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Flucht in die Krise – Ein Rückblick auf die EU-"Flüchtlingskrise" 2015 | Europäische Integration in der Krise | bpb.de

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Flucht in die Krise – Ein Rückblick auf die EU-"Flüchtlingskrise" 2015

Julian Lehmann

/ 12 Minuten zu lesen

Mit mäßigem Erfolg hangelten sich die EU und ihre Mitgliedstaaten von Krisensitzung zu Krisensitzung über das gescheiterte gemeinsame Asylsystem. Wollen sie handlungsfähig bleiben, müssen sie die Notfallmaßnahmen 2016 weiterentwickeln.

Das Jahr 2015 markiert den vorläufigen Höhepunkt des Trends steigender Asylanträge in der Europäischen Union. Nach Angaben des europäischen Statistikamts ersuchten allein in der ersten Jahreshälfte rund 400000 Menschen internationalen Schutz in der EU; eine Steigerung von etwa 85 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Aktuelle Zahlen aus Deutschland weisen Anfang November 813480 Asylanträge seit Januar aus. Doch aus Zahlen allein lässt sich der Ende 2015 weit verbreitete "Krisendiskurs" nicht erklären. Vielmehr treffen hohe Zugangszahlen von Schutzsuchenden auf eine im Flüchtlingsschutz politisch zerstrittene sowie von den rechtlichen und administrativen Kapazitäten her unterentwickelte EU. Dies führt zu katastrophalen Szenen an den Außen- und Binnengrenzen der Schengen-Zone und auch in den Nicht-Schengen-Transitländern auf der Balkan-Route. Die Anerkennung eines Schutzstatus ist dabei auch in der EU längst keine Garantie mehr für adäquate Versorgung; freiwillige Helfer können staatliche Defizite nur notdürftig kompensieren. Politisch und rechtlich sind bestehende Instrumente (insbesondere die Zuständigkeitsregelung der Dublin-Verordnung) an der Realität gescheitert. Doch bislang bringen die Mitgliedstaaten nicht den politischen Willen für eine tragfähige Neuregelung auf.

Der Großteil der Flüchtlinge in der EU kommt gegenwärtig aus dem Krisenbogen von Syrien bis Afghanistan. In Deutschland kamen bis November 2015 über 60 Prozent aller Asylsuchenden aus nur drei Ländern: Syrien (knapp 40 Prozent), Afghanistan (rund 12 Prozent) und Irak (rund 9 Prozent). Der starke Anstieg der Zugangszahlen von Asylsuchenden ist Teil eines weltweiten Trends. Maßgeblich aufgrund des Krieges in Syrien ist die Zahl der Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge innerhalb von fünf Jahren um ein Drittel auf über 60 Millionen 2015 gestiegen.

Neben diesem Trend sind die Zahlen in der EU aber auch wegen der angespannten Situation in den Nachbarländern Syriens gestiegen. Hier leben nach wie vor etwa 90 Prozent der über vier Millionen syrischen Flüchtlinge. Zwar gibt es keine repräsentativen Daten zu den Gründen der Weiterwanderung. Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks deuten aber darauf hin, dass es neben der dramatischen Lage in Syrien die fehlende langfristige Perspektive in den Erstaufnahmestaaten der Region, aufgebrauchte private Ersparnisse und die Versorgungsmängel waren, die zu einer Weiterwanderung motivierten. Der humanitäre Notfallplan der UN für die Erstaufnahmestaaten hatte ein Deckungsdefizit von 70 Prozent, was sich direkt auf die Situation von syrischen Flüchtlingen auswirkte. Darüber hinaus haben Flüchtlinge aus einem Land wie Syrien, das vor dem Krieg ein mittleres Pro-Kopf-Einkommen aufwies, andere Erwartungen an Versorgung und Perspektiven als etwa Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik.

Humanitäre "Flüchtlingskrise"

Die Unzulänglichkeiten im europäischen Flüchtlingssystem sind seit Jahren bekannt. Dass sich die Situation 2015 zu einer Krise verdichtete, die seit Sommer das politische Tagesgeschehen dominiert, ist auch Folge einer Verkettung von Ereignissen. Am 19. April sank im Seegebiet zwischen Tunesien und Italien ein Schiff mit mutmaßlich über 900 Menschen an Bord, über 800 von ihnen (die genaue Zahl ist nicht bekannt) ertranken. Das Unglück ist ein trauriger Superlativ in einer Reihe von weiteren Bootsunglücken: Von Januar bis März 2015 kamen 479 Menschen im Mittelmeer ums Leben. Bis Juni sank die Zahl der Todesopfer auf 12, vermutlich bedingt durch effektivere Rettungsoperationen und durch die Wahl anderer Routen. Der Land- und Seeweg über die Türkei wurde statt des Seewegs über Nordafrika zur wichtigsten Fluchtroute in die EU.

