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Ära Kohl? | 1980er Jahre | bpb.de

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Ära Kohl? Eine Kanzlerschaft in den 1980er Jahren - Essay

Patricia M. Clough

/ 12 Minuten zu lesen

Als Kanzler prägte und verkörperte Helmut Kohl die lethargische, konservative Bonner Republik der 1980er Jahre. Erst ganz am Ende des Jahrzehnts gab er seiner Karriere und der deutschen Geschichte eine entscheidende Wendung.

Es war auf einem Empfang Ende 1982 in Bonn, als mir erste Anzeichen eines gewissen Wandels auffielen. Vertreter der neuen CDU/FDP-Koalition und diverse Personen aus ihrem Umfeld waren zugegen, und zu meinem Erstaunen begrüßten mehrere von ihnen Damen mit Handkuss. Nun, ich wusste, dass der Handkuss in traditionelleren, vornehmen Kreisen, besonders im Süden, nicht überaus ungewöhnlich war. Aber es war das erste Mal, dass ich ihn in Bonn sah. Ein Handkuss wäre bei den Sozialdemokraten, die bis dahin 13 Jahre lang den Ton angegeben hatten, unvorstellbar gewesen.

Diese Beobachtung mochte nebensächlich sein, aber sie führte mir plastisch vor Augen, dass in der kleinen Hauptstadt Westdeutschlands Veränderungen bevorstanden. Es ging nicht nur um neue Namen und Gesichter in den Ministerien oder auch nur um neue politische Strategien. Es gab eine merkliche Veränderung in der Atmosphäre, im Stil, in den Einstellungen, und mehr als alles andere verkörperte der neue Kanzler Helmut Kohl persönlich die neue Stimmung. Ironischerweise handelte es sich dabei nicht um die "geistig-moralische Wende", die Kohl im Sinn hatte. Dennoch waren es ein Veränderungen, die die 1980er Jahre in Westdeutschland prägen sollten.

Von Brandt zu Schmidt zu Kohl

Der erste große Gezeitenwechsel der Nachkriegsjahre hatte, natürlich, 1969 stattgefunden, als Willy Brandt mit der ersten sozialliberalen Koalition an die Regierung gekommen war. Angesichts der heutigen Politikverdrossenheit ist es schwierig, sich das Ausmaß an Begeisterung und Hoffnung vorzustellen, das dadurch bei progressiv und liberal Gesinnten sowie Intellektuellen in der Bundesrepublik und anderswo ausgelöst wurde. Das galt insbesondere für die junge, nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Generation, die gegen die spießige, autoritäre, bürgerliche und häufig vom Nazismus beeinflusste Generation ihrer Eltern aufbegehrte und sich bereits an massiven Studentenprotesten beteiligt hatte. "Ein ganz neues Lebensgefühl hatte sich eingestellt", schrieb Marion Gräfin Dönhoff, Herausgeberin der "Zeit", später.

Willy Brandt selbst, unbelastet vom Nazismus und mit einer heroischen Vergangenheit als Bürgermeister West-Berlins während einiger der angespanntesten Jahre des Kalten Krieges, einschließlich des Mauerbaus 1961, war für viele eine inspirierende Figur und erfreute sich größter Beliebtheit. Er versprach eine neue, freiere, offenere und egalitärere Gesellschaft, umfassende Reformen und, besonders aufregend, in Form seiner Ostpolitik einen neuen außenpolitischen Ansatz gegenüber der Sowjetunion und den östlichen Nachbarn. Gleichzeitig aber war er höchst umstritten und polarisierte die Gesellschaft: Konservative und insbesondere ältere Menschen waren von den Veränderungen, für die er sich einsetzte, entsetzt oder zumindest befremdet. Rechtsaußenparteien schossen aus dem Boden.

Im Laufe der 1970er Jahre ließ die Begeisterung allmählich nach. Das "Wirtschaftswunder" der Nachkriegszeit versandete in den Ölkrisen, die Arbeitslosenquote stieg an, und die Finanzierung der vielen geplanten Reformen erwies sich als schwierig. Teile der außerparlamentarischen Opposition glitten in den Terrorismus ab und verübten furchtbare Anschläge; die Bevölkerung war entnervt und verunsichert, und die Regierung sah sich 1972 gezwungen, den höchst umstrittenen "Radikalenerlass" zu beschließen, der mutmaßlich verfassungsfeindlichen Personen jegliche Tätigkeit im öffentlichen Dienst verbot. 1974 trat Brandt zurück. Der Auslöser war die Enttarnung eines seiner engsten Mitarbeiter, Günter Guillaume, als DDR-Spion. Allerdings kaschierte dies die Tatsache, dass ihm und seiner Partei bereits klar geworden war, dass er mit den vielen Herausforderungen, mit denen er konfrontiert war, nicht fertig werden würde. Helmut Schmidt – kompetent, pragmatisch, erfahren – übernahm das Amt.

