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Tschechien

Hans-Jörg Schmidt Edit Inotai Justyna Segeš Frelak

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In der Öffentlichkeit Bonmots von sich zu geben, gehört zu den Lieblingstätigkeiten des tschechischen Präsidenten Miloš Zeman. Mitunter kann man über die auch tatsächlich lachen. Bei manchen bleibt einem das Lachen allerdings im Halse stecken. Mitte Oktober 2015 etwa, als Zeman die Provinz besuchte und sich vor Bürgern eines kleinen Ortes über die Flüchtlinge wie folgt äußerte: "Die islamischen Flüchtlinge werden sich nicht an die Gesetze des Gastlandes halten. Sie werden das Scharia-Recht befolgen, das heißt untreue Ehefrauen werden gesteinigt, und Verbrechern werden die Hände abgehackt." Die Frauen müssten die Burka tragen. "Ich kann mir Frauen vorstellen, bei denen das eine Verbesserung wäre, aber nur wenige", fügte der Staatschef mit einem süffisanten Lächeln hinzu.

Nein, das ist nicht das Niveau, auf dem das Flüchtlingsproblem generell in Tschechien diskutiert wird. Aber es wird – wie auch in der Slowakei – "Flüchtling" in der Regel mit "Islamist" gleichgesetzt. Das schürt die Sorgen der Menschen, vor allem derer, die noch nie einen leibhaftigen Muslim gesehen haben. Und das hat Wirkung: Nach der jüngsten Meinungsumfrage des Meinungsforschungsinstituts STEM in Prag stellt der islamistische Fundamentalismus für 85 Prozent der Tschechen die größte Gefahr für das Land dar. Gleich dahinter kommt mit 76 Prozent die Zuwanderung von Flüchtlingen. Beide Werte sind seit der letzten Umfrage zu diesem Thema im Mai 2015 um drei beziehungsweise um fünf Prozent gestiegen. Die Angst der Tschechen vor der Politik Russlands – um ein Gegenbeispiel zu nennen – sank im genannten Zeitraum von 59 auf 43 Prozent. In etwa diesem Ausmaß fürchten sich die Tschechen auch vor den USA.

Fragt man nach den Ursachen für die Angst vor Flüchtlingen namentlich aus dem islamischen Kulturkreis, hört man immer dieselbe Antwort: Die Tschechen hätten in der Zeit des Sozialismus 40 Jahre nahezu abgeschlossen von der Außenwelt gelebt. Dass der Fall des Eisernen Vorhangs mittlerweile aber auch schon 25 Jahre her ist, wird dabei übersehen. Es ist im Übrigen auch nicht so, dass nur ältere Menschen Angst vor Fremden äußern. Auch junge Leute sagen einem auf der Straße unverblümt, dass sie diese Leute aus islamischen Ländern unter keinen Umständen bei sich wünschen.

Die regierenden Sozialdemokraten blasen ins gleiche Horn. Und sie werden vor sich hergetrieben von Zeman und dessen politisch immer noch aktivem Vorgänger Václav Klaus. Zeman ist die Haltung der eigenen Regierung zu lasch. Er hat deshalb demonstrativ mit dem slowakischen Premierminister Robert Fico telefoniert und ihm alles Glück für seine Klage beim Europäischen Gerichtshof gegen die von den EU-Innenministern am 22. September 2015 mehrheitlich und gegen den Willen unter anderem Tschechiens und der Slowakei beschlossene Quotenregelung gewünscht. Tschechiens Premierminister Bohuslav Sobotka hatte angekündigt, auf eine Klage verzichten zu wollen, um den Streit mit Deutschland und Brüssel nicht noch weiter eskalieren zu lassen.

Die Kontroverse über die Quoten zwischen den Regierungen in Berlin und Prag soll so heftig gewesen sein, dass es Bundeskanzlerin Angela Merkel abgelehnt haben soll, sich die Argumente von Premierminister Sobotka am Telefon erläutern zu lassen. Das berichtete die Wirtschaftszeitung "Hospodarske noviny" unter Berufung auf Quellen im tschechischen Außenministerium. Dort wurde hierzu verlautet, dass die tschechisch-deutschen Beziehungen durch die Flüchtlingsfrage auf das Niveau von vor 20 Jahren zurückgefallen seien. Sobotka wollte diese Meinung bei einem Empfang der deutschen Botschaft zum 25. Jahrestag der deutschen Einheit jedoch nicht teilen. Fakt ist aber, dass derzeit niemand mehr von der Strategischen Partnerschaft spricht, die Berlin und Prag vor einem halben Jahr feierlich begründet hatten.

Hinzu kommt, dass es in der tschechischen Presse noch nie so viele deutschlandkritische Kommentare wie in den vergangenen Wochen und Monaten gegeben hat. Namentlich die konservative "Lidove noviny" fährt einen scharfen Kurs gegen Berlin. Am 2. September 2015 etwa schrieb sie in einer Art Generalabrechnung: "Deutschland nötigt alle anderen, wozu auch immer es ihm passt. Es hat die Regeln des Stabilitätspakts verletzt, wonach man anderen Euro-Ländern nicht hilft, nur um die eigenen Banken zu retten. Es drückte anderen einen verbindlichen Anteil alternativer Energiequellen auf, obwohl die gar nicht die Bedingungen dafür haben. Es erklärte einseitig die Abschaltung seiner AKW, ohne nach den Konsequenzen für andere zu fragen. (…) Jetzt fordert es, dass alle Länder Flüchtlinge aufnehmen sollen, ohne Rücksicht auf die Regeln. Dabei ist überhaupt nicht klar, wie sich Deutschland die Verteilung der Migranten im Rahmen der EU-28 vorstellt. (…) Wenn die Flüchtlinge die Lager in Tschechien oder Polen verlassen, gehen sie am Ende ja doch nach Deutschland." Eine Woche darauf hieß es in dieser Zeitung, Deutschland sehe seine großzügige Flüchtlingspolitik offenbar als Buße für das von ihm verschuldete Grauen in der Vergangenheit.