Die Wahl anderer Fluchtrouten verlagerte indes auch die humanitären Brennpunkte, erst auf Griechenland, den Westbalkan (insbesondere Mazedonien, Serbien und Kroatien), Slowenien und Ungarn, und dann in einer Art politisch-geografischem Jo-Jo wieder zurück nach Griechenland. Ob die Asylsuchenden auf der Route versorgt wurden, hing von der Präsenz des Flüchtlingshilfswerks der UN (UNHCR), privater Hilfsorganisationen und anderer freiwilliger Helfer ab. An den Ankunftsorten der Asylsuchenden in Griechenland verschlechterten sich die ohnehin europarechts- und menschenrechtswidrigen Aufnahmebedingungen weiter. Die Leiterin von Ärzte ohne Grenzen nannte die Lage auf den griechischen Inseln "beschämend", UNHCR bezeichnete sie als "totales Chaos". Auf der Insel Kos kam es Anfang August zu Zusammenstößen, bei denen die Polizei Feuerlöscher und Schlagstöcke gegen Asylsuchende einsetzte, die sich registrieren lassen wollten.

Die Regierungen der Nicht-EU-Transitländer Mazedonien und Serbien entschieden im Juni 2015, Flüchtlingen künftig Transitvisa auszustellen, um ihnen die reguläre Weiterreise zu ermöglichen. Offenbar überrascht von den Folgen – bis Mitte August durchquerten rund 40000 Menschen die beiden Länder – rief die mazedonische Regierung am 21. August den Notstand aus und ließ die Grenzübergänge an Bahngleisen zeitweise wieder schließen. Zusammenstöße zwischen Asylsuchenden und der Polizei folgten.

Ungarn, das wegen der verbotenen Rücküberstellungen nach Griechenland der erste für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständige EU-Staat auf der Westbalkanroute ist, beschloss derweil im Juni den Bau eines Grenzzauns. Bis Ende 2015 soll er auf einer Länge von 175 Kilometer das Überqueren der Grenze aus Serbien verhindern. Nachdem die ungarische Regierung Ende August kurzzeitig die reguläre Weiterreise von Asylsuchenden per Zug nach Deutschland und Österreich ermöglichte, ließ sie Anfang September den Budapester Bahnhof für alle Personen ohne gültiges EU-Visum schließen. Mehrere Tausend Asylsuchende strandeten. Ein Teil von ihnen, etwa 1200 Menschen, brach am 4. September zu einem Fußmarsch auf der Autobahn nach Wien auf. Nach einer Einigung zwischen der ungarischen, österreichischen und deutschen Regierung wurden am Folgetag in einer einmaligen Aktion 4500 Menschen per Bus an die österreichische Grenze gebracht, wo sie mit Sonderzügen auch nach Deutschland weiterreisen konnten. Die Entscheidung fiel auch im Kontext der Todesfälle in Österreich: Am 27. August hatten österreichische Polizeibeamte in einem auf der Autobahn südlich von Wien abgestellten, aus Budapest kommenden Kühllaster die Leichen von 71 Menschen, darunter auch Kinder, entdeckt.

Ab Mitte September wählten Asylsuchende wegen der Schließung der serbisch-ungarischen Grenze zunehmend den Weg durch Kroatien nach Slowenien, das als Reaktion auf die Zugangszahlen ebenfalls mit der Errichtung eines Grenzzauns begann – nach eigenen Aussagen zur besseren Steuerung der Fluchtbewegungen. Im Oktober begrenzte die Regierung die Anzahl der Personen, die einreisen dürfen, allerdings auf 2500 täglich, sodass sich an der Grenze zu Kroatien Wartepunkte bildeten, an denen mehrere Tausend Asylsuchende ohne Versorgung ausharrten. Bis zu einer Einigung zwischen Kroatien und Serbien über den Verkehr von Zügen für Flüchtlinge Ende Oktober 2015 strandeten auch an der serbisch-kroatischen Grenze rund 10000 Menschen unter freiem Himmel. Im November 2015 verschärfte sich die Situation erneut im Grenzgebiet zwischen Griechenland und Mazedonien: Die mazedonische Armee begann mit dem Bau eines vorläufig nur einige Hundert Meter langen Grenzzauns, der Asylsuchende von der grünen Grenze zu einem offiziellen Grenzübergang lenken soll. Gleichzeitig kündigte Mazedonien an, nur noch Syrer, Iraker und Afghanen ins Land zu lassen. UNHCR kritisierte diese Maßnahme als völkerrechtswidrig.

