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Das vierte Lebensalter in Japan | Hochbetagt | bpb.de

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Das vierte Lebensalter in Japan Kulturelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Shingo Shimada

/ 14 Minuten zu lesen

Die sozialpolitische Lücke, die in Japan zwischen dem Staat und den Privathaushalten klafft, fördert experimentelles Vorgehen bei der Generierung einer neuen Gemeinschaftlichkeit mit Demenzkranken und zeitigt lehrreiche Ergebnisse.

Das Alter(n) ist heute ein breit diskutiertes Thema. Die gestiegene Lebenserwartung, die Zunahme des Bevölkerungsanteils der über 65-Jährigen und die immer geringer werdende Geburtenrate werden in Deutschland häufig als krisenhaft für die Struktur des Sozial- beziehungsweise Wohlfahrtsstaates interpretiert. Und es ist mittlerweile allgemein bekannt, dass die japanische Gesellschaft mit demselben Problem konfrontiert ist, ja, dass ihr Problem angesichts der rasanten Entwicklung sogar wesentlich verschärft ist. Japan wird als "Testfeld für eine neue, bislang völlig unbekannte Gesellschaft" bezeichnet. Und es stellt sich die pragmatische Frage, was man von den Versuchen auf diesem experimentellen Feld lernen kann. Die Autoren Rainer Klingholz und Gabriele Vogt beantworten sie negativ, was mir etwas leichtfertig und einfach erscheint. Zwar mag diese Einschätzung auf den ersten Blick nachvollziehbar sein, weil die japanische Gesellschaft, wie später gezeigt wird, auf der sozialpolitisch-institutionellen Ebene auf diese tief greifende Veränderung nicht gut vorbereitet ist. Doch wenn man den Blick auf die grundsätzlichen theoretischen Probleme der gesellschaftlichen Fürsorge allgemein richtet, gibt es eine Fülle von Anregungen, die man den japanischen Erfahrungen entnehmen kann. Zumal Deutschland und Japan mit derselben Herausforderung konfrontiert sind: Wie kann man die steigende Zahl pflegebedürftiger alter Menschen so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung leben lassen, und wie kann man ein menschenwürdiges Sterben ermöglichen? Diese Fragen erfordern aber auch eine kritische Reflexion des gesellschaftlichen Wertesystems. Was bedeutet in diesem Zusammenhang ein menschenwürdiges Leben? Wie ist Menschenwürde im Zustand der Demenz zu verstehen? Was bedeutet Selbstbestimmung im Alter?

Diese Fragen zeigen, dass die bisher als selbstverständlich erachteten Werte neu verhandelt werden müssen. In diesem Sinne bedeutet der demografische Wandel nicht nur eine strukturelle Veränderung, sondern eine ebenso weitreichende Verschiebung der Wissensformationen und der Wertesysteme. Für diesen Prozess bietet eine kulturvergleichende Perspektive neue Anregungen, weil sie die Selbstverständlichkeiten der eigenen Kultur in Frage stellen kann.

Doch mit "Kultur" ist hier keine statische Tradition gemeint. Sicherlich wurden in Japan alte Menschen, vor allem die Hochbetagten im vierten Lebensalter, traditionell mit großem Respekt behandelt. Zum einen gab es nur wenige, die überhaupt dieses Alter erreichten (bis 1945 betrug die Lebenserwartung weniger als 50 Jahre), zum anderen forderte das teils konfuzianisch, teils alltagsreligiös begründete Weltbild dieses Verhalten. Und das 60. Lebensjahr mit der Bezeichnung kanreki markierte einen besonderen Lebensabschnitt, weil man nach der chinesischen Lebenskreislehre (12 Tierkreiszeichen mal fünf) eine Lebensrunde vollendet, womit dieser Geburtstag die positive Konnotation einer zweiten Geburt besaß. Auch das Sterben in hohem Alter wurde in der Regel als dai-ôjô (großes Sterben) positiv bewertet. Dieses Sterbekonzept ist mit der Vorstellung verbunden, dass man bis ins hohe Alter seine Gesundheit erhält und durch Altersschwäche allmählich im Kreis seiner Familie "natürlich" stirbt. Doch die Modernisierung Japans ist durch ständige Auseinandersetzungen mit eigenen kulturellen Überlieferungen und von außen hereinbrechenden zivilisatorischen Artefakten gekennzeichnet, in denen dieses traditionelle Altersbild immer wieder in Frage gestellt wurde. Als Folge dessen hat man in der heutigen Gesellschaft vielfältige Altersbilder, die sich teils widersprechen. Die drastische Zunahme der hochaltrigen Menschen lenkt den Blick heute jedenfalls eher auf die problematischen Seiten des Alterns, nämlich Pflegebedürftigkeit und Demenz.