Im September 1977 nahm ich als Korrespondentin für die Londoner "Times" meine Tätigkeit in Bonn auf. Gleich mein erster Artikel behandelte die Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer am 5. September, und so lernte ich Schmidts Regierungsstil rasch kennen: intensiv, wortgewandt, streng, sachlich, effizient, meisterlich wie arrogant. Und tough. Er hatte bereits mit den Attentaten auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback und den Bankmanager Jürgen Ponto fertig werden müssen, die Entführung der vollbesetzten Lufthansamaschine "Landshut" und die Ermordung Schleyers sollten bald folgen. Krisenmanagement war an der Tagesordnung. Die berauschenden Tage unter Brandt waren vorbei, die Atmosphäre in Bonn (und wie ich empfand: auch anderswo) glich einer bis zum Äußersten gespannte Saite: Durch jede neue Entwicklung konnte sie bedenklich in Schwingung geraten.

Dann kam die schwierige Frage nach der Stationierung von NATO-Mittelstreckenraketen in Westdeutschland auf; Schmidt hatte darauf bestanden, diese mit Verhandlungen der Supermächte über eine beidseitige Reduzierung solcher Waffensysteme zu verknüpfen. Hinzu kamen weitere "Baustellen" wie steigende Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und andere schwerwiegende wirtschaftliche Probleme, die größere Teile der FDP weg von der SPD und hin zur CDU zogen, deren wirtschaftspolitische Vorstellungen ihren eigenen näherlagen. Schließlich waren es diese Themen, die 1982 zum Ende der sozialliberalen Koalition führten.

In acht Jahren Kanzlerschaft hatte Schmidt mit seiner Persönlichkeit und seinem Stil die bundesdeutsche Hauptstadt derart stark geprägt, dass es für mich und viele andere quasi unvorstellbar war, dass ein anderer das Ruder übernehmen würde, am allerwenigsten der provinziell und linkisch erscheinende Helmut Kohl. Später schrieb ich: "Wir hatten uns alle an eine Kanzlerschaft gewöhnt, die Probleme in einem flotten, managementartigen Stil anging – Analyse, Entscheidung, Handeln – natürlich verbunden mit einem politischen Verkauf der Ergebnisse. Hochbegabte Helfer arbeiteten Tag und Nacht, während ihr Vorgesetzter – geschäftig, spöttisch, manchmal unsympathisch – die internationale Szene mit sicherem Schritt durcheilte, ein exzellentes Englisch sprechend, eine neue Weltvision dartuend, Aufmerksamkeit für sich reklamierend. Es schien, als gäbe es keinen anderen Weg, Deutschland zu regieren. Der große, unbekümmerte, scheinbar lethargische Oppositionsführer schien zu jener Zeit eine unwahrscheinliche Alternative."

Erneuerung?

Aber ebenjener Oppositionsführer wurde tatsächlich Kanzler, und man könnte behaupten, dass die 1980er Jahre in Westdeutschland tatsächlich am 1. Oktober 1982 begannen, als Helmut Kohl den Amtseid ablegte. Dieser konservative Gezeitenwechsel war in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von 1969. Er war nicht das Ergebnis eines Wahlsiegs zugunsten inspirierender neuer Ideen, sondern einfach eines Seitenwechsels der FDP. Die elektorale Bestätigung des Wechsels folgte erst im Jahr darauf – fiel dafür aber umso durchschlagender aus. Brandt war ein extrem charismatischer Kanzler gewesen, Kohl war alles andere als das. Und während die Politik der sozialliberalen Koalition eine dramatische Abkehr vorheriger Regierungspolitik bedeutet hatte, setzte Kohl in wichtigen Bereichen auf Kontinuität. So setzte er etwa die Ostpolitik seiner Vorgänger fort, die die CDU zuvor noch so bitter bekämpft hatte. Zugleich versuchte er aber auch, konservative Werte aus der Vergangenheit zurückzuholen – möglicherweise in der Hoffnung, seinerseits ein "neues Lebensgefühl" befördern zu können.