Das Dublin-System am Boden

Die Dublin-Verordnung – eines der Kernstücke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems – ist Ende 2015 faktisch am Boden. Das unmittelbar anwendbare EU-Gesetz enthält einen Kriterienkatalog darüber, welches EU-Land für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist. An dem Grundprinzip hat sich seit der ersten Fassung der Verordnung von 2003 nichts geändert: Zuständig ist das Land, in dem ein Asylsuchender erstmals EU-Boden betritt, üblicherweise die Staaten an den EU-Außengrenzen. Das System war nicht als Solidaritätsmechanismus gedacht, sondern goss vielmehr den kleinsten politischen Nenner über das Verhältnis von Flüchtlingsschutz und Grenzschutz in Gesetzesform. Sowohl das geografische Zentrum als auch die Peripherie der EU verknüpften die Zuständigkeit für Asylverfahren mit dem Grenzschutz. "Wer Asylsuchende einreisen lässt, muss sich auch um sie kümmern", könnte das Dublin-Prinzip umschrieben werden. Souveränität über den Grenzschutz gibt dabei kein Land ab. Schon bei der jüngsten Neufassung der Verordnung 2012/13 gab es keine politische Mehrheit für einen Notfallverteilungsmechanismus von Flüchtlingen.

Bereits in der Vergangenheit stand das Dublin-System wegen faktisch unterschiedlicher Aufnahmebedingungen massiv unter Druck. Die Zahl der tatsächlichen Überstellungen war gering. Sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als auch der Europäische Gerichtshof stoppten 2011 und 2013 Überstellungen nach Griechenland wegen der dortigen Mängel bei der Unterbringung und in den Asylverfahren. Ende 2014 untersagte der EGMR die Überstellung einer Familie mit Kindern nach Italien, solange dort keine Garantien für kindgerechte Aufnahme vorlägen. In Hunderten Verwaltungsgerichtsentscheidungen in mitgliedstaatlichen Gerichten wurden bei besonderen individuellen Umständen auch Überstellungen in andere EU-Länder, darunter Bulgarien und Ungarn, gestoppt.

Die Drohung Italiens, Asylsuchende während der Umbrüche in Ägypten und Libyen einfach nach Norden weiterreisen zu lassen, machte außerdem schon 2011 deutlich, wie leicht das Dublin-System politisch unterlaufen werden kann: Es fußt auf einer ordnungsgemäßen Registrierung in der EU-weiten Datenbank EURODAC; ohne Registrierung in den Ankunftsländern können auch keine Dublin-Überstellungen von weitergewanderten Asylsuchenden stattfinden. 2015 ließen mehrere überforderte und vom Dublin-System frustrierte EU-Staaten Flüchtlinge ohne Registrierung weiterwandern.

Im September 2015 wurde ausgerechnet Deutschland, dem langjährigen Verfechter der Dublin-Verordnung, vorgeworfen, es habe das System zum Einsturz gebracht. Grund war nicht nur der Bustransfer der Asylsuchenden aus Budapest, sondern auch die Entscheidung, Dublin-Rücküberstellungen syrischer Staatsbürger auszusetzen. Ende August hatte eine Dienstanweisung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern eine entsprechende Leitlinie aufgezeigt. Das Papier war allerdings nicht als bindende Vorgabe gedacht und ließ offen, ob Deutschland für Syrer den Selbsteintritt erklärt (bei Vorliegen von systemischen Mängeln in den Asylverfahren des eigentlich zuständigen EU-Staates) oder lediglich die Überstellungsfristen in Dublin-Verfahren tatenlos ablaufen lassen will. Das BAMF ruderte mit der Aussage zurück, dass Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger "zum gegenwärtigen Zeitpunkt weitestgehend faktisch nicht weiter verfolgt" werden.

Deutschlands Entscheidung, die Dublin-Verordnung auszusetzen, lagen vermutlich vor allem praktische Erwägungen zugrunde. Bereits vorher lag die Zahl der Überstellungen für Syrer bei unter 150 Personen, nicht zuletzt wegen der schlechten Bedingungen in den Transitländern Italien, Ungarn und Bulgarien. Der administrative Aufwand des Dublin-Systems hatte den Nutzen längst überstiegen. In jedem Fall trug die Entscheidung aber zur Wahrnehmung bei, die Bundesregierung wolle die Illusion eines funktionierenden Zuständigkeitssystems nicht einmal mehr aus politischen Gründen aufrechterhalten.