Der demografische Wandel und seine Konsequenzen

Wie eingangs erwähnt steht die japanische Gesellschaft wie die deutsche angesichts von Bevölkerungsschwund und Überalterung vor einer großen Herausforderung. Dabei ist die derzeitige Lage wesentlich dramatischer als in Deutschland. Es existieren Prognosen, nach denen im Jahre 3300 keine Nachfahren der heutigen japanischen Bevölkerung mehr auf dem japanischen Archipel leben werden.

Während Japan 1970 im internationalen Vergleich noch eine sehr junge Gesellschaft gewesen war, schloss man Anfang der 1990er Jahre in Bezug auf die demografische Verteilung schon zu den anderen Industrienationen auf. Der Zeitabstand zwischen zwei von der UNO als typisch für die Entwicklung zur Industriegesellschaft angesetzten Schwellen des Anteils der über 65-Jährigen – 7 Prozent für den Eintritt in einen demografischen Wandel und 14 Prozent für eine alternde Gesellschaft –, war nirgendwo so kurz wie in Japan. Während Frankreich 115 Jahre dafür benötigte, vollzog Japan diesen Wandel in einer Rekordzeit von 24 Jahren zwischen 1970 und 1994. Mittlerweile ist Japan einer der Staaten mit dem weltweit höchsten Altenanteil. Dies ist mit der Lebenserwartung von 87 Jahren für Frauen und 80 Jahren für Männer 2013 – und der niedrigen Geburtenrate von etwa 1,4 Kindern pro Frau auch nachvollziehbar.

Doch die daraus resultierende Krise beruht nicht allein auf dieser dynamischen Bevölkerungsentwicklung, sondern auch auf allzu spät ergriffenen sozialpolitischen Maßnahmen. Zwar erkannte der damalige Ministerpräsident, Kakuei Tanaka, 1973 die Notwendigkeit wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen und erklärte das Jahr zum "Ersten Jahr der Wohlfahrtsära" (fukushi gan-nen), sodass zumindest die Mindestrente von 20.000 auf 50.000 Yen angehoben wurde. Allerdings folgten darauf die Ölkrisen, und die Nachfolgeregierung kehrte 1979 mit dem Konzept der "Japanese style welfare society" (nihon gata fukushi shakai) zu dem Prinzip zurück, die Pflege der älter werdenden Bevölkerung den Familienangehörigen zu überlassen. Dementsprechend wurden zwischen 1978 und 1985 Programme zur Förderung von Dreigenerationenhaushalten aufgelegt. Doch jede Maßnahme zur Rettung der "japanischen" Tradition war angesichts der demografischen Entwicklung so gut wie wirkungslos. 1989 verabschiedete das Kabinett den "Golden Plan", eine "Zehnjahresstrategie zu Gesundheit und Wohlfahrt der Alten". Dieses Programm verriet im Grunde, wie unvorbereitet die Politik zu diesem Zeitpunkt war. Denn der Plan sah den Ausbau von Pflegeeinrichtungen von damals 200.000 auf 500.000 Betten in Pflegeheimen und von 1.000 auf 10.000 Plätzen in der Tagespflege vor. Fünf Jahre später erkannte man, dass diese angestrebten Zahlen unzureichend waren und verabschiedete den "New Gold Plan" und einige Zeit später den "Gold Plan 21". Diese Programme zeigten die grundlegende Notwendigkeit, die Pflege der immer älter werdenden Bevölkerung von der Familie in die Gesellschaft zu verlagern.

Bereits in der Planungsphase war den Verantwortlichen klar, dass sie den Anforderungen des demografischen Wandels nicht genügen würden und eine grundsätzliche institutionelle Veränderung folgen müsse. Ab Mitte der 1980er Jahre begann man daher, eine Pflegeversicherung in Erwägung zu ziehen, deren Konkretisierung in Deutschland damals bereits diskutiert wurde. Doch die Bedeutung dieser Versicherung in beiden Ländern ist sehr unterschiedlich.

