragen rund um das AsylbLG oder um die Öffnung der bundesgeförderten Integrationskurse. Die Harmonisierung lokaler Praxis spielt eher eine untergeordnete Rolle und wird bestenfalls als Nebeneffekt thematisiert.

Fazit

Flüchtlingspolitik im deutschen Föderalismus ist durch eine Vielfalt lokaler Praxis und eine enge Verschränkung aller Ebenen gekennzeichnet. Dabei hat faktisch jede Ebene sowohl migrationspolitische als auch integrationspolitische Gestaltungsspielräume. Hinzu kommt, dass Bund und Länder den Widerspruch von ordnungsrechtlichen und wohlfahrtsstaatlichen Zielsetzungen in der Flüchtlingspolitik nicht auflösen, sondern ihn als schwelenden Konflikt gemeinsam mit bestimmten Aufgaben auf die jeweils nächste Ebene delegieren. Die Kommunen als letztes Glied in der Kette betonen wiederum die Verantwortung von Bund und Ländern.

Mit Blick auf die Übernahme von Verantwortung zur Harmonisierung der Flüchtlingspolitik scheint im deutschen Föderalismus, ähnlich wie auf EU-Ebene, zu häufig die zynische Devise "Rette sich, wer kann!" zu gelten. Für die betroffenen Menschen bedeutet diese Haltung, dass sie sich irgendwo auf einem Flickenteppich nicht selbst wählbarer Lebenswirklichkeiten wiederfinden. Es ist an der Zeit, sich zu entscheiden: entweder für eine vom Bund gesteuerte Harmonisierung lokaler Flüchtlingspolitik oder für einen föderativen Wettbewerb mit freier Wahl des Wohnsitzes und konsequenter Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Flüchtlingspolitik meint hier, abweichend vom rechtlichen Status eines anerkannten Flüchtlings, Politik für (noch) nicht als schutzberechtigt anerkannte Personen. Entsprechend wird der Begriff Flüchtling verwendet.

  2. Der Begriff der Kommune dient als Sammelbegriff "zur Bezeichnung des Organisationsverbundes, der im politischen System als Gebietskörperschaft der ‚Gemeinde‘ definiert ist". Michael Bommes, Die Rolle der Kommunen in der bundesdeutschen Migrations- und Integrationspolitik, in: Frank Gesemann/Roland Roth (Hrsg.), Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft, Wiesbaden 20092, S. 89.

  3. Vgl. Deutscher Städtetag, Deutscher Städtetag zur Aufnahme und Integration von Zuwanderern, Asylbewerbern und Flüchtlingen, 21.4.2015, Externer Link: http://www.staedtetag.de/imperia/md/content/dst/presse/2015/beschluss_praesidium_dst_april_2015_fluechtlinge_aufnahme_integration.pdf (2.5.2015).

  4. Vgl. u.a. Externer Link: http://www.twitter.com/BAMF_Schmidt/status/579616595506524160 (2.5.2015).

  5. Christian Palm, Menschenwürde kostet Geld, 11.9.2014, Externer Link: http://www.faz.net/-13147102.html (2.5.2015).

  6. Vgl. u.a. Petra Bendel, Nach Lampedusa. Das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem auf dem Prüfstand, Bonn 2013.

  7. Einen Überblick zum Stand der Harmonisierung bietet die Asylum Information Database des Europäischen Flüchtlingsrates unter Externer Link: http://www.asylumineurope.org.

  8. Vgl. BAMF, Entscheiderbrief 1/2015, Externer Link: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Entscheiderbrief/2015/entscheiderbrief-01-2015.pdf?__blob=publicationFile (2.5.2015), S. 7.

  9. Vgl. Jan Schneider, Die Organisation der Asyl- und Zuwanderungspolitik in Deutschland. Studie der deutschen nationalen Kontaktstelle für das Europäische Migrationsnetzwerk, Nürnberg 2012, S. 12.

  10. Für regelmäßig aktualisierte Informationen siehe Externer Link: http://www.bamf.de/DE/Migration/AsylFluechtlinge/Asylverfahren/asylverfahren-node.html (2.5.2015).

  11. Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Integration im föderalen System: Bund, Länder und die Rolle der Kommunen, Berlin 2012, S. 60.

  12. Andreas Müller, Die Organisation der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern in Deutschland, Nürnberg 2013, S. 13.

  13. Vgl. ebd., S. 14.

  14. Vgl. Hans-Georg Wehling, Kommunalpolitik in Baden-Württemberg, in: Siegfried Frech et al. (Hrsg.), Handbuch Kommunalpolitik, Stuttgart 2009, S. 9–30, hier: S. 9.

  15. Vgl. SVR (Anm. 11), S. 63.

  16. Vgl. u.a. Tobias Eule, Inside Immigration Law. Migration Management and Policy Application in Germany, Farnham 2014, S. 142.

  17. Vgl. Michael Bommes/Holger Kolb, From Disorder to New Roles for all Governments: Integration and Federalism in Germany, in: Christian Joppke/Leslie Seidle (Hrsg.), Immigrant Integration in Federal Countries, Montreal 2012, S. 113–133, hier: S. 119.

  18. Vgl. Jutta Aumüller, Die kommunale Integration von Flüchtlingen, in: F. Gesemann/R. Roth (Anm. 2), S. 115.

  19. Vgl. Landeshauptstadt Stuttgart, Lenkungsausschuss Flüchtlinge: Stadt bietet weitere Deutschkurse, 20.5.2014, Externer Link: http://www.stuttgart.de/item/show/273273/1/9/536537? (2.5.2015).

  20. Vgl. Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Deutschkursangebote für Flüchtlinge, Bochum 2014.

  21. Vgl. Robert Bosch Stiftung (Hrsg.), Lebenslagen von Asylbewerbern. Vorschläge zur Verwaltungs- und Verfahrensvereinfachung, Stuttgart 2014, S. 15–21.

  22. Vgl. Katja Lindner, Die gesundheitliche Versorgung von Asylsuchenden in Deutschland. Aktuelle politische Entwicklungen, in: Migration und Soziale Arbeit, (2015) 1, S. 83.

  23. Vgl. Cordula Eubel, Direkt zum Arzt. Gesundheitskarte für Asylbewerber, 1.3.2015, Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/11442014.html (2.5.2015).

  24. Vgl. Barbara Weiser, Recht auf Bildung für Flüchtlinge, Berlin 2014, S. 10.

  25. Vgl. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (Hrsg.), Berufsschulpflichtige Asylbewerber und Flüchtlinge, München 2014.

  26. Vgl. Externer Link: http://www.schlau-schule.de/ueber-uns/chronik-der-schlau-entwicklung.html (2.5.2015).

  27. Diesen Nutzen des Wettbewerbs für den Föderalismus hat unter anderem der Bundespräsident a.D. Roman Herzog betont: Vgl. Roman Herzog, Kooperation und Wettbewerb, in: APuZ, (2006) 50, S. 3ff.

  28. SVR (Anm. 11), S. 111.

  29. Eine Ausnahme stellen die laufenden und vom Bund gesteuerten Sondierungsgespräche zur elektronischen Gesundheitskarte dar. Vgl. Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage, 27.4.2015, Bundestagsdrucksache 18/4758, S. 5.

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Dr. phil., geb. 1981; Juniorprofessor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim, Universitätsplatz 1, 31141 Hildesheim. E-Mail Link: hannes.schammann@uni-hildesheim.de