Kohl forderte nichts weniger als eine "geistig-moralische Wende". Als Oppositionsführer hatte er Schmidt vorgeworfen, dem Land keine "geistige Führung" zu geben. Kurz nach seiner Amtsübernahme verkündete er in seiner Regierungserklärung: "Die schweren materiellen Probleme, vor denen wir stehen, sind (…) nur zu lösen, wenn wir uns den geistig-moralischen Herausforderungen unserer Zeit stellen. Wir stecken nicht nur in einer wirtschaftlichen Krise. Es besteht auch eine tiefe Unsicherheit, gespeist aus Angst und Ratlosigkeit – Angst vor wirtschaftlichem Niedergang, Sorge um den Arbeitsplatz, Angst vor Umweltzerstörung, vor dem Rüstungswettlauf, Angst vieler junger Menschen vor ihrer Zukunft."

Er griff das Thema auch in anderen Reden immer wieder auf und sah die Hauptursache für die beschriebenen Missstände in "einer seit über einem Jahrzehnt betriebenen Verunsicherung im Verhältnis zu unserer Geschichte, zu unseren grundlegenden ethischen Werten und sozialen Tugenden, zu Staat und Recht und letztlich auch in einer Verunsicherung in unserem nationalen Selbstverständnis". Viele Werte, so behauptete er, seien im "Abfalleimer der Geschichte" gelandet, darunter Religion, Autorität, Familie und Respekt vor dem Alter. "Immer mehr Menschen wurden im letzten Jahrzehnt der ethischen und moralischen Orientierungspunkte für ihr Handeln beraubt. Wachsende Verunsicherung und zunehmende Orientierungslosigkeit führten zu einem weitverbreiteten Kultur- und Fortschrittspessimismus und Zukunftsangst." Er kündigte einen "historischen Neuanfang" an, eine "Politik der Erneuerung" sowie der "Freiheit, Dynamik, Selbstverantwortung". Ungeachtet aktueller Trends sprach er von "Heimat", "Vaterland" und "Liebe zu Deutschland" und forderte Klugheit, Mut, Maßhalten und vor allem Optimismus.

Kohls "geistig-moralische Wende" wurde in der Bundesrepublik mit beträchtlichem Spott aufgenommen. In seinem Bemühen um eine Renaissance konservativer Werte war er jedoch keineswegs allein. In den USA betrieb Präsident Ronald Reagan eine konservative Konterrevolution und forderte Patriotismus, Autorität, Freiheit vor staatlicher Einmischung und eine Rückkehr zu Familienwerten. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher setzte sich im Vereinigten Königreich für eine Rückkehr zu den "viktorianischen Werten" des 19. Jahrhunderts ein. Auch ihre Ideen wurden breit kritisiert.

Tatsächlich erwies sich die "geistig-moralische Wende" als Misserfolg. Nach und nach stellte sich heraus, dass Kohl zwar über zahlreiche Stärken verfügte, aber "the vision thing", wie der erste Präsident Bush es abfällig nannte, gehörte nicht dazu – dies wurde später auch mit den Versprechen "blühender Landschaften" in der ehemaligen DDR und einer europäischen Währung ohne die erforderlichen Grundlagen augenfällig. Mit der Zeit musste er erkennen, dass sich Werte, insbesondere in einer Demokratie, nicht durch die Regierung oktroyieren lassen, sondern dass Änderungen von Anschauungen aus der Gesellschaft selbst erwachsen müssen.

Es zeigte sich, dass viele der gesellschaftlichen Entwicklungen, die bereits vor und während der sozialliberalen Ära eingesetzt hatten, tief greifend und letztlich unumkehrbar waren. Junge Leute würden ihre Haare nicht plötzlich wieder kurz schneiden, ihre Wohngemeinschaften oder "wilden Ehen" aufgeben und wieder zu ihren Eltern ziehen. Frauen würden ihre Karrieren nicht aufgeben und an den Herd zurückkehren. Menschen, die sich von alten autoritären Konventionen emanzipiert hatten, waren nicht länger geneigt, anderen zu gehorchen, die ihnen vorschrieben, wie sie ihr Leben gestalten sollten. Die Friedens-, Antiatomkraft-, Umwelt- und Frauenbewegungen setzten ihr Engagement ungebrochen fort. Die Heilung der Beziehung der Deutschen zu ihrer eigenen nationalen Identität stand noch in ferner Zukunft.