Bei einer vergleichenden Betrachtung der strukturellen Voraussetzungen fällt auf, dass in Japan Organisationen wie beispielsweise die Wohlfahrtsverbände gänzlich fehlen. Dies erklärt sich aus den unterschiedlichen Modernisierungspfaden der beiden Gesellschaften. Während die soziale Fürsorge in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl vom Staat als auch von zivilgesellschaftlichen Akteuren als wichtige Aufgabe erkannt wurde, blieb die Fürsorge für den Einzelnen in Japan weitestgehend Aufgabe der privaten Haushalte. So wurde die Vorstellung des familiären Zusammenlebens unter der Bezeichnung ie (Haus) als bindend für alle Staatsbürger propagiert. Dieser Idee entsprechend übernahm der Hausvorstand nach dem 1896 entstandenen bürgerlichen Gesetzbuch die Verantwortung für alle Hausmitglieder. Dadurch war die Errichtung eines modernen Staates möglich, ohne dass dieser Wohlfahrtsfunktionen übernehmen musste. Zwar wurde diese restriktive familienpolitische Vorgabe nach 1945 abgeschafft, doch die Vorstellung, dass die privaten Haushalte wohlfahrtsbezogene Fürsorgefunktionen gegenüber Kindern und Alten übernehmen sollten, blieb und wurde während des starken Wirtschaftswachstums zwischen 1955 und 1975 gar zementiert.

Indem sich die strikte geschlechtliche Arbeitsteilung durchsetzte, der entsprechend der Mann einer abhängigen Arbeit nachging und die Frau als Hausfrau den Haushalt führte, entstand eine Gesellschaftsstruktur, in der die betriebliche Arbeit den Mittelpunkt bildete. Diese von der florierenden Wirtschaft unterstützte Struktur reizte das bürgerliche Familienideal derartig aus, dass zwei geschlechtlich völlig getrennte Lebensbereiche entstanden: die Arbeit der Männer und der Bereich der Familie für die Frauen. Diese Arbeitsteilung ermöglichte es dem Staat, die Sozialausgaben so niedrig wie in keiner anderen Nation zu halten. Das System funktionierte nur auf Grund der unbezahlten Haus- und Pflegearbeit der Frauen. Im Hintergrund wirkte eine Familienideologie, in der die traditionalistische Vorstellung des genealogischen Hauses und das moderne, westlich geprägte, bürgerliche Familienideal verschmolzen. Es wurde als selbstverständlich erachtet, dass die Ehefrau des ältesten Sohnes die Pflege seiner Eltern im Dreigenerationenhaushalt übernahm. Diese Norm, die noch Mitte der 1970er Jahre eine unverrückbare Grundlage des Selbstverständnisses der Bevölkerung dargestellt hatte, löste sich in den darauffolgenden 20 Jahren langsam auf. Doch ist die Vorstellung, dass man das eigene Pflegeproblem nicht in die Öffentlichkeit hinaustragen darf, nach wie vor vorhanden, wie die beiden Fallbeispiele im dritten Teil des Beitrags veranschaulichen.

Die familiäre Belastung wurde jedoch mit der Zeit immer stärker, und so kam in den 1980er Jahren die Bezeichnung "Pflegehölle" (kaigo jigoku) auf. Pflege von Angehörigen führte für Töchter und Schwiegertöchter, die ohnehin durch Haushalt, Kindererziehung und Teilzeitjobs häufig mehrfach belastet waren, in eine Situation, die sie als Überforderung empfinden mussten. Ein Ausweg aus der schwierigen Situation war die Heimunterbringung der Pflegebedürftigen oder ihre Einweisung in ein Krankenhaus. Doch für die Heimunterbringung fehlte es an Plätzen (wie der Goldplan verdeutlicht), sodass man sich als Ausweichmöglichkeit an zu dieser Zeit zahlreich entstandene, auf alte Menschen spezialisierte Privatkrankenhäuser wandte. Während diese Praxis für die Familien finanziell relativ günstig war, weil ab 1973 alle nicht von den Krankenkassen übernommenen Medizinkosten der über 70-Jährigen von den Kommunen getragen wurden, belastete sie die Krankenkassen sehr stark. Vor diesem Hintergrund stieg die Zahl der hospitalisierten alten Menschen in den 1990er Jahren auf rund 9 Prozent aller über 80-Jährigen. Denn die Pflege in diesen Kliniken war trotz der hohen Kosten keineswegs befriedigend. Viele spezialisierten sich aus Gründen der Gewinnmaximierung auf das einträgliche Geschäft mit den Alten, ohne qualifizierte Pflege anzubieten. Gleichzeitig wuchs die Zahl der bettlägerigen alten Menschen stetig an, was schließlich Mitte der 1990er Jahre als schwerwiegendes soziales Problem erkannt wurde.