Und als eine weitere Woche später Berlin zeitweilige Kontrollen an der Grenze zu Österreich einführte, vermutete das Blatt dahinter eine Rache an Prag für dessen Widerspenstigkeit: "Wenn der Weg über Wien versperrt ist, könnte die Flut der Flüchtlinge nach Tschechien führen. Vielleicht, so die Rechnung, werden wir im Angesicht von zehntausend syrischen Familien an unserer Grenze um die Quote betteln, laut der uns nur ein paar tausend zugeteilt werden. (…) Hoffentlich dauert die ‚zeitweilige‘ deutsche Maßnahme nicht 23 Jahre (wie die sowjetische Besatzung der Tschechoslowakei nach der gewaltsamen Zerschlagung des Prager Frühlings 1968, H.-J. S.)".

Tschechien hat mittlerweile selbst den Grenzschutz nach Österreich hin verstärkt, mit mäßigem Erfolg. An einem Oktoberwochenende gingen 700 aufgebotenen Grenzschützern ganze sieben Flüchtlinge ins Netz. Dass die Flüchtlinge bislang um Tschechien einen großen Bogen machen, hat wohl vor allem mit den Berichten aus den Abschiebelagern zu tun. In diese Haftzentren werden alle Flüchtlinge eingewiesen, die das Land "illegal betreten". Die Zustände dort können von Journalisten nicht überprüft werden, weil man ihnen den Zutritt verwehrt. Es gibt aber Informationen aus Nichtregierungsorganisationen und von Anwälten, die von Bedingungen erzählen, die schlimmer als in regulären Haftanstalten seien.

Martin Rozumek, Anwalt und Direktor der Nichtregierungsorganisation Organizace pro pomoc uprchlikum (Organisation für die Flüchtlingshilfe) schilderte im Oktober 2015 gegenüber dem Schweizer Hörfunk SRF seine Eindrücke: "Es ist eine Schande und widerlich, wie die tschechischen Behörden die Flüchtlinge behandeln. Ich darf die Flüchtlinge nur an einem Fenster und unter Polizeiüberwachung sprechen. Doch freiwillige Helfer von uns haben Zugang zu den Häftlingen. Sie sahen Kinder ohne Schuhe und in schlechten Kleidern und sie waren sicher, dass die Kinder Hunger hatten. Die Leute wissen nicht, warum und für wie lange sie eingesperrt sind. Es fehlt an Dolmetschern und an Rechtsberatung." Solche Bedingungen seien illegal und widersprächen der Europäischen Menschenrechtskonvention, erklärte Rozumek.

In solchen Abschiebelagern saßen im Oktober 2015 über 700 Migranten, darunter 109 Kinder und 51 Jugendliche. Es waren vor allem Menschen aus Syrien, Irak und Afghanistan. Leute, die zumeist aus Zügen Richtung Deutschland herausgeholt wurden, weil sie kein gültiges Visum hatten. In den Lagern werden ihre Habseligkeiten von der Polizei einkassiert, darunter Geld und auch die Mobiltelefone.

Die Inhaftierten müssen in der Regel 42 Tage in den Abschiebelagern zubringen. Haben sie sich auf dem Weg von der Heimat nach Tschechien schon in einem anderen Land registrieren lassen, müssten sie eigentlich dorthin abgeschoben werden. Doch diese Länder nehmen die Menschen nicht mehr zurück. Also drückt man ihnen einen Zettel in die Hand, auf dem sie angewiesen werden, das Land innerhalb einer Woche zu verlassen. Da die meisten nach Deutschland wollen, zeigt man ihnen auch noch den Weg zum Bahnhof. Vorher bekommen sie die konfiszierten Gegenstände zurück und das Geld. Das ist jedoch sehr viel weniger geworden in der Zwischenzeit. Die Tschechen verrechnen nämlich den Aufenthalt, den die inhaftierten Flüchtlinge auch noch selbst bezahlen müssen. 244 Kronen pro Tag, umgerechnet etwa 9 Euro, werden einbehalten. Rozumeks Organisation hat wiederholt vor Gerichten gegen die Behandlung der Insassen der Lager geklagt, erfolgreich. Doch für Innenminister Milan Chovanec, so sagt er, zählt das Recht nicht. "Im Ministerium ist man sogar stolz darauf, wie gut und wirksam die Abschreckung durch die Lager funktioniert." Diejenigen, die die Haftzentren durchlaufen haben, so die Überlegung der Verantwortlichen in Prag, werden ihren Landsleuten schon vermitteln, was es bedeutet, tschechisches Territorium auf dem Weg nach Deutschland zu betreten.

Damit die ungeliebten Fremden das Land rasch verlassen, haben Unbekannte im Oktober 2015 im tschechisch-deutschen Grenzgebiet Verkehrsschilder Richtung Sachsen mit den arabischen Schriftzeichen für "Deutschland" ergänzt.

Dipl.-Journalist, geb. 1953; Korrespondent in Prag; Tigridova 11, 140 00 Praha 4/ Tschechien. E-Mail Link: schmidt.prag@gmail.com