Mehr als auf den ersten Blick erkennbar

Gleichzeitig hielt sich unter linken Politikern und Intellektuellen, so meine ich, nach ihrer eigenen bahnbrechenden Zeit an der Macht ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber der neuen Regierung. Und dieses fand in der Person Helmut Kohls nur eine allzu leichte Zielscheibe. Obwohl er ein höchst erfolgreicher Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz gewesen, in der CDU kometenhaft aufgestiegen und mit überwältigender Mehrheit zum CDU-Vorsitzenden gewählt worden war, kam Kohl in Bonn zunächst nicht besonders gut an. Als Kanzler erschien er im Vergleich zu Brandt und Schmidt provinziell, unbeholfen und unfähig, sich auszudrücken. Auch seine äußere Erscheinung war unglücklich: Neben seiner Schwerfälligkeit und Größe hatte er die Angewohnheit zu blinzeln, als werde er von grellem Licht geblendet, dazu ein seliges Lächeln, das Menschen, die nicht zu seinen Anhängern gehörten, extrem reizen konnte. Wie ein Berater einräumte, war seine größte Schwäche eine "leichte sprachliche Ungenauigkeit", und auch Gräfin Dönhoff merkte an: "Die Leichtfertigkeit, mit der Kohl zuweilen mit dem Wort umgeht, hat etwas Erschreckendes."

In ihrer harmlosesten Form waren es amüsante oder unglückliche Schnitzer, aber manchmal kam es auch zu schwerwiegenden internationalen Ärgernissen. In diesem Kontext erwies sich das enorme Selbstvertrauen, mit dem Kohl Spott abschüttelte, als weiteres Problem. Obgleich diese Selbstsicherheit zweifellos zu seinem Erfolg beitrug, nahm sie ihm auch die Fähigkeit, sich selbst so zu sehen, wie andere es taten. Zum Beispiel sah ich 1986, wie er mit Margaret Thatcher eine britische Militärbasis besuchte, in einen Panzer kletterte und dabei einen unförmigen grauen Overall trug, in dem er sich der ganzen Welt wie ein übergroßes Baby in einem Strampler präsentierte. Vollkommen unbefangen und glücklich lächelnd strahlte er eine ungeheure Selbstzufriedenheit aus.

Später las ich, dass ein solcher Auftritt den Karikaturisten und Mitbegründer des Satiremagazins "Titanic" Hans Traxler inspiriert hatte, Kohl den Beinamen "Birne" zu verpassen. Der Spottname war ein Geschenk des Himmels für Komiker, Kabarettisten und andere Karikaturisten – und Inspiration für zahllose Bücher und Anthologien über Kohls Stilblüten. Während der ersten Jahre seiner Kanzlerschaft lenkte die Flut von Hohn und Spott, die sich über den Kanzler ergoss, von seinen tatsächlich vorhandenen, tieferen Stärken ab. Nach und nach aber verebbte diese Welle, und die Witzfigur "Birne" erhielt spätestens 1987 den Todesstoß, als die Junge Union "I like Birne" als Wahlslogan benutzte.

Wenige seiner Kritiker verstanden, oder wollten verstehen, dass Kohl damals mehr als jeder andere westdeutsche Politiker einen direkten Draht zu den "gewöhnlichen Deutschen" hatte, natürlich insbesondere zu CDU-Wählern. Was später als "System Kohl" bezeichnet wurde, war ein umfangreiches, fein verästeltes Netzwerk persönlicher Kontakte, durch das er ständig mit dem Denken und Fühlen seiner Wählerbasis verbunden war und auf das er sich im Allgemeinen weitaus stärker verließ als auf das, was er von Meinungsforschern oder Kollegen hörte. Der "Zeit"-Journalist Gunter Hofmann sprach deshalb auch von einer "osmotischen Kanzlerschaft".

Als er ins Amt kam, repräsentierte Kohl fast die Hälfte der Wählerschaft, nämlich diejenigen, die von den Veränderungen der 13 Jahre zuvor genug hatten und sich nach Sicherheit und Stabilität sehnten, die Kohl und seine Koalition verhießen. Es handelte sich dabei um Menschen, die nicht darüber spöttelten, dass Kohl ein Aquarium mit Zierfischen in seinem Büro hatte, dass er seinen Urlaub jedes Jahr im selben Bilderbuchdorf in den österreichischen Alpen verbrachte oder dass sein Leibgericht der einfache pfälzische Saumagen war. Er war "gewöhnlich" wie sie. Die streitbareren und wortgewandten Roten mochten ihn mit Hohn überschütten, aber mein Eindruck war, dass die Masse der "Durchschnittsdeutschen" erleichtert war, dass Kohl an die Macht gekommen war. Insofern polarisierte er auf seine Art die deutsche Gesellschaft genauso wie zuvor Willy Brandt.