Eine strukturelle Neuordnung war notwendig, in der die Vergesellschaftung der Pflege vorangetrieben werden konnte. Mit dieser Intention wurde 2000 die gesetzliche Pflegeversicherung nach deutschem Vorbild eingeführt. Sie sollte nicht nur eine bessere Absicherung der Alten ermöglichen, sondern auch zu einer verstärkten Übernahme der sozialpolitischen Verantwortung durch die Kommunen führen. Darüber hinaus hoffte man, dass zahlreiche nicht profitorientierte Organisationen entstehen und Dienstleistungen der Altenpflege übernehmen würden.

Aufkommen neuer Wissensformationen

Dieser radikale Strukturwandel der Gesellschaft fordert zugleich eine umfassende Reflexion über das vorhandene Wissen, was sich auch in der Neuprägung bestimmter Begriffe äußert. Besonders auffällig ist dies beim Begriff für Pflege kaigo. Dieses Wort ist zwar in der japanischen Sprache nicht völlig neu, doch es ist offensichtlich, dass es erst angesichts der dramatischen Lage gebräuchlich wurde, denn es wurde erst 1983 in das Standardwörterbuch Kôjien eingetragen. Der Gebrauch dieses Begriffs wurde schließlich durch die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung im Jahre 2000 verstärkt, die von den Massenmedien als völlig neuartig und gar revolutionär gefeiert wurde.

Die Verbreitung von kaigo in der japanischen Gesellschaft steht für einen elementaren Wertewandel, in dem die Pflege der alten Menschen zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe wurde. Es entstand eine neue diskursive Wissensformation, wodurch erst der soziale Bereich namens "Pflege" entstand. Dazu gehört auch die Etablierung des Ausbildungssystems für Altenpfleger im Fach "Soziale Wohlfahrt" (Shakai fukushi gakka) an mehreren Universitäten. Dieses Fach ist ein Teil der neuen Wissensformation, die auf das gesellschaftliche Bedürfnis antwortet.

Doch nach der Einführung der Pflegeversicherung entstand ein neuer Diskurs. Denn mit der Bedeutungseinschränkung auf Altenpflege ging der Aspekt der Fürsorge für die Gesamtperson einschließlich ihrer emotionalen Bedürfnisse verloren. Das Wort kaigo konnte zwar neben kango für Krankenpflege, kaijo für Behindertenbetreuung und ikuji für Kinderpflege den Bereich der Altenpflege abdecken. Es fehlte jedoch ein Oberbegriff, der all diese verschiedene Pflegebereiche und -aspekte umfassen und auch die emotionale Seite dieses Handelns zum Ausdruck bringen konnte. Offensichtlich war in der japanischen Sprache diese Ausdrucksmöglichkeit nicht vorhanden, sodass man begann, die englische Bezeichnung care als japanisiertes Fremdwort kea zu verwenden. Während sich die Bezeichnung kaigo für den engen Bereich der Altenpflege mit bürokratisch-technischer Konnotation im Kontext der Pflegeversicherung etabliert hat, deckt kea als Oberbegriff alle Pflegebereiche wie Kinder-, Kranken- und Altenpflege und auch den Bereich der Sterbehilfe mit der Konnotation der Fürsorge ab.

Im Rahmen dieses Fürsorgediskurses kam auch eine kritische Reflexion der Bezeichnung von dementen Personen auf. Das bis dahin geläufige hôchishô (Demenz) wurde als unangemessen und politisch unkorrekt empfunden und 2004 durch ninchishô (Kognitionsstörung) ersetzt.

So entstand die neue Wissensformation um Care und Pflege. Seitdem ist das Wort kea ein inflationär verwendeter Ausdruck, der aber auch die gesellschaftliche Befindlichkeit widerspiegelt.

Demenz als soziales Problem

Die oben genannte Umbenennung verweist auf die Sensibilisierung für die Problematik der Altersdemenz, die in der japanischen Gesellschaft wesentlich früher einsetzte als in Deutschland. Ein möglicher Grund liegt darin, dass die innerfamiliäre Pflege der dementen Personen zunehmend zur Belastung wurde, was bereits Anfang der 1970er Jahre öffentlich thematisiert wurde. Der Roman "Kôkotsu no hito" (Der Mann in Ekstase) von Sawako Ariyoshi erzählt von einem dement werdenden alten Mann, der in der Familie von seiner Schwiegertochter betreut wird. Offensichtlich konnten sich viele Leser(innen) mit der Figur der Schwiegertochter identifizieren, dieser Roman wurde damals zu einem Bestseller. Seit dieser Zeit ist die Frage, wie man mit dement werdenden alten Menschen umzugehen hat, ein gesellschaftliches Thema.

Eine mögliche Antwort auf diese Frage bietet die Pflegeeinrichtung "Takurôsho Yoriai", die sich um schwer demente Personen kümmert. Sie entstand 1995 auf Eigeninitiative dreier Pflegerinnen in der Stadt Fukuoka, die mit ihrer Arbeit in konventionellen Großpflegeheimen unzufrieden gewesen waren und mit ihrem Konzept der multifunktionalen Gruppenheime ein innovatives Pflegekonzept entwickelten. Hier werden zwei Fallbeispiele aus dem Umfeld dieser Einrichtung vorgestellt, um konkrete Probleme zu diskutieren, die im Zusammenhang der Altersdemenz in der japanischen Gesellschaft entstehen.

An Frau Anami sehen wir, dass in der japanischen Gesellschaft mittlerweile die Pflege so weit institutionalisiert ist, dass eine Person ihrem Wunsch entsprechend außerhalb ihrer Familie bis zu ihrem Tod gepflegt und begleitet werden kann. Hier spielt die Selbstbestimmung von Frau Anami eine zentrale Rolle, und das Engagement des Leiters der Einrichtung Yoriai, Herrn Murase, gründet sich auf den Respekt vor dieser Selbstbestimmung. Dieser Umstand ist sicherlich neu in der japanischen Gesellschaft. Möglich wurde dies durch die Einführung der Pflegeversicherung, aber auch dadurch, dass sich durch den Diskurs um die Konzepte "Pflege" (kaigo) und "Fürsorge" (kea) Sensibilität für solche Fragen verbreitete.

Fallbeispiel 1: Frau Anami*

Frau Anami (geb. 1905) lebte seit 1977 allein, nachdem sie ihren Ehemann, der an Krebs erkrankt war, bis zu seinem Tod gepflegt hatte.

Sie entschied sich, allein in ihrem Haus zu bleiben und später in ein "Care-House", ein privatwirtschaftlich geführtes Altenheim, zu ziehen, das sich in der Nähe ihres bisherigen Wohnortes befand. Diese Entscheidung traf sie bewusst, um im lokalen Kontext bürgerschaftlich aktiv bleiben zu können. Als sie 90 Jahre alt wurde, brach sie sich einen Oberschenkel. Mit der Zeit wurde deutlich, dass sie sich nicht mehr selbst versorgen konnte und so wurde sie 2001 95-Jährig im genannten Care-House aufgenommen.

2003 brach sie sich erneut einen Oberschenkel und wurde in eine Klinik eingeliefert. Der zuständige Arzt entschied sich wegen des hohen Alters gegen eine Operation, und Frau Anami war fortan auf einen Rollstuhl angewiesen. Nach dem siebenmonatigen Klinikaufenthalt wurde sie entlassen, und für sie war klar, dass sie in ihr Care-House zurückkehren wollte. Doch das Care-House war zunächst nicht bereit, Frau Anami wieder aufzunehmen, weil sie ein Pflegefall wurde und man bei ihr zudem eine Frühphase der Demenz festgestellt hatte (dies bedeutete die japanische Pflegestufe 3, und dieses Care-Hause war trotz seines Namens nicht auf Pflegefälle ausgelegt).

Da aber der Leiter der Einrichtung Yoriai Frau Anami durch die Tagespflege sehr gut kannte (Frau Anami hatte die Tagespflege von Yoriai besucht, bevor sie im Care House aufgenommen wurde), organisierte er in der Funktion des Care-Managers (eine Koordinationsstelle, die im Rahmen der Pflegeversicherung eingerichtet wurde) ein halb informelles, halb institutionelles Unterstützungsnetzwerk und ermöglichte es so, dass Frau Anami in der gewohnten Umgebung weiter leben konnte.