Und vielen passte sein Stil. Anders als der Krisenmanager Schmidt entschärfte Kohl Konflikte instinktiv, spielte Schwierigkeiten herunter und verbreitete eine Atmosphäre der Ruhe und Normalität. Seine Reaktionen auf jegliches Thema wurden vorhersehbar: "Das ist für mich überhaupt kein Problem", "Ich sehe keinen Grund warum …", "Ich brauche keine Belehrung in …", "Ich bin gelassen." Irgendwie wurde der Politik damit ein Großteil der Spannung genommen, sie wurde langweilig und banal.

Kohls Wähler hatten bald guten Grund, beruhigt zu sein. Dank der Regierungspolitik gab es in der Bonner Republik wieder einen Wirtschaftsaufschwung, und 1985 konnte Elisabeth Noelle-Neumann, die Leiterin des Allensbacher Instituts für Demoskopie, berichten, dass 55 Prozent der Westdeutschen dem kommenden Jahr mit Hoffnung und nur 14 Prozent mit Angst entgegensahen – das war das größte Maß an Optimismus seit sieben Jahren. Kohl hatte die Krise um den NATO-Doppelbeschluss gemeistert und einige bedeutende Reformen auf den Weg gebracht, etwa in der Gesundheits- und in der Steuerpolitik.

Kein Kanzlerbonus

Dennoch blieb Kohl als Person lange Zeit ungewürdigt. Während des größten Teils der 1980er Jahre wurde ihm kein "Kanzlerbonus" zugebilligt. Seine Stärken und Leistungen wurden häufig von Fehltritten in politische Fettnäpfchen überschattet oder von der Kritik an seiner Gewohnheit, Probleme "auszusitzen". Vielen war es regelrecht peinlich, dass er der Kanzler der Bundesrepublik war. So begann eine andere Art Kohl-Witz die Runde zu machen, die gleichermaßen seine eingefleischtesten Kritiker aufs Korn nahm: Kohl steht am Rhein und betet zu Gott um ein Wunder, damit die Menschen endlich an ihn glauben. Das Wunder geschieht und Kohl schreitet über den Rhein. Am Ufer hat sich eine Menschenmenge eingefunden, die ihm dabei zuschaut. Einer der Zuschauer meint höhnisch: "Seht ihr, er kann noch nicht mal schwimmen."

Bei der Bundestagswahl 1987 sank der Stimmenanteil der CDU auf 44,3 Prozent ab, zudem musste die Partei in einer alarmierenden Serie von Landtagswahlen Verluste und Niederlagen hinnehmen. Viele Christdemokraten waren gegen Ende der 1980er Jahre unzufrieden; in ihren Augen war die Führung schwach und uninspiriert, und so formierte sich unter führenden CDU-Mitgliedern sogar eine Art Verschwörung, die darauf abzielte, Kohl als Parteichef abzusetzen. Doch mit seiner immensen politischen Gerissenheit und seinem Machtinstinkt setzte Kohl sich im September 1989 auf dem Bremer Parteitag gegen die internen Kritiker durch.

Politisch betrachtet waren die 1980er Jahre in Bonn hauptsächlich eine Periode der Konsolidierung, in der die Aufbruchsstimmung der frühen 1970er Jahre endgültig verebbte, und somit eine Übergangsphase zwischen zwei wichtigen Wendepunkten der Nachkriegsgeschichte: dem Wechsel 1969 von einer CDU-geführten zu einer SPD-geführten Koalition einerseits und der Wiedervereinigung 1990 andererseits. Hätte Kohl vor 1989 gehen müssen, wäre seine Kanzlerschaft in den Geschichtsbüchern wohl eher überblättert worden. Aber am 9. November jenes Jahres, nicht einmal zwei Monate vor dem Ende der 1980er, fiel die Berliner Mauer. Zwei Wochen später ergriff er mit seinem Zehn-Punkte-Programm für die Vereinigung Deutschlands die Initiative und verwandelte mit einem Schlag sowohl seine Karriere als auch die deutsche Geschichte. Aber das ist die Geschichte der 1990er Jahre.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Marion Gräfin Dönhoff, Von gestern nach übermorgen. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 19842, S. 229.

  2. Zit. nach: Patricia Clough, Helmut Kohl. Ein Porträt der Macht, München 1998, S. 88.

  3. Zit. nach: ebd., S. 88f.

  4. Zit. nach: ebd.

  5. Zit. nach: ebd., S. 115.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Patricia M. Clough für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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Geb. 1938; Journalistin und Autorin; zwischen 1977 und 1996 Deutschlandkorrespondentin für "The Times", "The Sunday Times" und "The Independent" in Bonn und Berlin; lebt in Trevi/Italien und Tanger/Marokko. Externer Link: http://patriciaclough.com