Nach etwa fünf Monaten wurde Frau Anami schwächer und kam in die Pflegestufe 4. Langsam verlor sie den Appetit und verstarb 99-jährig in der Einrichtung für Kurzzeitpflege, das sich im selben Gebäude befand wie das Care-House. Sie konnte ihrem Wunsch entsprechend in ihrer gewohnten Umgebung von Angehörigen, Freunden und Mitarbeitern der Einrichtungen bis zu ihrem Tod begleitet werden. Auch zu ihrer Beerdigungszeremonie kamen alle Beteiligten.
Nach ihrem Tod wurde das Unterstützungsnetzwerk weiter aufrechterhalten. So entstand "Fureai kai" (Zusammenkunft), dessen Mitglieder durch regelmäßige Sitzungen die Möglichkeiten der lokalen Fürsorge für alte Menschen ausloten.

* Die Namen der hier vorgestellten dementen Personen wurden vom Autor geändert.

Auf der anderen Seite wird an diesem Fallbeispiel auch das Defizit des japanischen Pflegesystems sichtbar. Denn es war die persönliche Bindung zwischen dem Leiter Herrn Murase und Frau Anami, durch die es dazu kam, dass Herr Murase diesen Fall als Care-Manager übernahm und sich über den institutionellen Rahmen hinaus für Frau Anami einsetzte. Die Besonderheit bei der Bildung dieses Netzwerkes ist die Tatsache, dass es Herrn Murase gelang, formelle Unterstützungsinstitutionen (das Care-House, die Kurzzeitpflegeeinrichtung und ein anderes privatwirtschaftliches Pflegeunternehmen) und informelle Unterstützer (Angehörige, Freunde, Nachbarn) zusammenzubringen und ein nachhaltiges Beziehungsgeflecht im lokalen Kontext zu bilden. Herr Murase sieht eine Aufgabe von Yoriai darin, ein lokales Netzwerk zu bilden, wobei die Einrichtung Yoriai unter anderem auch eine Koordinations- und Vermittlungsrolle übernimmt. Doch die Initiative hier war rein privat und zufällig. Hätten sich die beiden nicht gekannt, wäre Frau Anami wie die meisten Menschen in ihrer Situation von einer anderen, ihr unbekannten Pflegeeinrichtung aufgenommen und in der Sterbephase in eine Klinik geschickt worden.

Das Beispiel von Frau Hayashi ist zunächst nicht ungewöhnlich für den Umgang mit Demenzerkrankungen in der japanischen Gesellschaft, die Familienangehörigen bemerken zumeist als erste die Veränderung der Geistesverfassung der betreffenden Person. Häufig sind sie ratlos, und es vergeht Zeit, bis sie sich entschließen, eine Beratungsstelle aufzusuchen. Es kommt immer wieder vor, dass sich die Angehörigen wegen des Zustandes der betreffenden Person schämen und davor scheuen, dies direkt anzusprechen.

Fallbeispiel 2: Frau Hayashi

Frau Hayashi (geb. 1923) wirkte etwa zehn Jahre lang in der Nachbarschaft aktiv als Wohlfahrtsvorsteherin (minsei iin) und war daher in der lokalen Gemeinde allgemein bekannt. Ihre Tochter, die im Haus nebenan wohnte, bemerkte eines Tages eine Veränderung in der geistigen Verfassung ihrer Mutter, die bei der Bestellung von Waren Fehler machte. So ging die Tochter zum örtlichen Gesundheitsamt, wo ihr der Besuch eines neurologischen Facharztes empfohlen wurde. Sie begleitete Frau Hayashi zum medizinischen Test, und es wurde Demenz in einem frühen Stadium festgestellt. Im Gespräch mit dem Arzt wurde vereinbart, Frau Hayashi medikamentös zu behandeln und sie zu einer Tagespflegeeinrichtung zu bringen, in der auch Rehabilitationsübungen angeboten wurden. Eine Zeit lang ging sie gern zu dieser Einrichtung, doch als ihre Demenzerkrankung fortschritt, konnte sie die Übungen nicht mehr mitmachen. Auch begann sie um diese Zeit ihr Haus zu verlassen und umherzustreifen.

Durch einen Zufall erfuhr die Tochter von der Einrichtung Yoriai, die sich in ihrer Nachbarschaft befand und solche Demenzfälle aufnahm, die anderswo abgelehnt wurden. Frau Hayashi wurde von Yoriai aufgenommen und besuchte die Einrichtung tagsüber. Anfangs konnte sie selbstständig zu Fuß dorthin gehen, da sie die Umgebung sehr gut kannte. Doch mit der Zeit nahm ihre räumliche Orientierungsfähigkeit immer stärker ab und sie lief immer häufiger weg. Obwohl die Tochter das Problem erkannte, zögerte sie lange, es in der Einrichtung anzusprechen, weil die Pflege ihrer Mutter in diesem Stadium für die Einrichtung eine wesentlich größere Arbeitsbelastung mit sich bringen würde. Doch beim Gespräch mit Angeder damaligen Leiterin der Einrichtung Frau Shimomura wurde ihr vorgeschlagen, die Zeit, die Frau Hayashi in der Einricheitung verbrachte, sukzessiv zu verlängern. Während die Tochter der Meinung war, dass die Belastung durch die Betreuung ihrer Mutter, die unter Umständen sehr weit weg laufen konnte (sie hatte in jungen Jahren Leichtathletik betrieben), zu hoch für die Einrichtung sein würde, argumentierte Frau Shimomura, dass es um das Leben von Frau Hayashi ginge.

Deshalb schlug sie vor, Frau Hayashi längere Zeit in der Einrichtung zu lassen, um die Belastung der Tochter zu verringern und ein Unterstützungsnetzwerk in der Nachbarschaft aufzubauen. Dies war aus zwei Gründen notwendig. Zwar ist das Prinzip der Einrichtung Yoriai zum einen so, dass eine Pflegekraft demente Personen begleitet, die die Einrichtung verlassen und umherstreifen wollen, bis diese Personen freiwillig wieder zurückgehen möchten. Doch diese Möglichkeit war angesichts der Zahl der Pflegekräfte begrenzt und die Abwesenheit einer Person wurde auch nicht immer bemerkt. Zum anderen ging Frau Hayashi immer wieder von ihrem Haus aus verloren, wodurch die Tochter häufig allein mit diesem Problem konfrontiert war. Es war daher notwendig, diese Tatsache in der Nachbarschaft bekannt zu machen, sodass entweder die Tochter oder die Einrichtung benachrichtigt werden konnten, wenn jemand Frau Hayashi allein herumlaufen sah. Die Einrichtung Yoriai druckte deshalb einen Informationszettel mit einem Bild von Frau Hayashi aus, den Frau Hayashi selbst, ihre Tochter und ein Pfleger zusammen in örtlichen Geschäften und an Tankstellen verteilten.

Auf diese Weise entstand auf Initiative von Frau Shimomura die informelle Unterstützergruppe "Yoshie san wo kakomu kai" (Gruppe um Frau Yoshie Hayashi), zu der anfänglich auch Professionelle aus dem städtischen Wohlfahrts- und Pflegebereich und örtliche Wohlfahrtsbeauftragte sowie Pfleger der Einrichtung Yoriai und Angehörige gehörten. Da dieses Netzwerk ein Defizit in der kommunalen Pflegearbeit deutlich machte, entwickelte es sich zu einer beständigen Institution, die sich nicht nur auf die Unterstützung von Frau Hayashi beschränkte.

Da wie bereits im ersten Abschnitt dargestellt die gesellschaftliche Norm, dass die Familienangehörigen die Pflege der alten Menschen übernehmen sollten, in der japanischen Gesellschaft vorherrschend ist, möchte man die Probleme innerhalb der Familien lösen. Auch in diesem Fall zögerte die Tochter lange, bis sie sich entschloss, Beratung vom städtischen Gesundheitsamt einzuholen. Und auch später verschwieg sie gegenüber Yoriai lange Zeit das beginnende "Herumlaufen" ihrer Mutter. Erst nachdem die Leiterin von Yoriai auf die in solchen Fällen lebensbedrohlichen Gefahren hinwies, willigte die Tochter ein, das Problem gemeinsam mit Yoriai anzugehen.

An diesem Beispiel wird das grundsätzliche Prinzip dieser Einrichtung sichtbar, den Willen der dementen Person zu respektieren, auch wenn er nicht immer klar geäußert wird. So begleiten die Mitarbeiter die dementen Personen, wenn sie aus dem Haus gehen, und versuchen herauszufinden, wohin sie gehen möchten. Auch in anderen Bereichen werden die dementen Personen stets gefragt, ob sie bestimmte Handlungen möchten oder nicht, wenn auch nicht immer eine Antwort erwartet werden kann.

Die beiden Beispiele zeigen auch, auf welche Weise man in konkreten Pflegesituationen mit ethischen Werten wie Selbstbestimmung und Menschenwürde konfrontiert ist. Bemerkenswert hierbei ist, dass die Pfleger, Sozialarbeiter und Angehörigen kaum die aus dem Westen übernommenen Begriffe Selbstbestimmung (jikokettei) und Würde (songen) verwenden, sondern stets von einer "der betreffenden Person angemessenen" (sono hito rashii kaigo) Pflege sprechen. Dies ist ein Konzept, das möglicherweise ohne hoch philosophische Begründungen auskommt und als Ansatz für eine weiterreichende Reflexion auch außerhalb Japans interessant sein kann.

Auf dem Weg zu einer Fürsorgegesellschaft?

In diesem Beitrag sollte deutlich werden, in welch umfassendem Wandlungsprozess die japanische Gesellschaft sich zurzeit befindet. Staat, Familie, Individuum, die Wissensformationen und die alltäglichen Lebenswelten geraten in Bewegung. Mitten in diesem Prozess ist die Lösung noch nicht in Sicht. Doch eine Einrichtung wie Yoriai zeigt einen Weg, der durchaus für andere Gesellschaften von Interesse sein kann. Es geht letztendlich um die Generierung einer neuen Gemeinschaftlichkeit, in der die dement werdenden Personen, so weit es geht, in Ruhe und selbstbestimmt leben können. Gerade die sozialpolitische Lücke in Japan, die zwischen dem Staat und den Privathaushalten klafft, ermöglicht ein experimentelles Vorgehen wie das von Yoriai.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Reiner Klingholz/Gabriele Vogt, Demografisches Neuland. Schneller noch als Deutschland muss Japan Antworten auf eine schrumpfende und alternde Gesellschaft finden, Berlin-Institut Discussion Paper 11/2013, S. 4.

  2. Ebd., S. 30.

  3. Vgl. Masako Amano, Oi no kindai (Die Alterung und die Moderne), Tokio 1999, S. 18f.

  4. Vgl. R. Klingholz/G. Vogt (Anm. 1), S. 4.

  5. Vgl. WHO, World Health Statistics 2015, Externer Link: http://www.who.int/gho/publications/world_health_statistics/2015/en/ (3.8.2015).

  6. Vgl. John Creighton Campell, How Policies Change. The Japanese Government and the Aging Society, Princeton 1992, S. 220.

  7. Ausführlich dazu Shingo Shimada/Christian Tagsold, Alternde Gesellschaften im Vergleich. Solidarität und Pflege in Deutschland und Japan, Bielefeld 2006.

  8. Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Herausforderung des Sozialstaates, Frankfurt/M.1997, S. 50.

  9. Vgl. Kôseishô, Kôsei hakusho (Weißbuch des Gesundheitsministeriums), Tokio 2000, S. 60.

  10. Vgl. Yûzô Okamoto, Kôreisha iryô to fukushi (Medizin und Wohlfahrt für Alte), Tokio 2003, S. 71f.

  11. Vgl. dazu S. Shimada/C. Tagsold (Anm. 7).

  12. Vgl. Chizuko Ueno, Kea no shakaigaku. Tôjisha shuken no fukushishakai e (Soziologie der Fürsorge. Auf dem Weg zu einer Wohlfahrtsgesellschaft mit aktiven Betroffenen), Tokio 2012, S. 35.

  13. Näheres dazu siehe S. Shimada/C. Tagsold (Anm. 7), S. 93–110.

  14. Vgl. C. Ueno (Anm. 12), S. 37.

  15. Sawako Ariyoshi, Kôkotsu no hito (Der Mann in Ekstase), Tokio 1972; engl. Ausgabe "The Twilight Years", Tokio 1984.

  16. Von 2013 bis 2014 wurde am Institut für Modernes Japan der Universität Düsseldorf ein empirisches Forschungsprojekt mit dem Titel "Altersdemenz und lokale Fürsorge im deutsch-japanischen Vergleich" durchgeführt, einige der Befunde werden hier vorgestellt. Die gesamte Auswertung wird 2016 unter dem Titel "Altersdemenz und lokale Fürsorge. Ein deutsch-japanischer Vergleich" im transcript Verlag erscheinen. Für die finanzielle Unterstützung dieses Projektes seien dem DAAD und der Japan Society for Promotion of Science gedankt.

  17. Zur Geschichte der Einrichtung vgl. Kenji Toyota/Kunihiro Kuroki, Takurôsho Yoriai kaitai shinnsho (Neue anatomische Tafel zur Alteneinrichtung Yoriai), Tokio 2009.

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Dr. phil., geb.1957; Universitätsprofessor und Inhaber des Lehrstuhls für Modernes Japan II mit sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Universitätsstr. 1, 40225 Düsseldorf. E-Mail Link: shimada@phil.hhu.de