Die Frage der Zuständigkeit über Asylverfahren und damit die Zukunft des Dublin-Systems bestimmten auch die Diskussionen auf EU-Ebene. Bereits im Mai hatte die EU-Kommission in ihrer "Migrationsagenda" angekündigt, 40000 Asylsuchende von den Grenzstaaten auf Grundlage freiwilliger Zusagen umzuverteilen. Im September schlug sie mit breiter Zustimmung des EU-Parlaments die Aufstockung um 120000 Asylsuchende nach festen Quoten vor. Der Ministerrat billigte die Vorschläge am 14. und 22. September mit vier Gegenstimmen (Rumänien, Slowakei, Tschechien und Ungarn) nach Wochen des Streits zwischen Gegnern und Befürwortern der Umverteilung. Er stimmte damit erstmalig einem quotenbasierten Ad-hoc-Verteilungsmechanismus zu, gestützt auf eine Art Notfallkompetenz des Rates im EU-Vertrag im Falle hoher Zugangszahlen. Ungarn blieb als Gegner der Pläne vom Mechanismus ausgenommen. Für die Verteilung sollen besonders schutzbedürftige Personen aus Herkunftsländern ausgewählt werden, die mit sehr hohen Anerkennungsquoten der Asylgesuche (75 Prozent und mehr) korrelieren – derzeit Syrien, Irak und Eritrea.

Praktische Voraussetzung für die Umverteilung ist die Einrichtung sogenannter Hotspots. Die von Grenzschutzbeamten der Mitgliedstaaten, Mitarbeitern von Europol und Mitarbeitern der vom EU-Asylunterstützungsbüro betriebenen Registrierungszentren in Italien und Griechenland sollen in Zukunft auch frühzeitig erkennen, wer nicht schutzbedürftig ist, und eine schnelle Rückkehr von abgelehnten Asylbewerbern ermöglichen. Dabei bleibt aber unklar, wie vor Ort ein faires Asylverfahren gewährleistet werden kann und wie Asylsuchende dazu gebracht werden können, ohne Einsatz von Zwang in den Zentren zu bleiben. Aktuell stehen die Hotspots auch vor Implementierungsproblemen: Die Mitgliedstaaten haben Schwierigkeiten, genügend Beamte bereitzustellen, und nur wenige Asylsuchende sind bereit, sich registrieren zu lassen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass funktionierende Hotspots ressourcen- und zeitintensiv sind und der Verteilungsmechanismus bei Asylsuchenden unpopulär ist, weil individuelle Präferenzen über die Wahl des Aufnahmelandes unberücksichtigt bleiben und die Weiterwanderung auf eigene Faust derzeit eine bessere Situation verspricht. Nach mittlerweile knapp hundert umverteilten Personen sind zwei Jahre eingeplant, um die Umverteilung der 160000 Asylsuchenden zu erreichen. Bei kontinuierlich hohen Zugangszahlen läuft der Verteilungsmechanismus damit Gefahr, irrelevant zu werden.

Eine politisch gespaltene EU

Der wichtigste weitere Vorschlag der EU-Kommission ist, einen dauerhaften quotenbasierten Verteilungsmechanismus zu schaffen, der die Regeln der Dublin-Verordnung ergänzen soll. Für diesen Vorschlag fehlt es trotz der politischen Fortschritte in Richtung Umverteilung allerdings nach wie vor an der erforderlichen politischen Mehrheit. Dabei stoßen sich die Gegner eines Verteilungssystems zunehmend an der außerhalb Europas für ihre Führungsrolle gelobten Bundesrepublik, deren angeblich liberale Flüchtlingspolitik zu den hohen Zugangszahlen beitrage. Tatsächlich nimmt Deutschland seine Spitzenposition als ein Aufnahmeland der Wahl (nach den bislang verfügbaren Zahlen 2015 rund 40 Prozent aller Asylanträge in der EU) nicht zuletzt auch durch die Versäumnisse anderer Mitgliedstaaten ein. Bei der Wahl des Aufnahmelandes spielt, neben sozialen, ökonomischen und kulturellen Erwägungen, auch die Behandlung durch die Behörden eine Rolle.

Ferner reagierte Deutschland genau wie andere EU-Staaten auf die hohen Zugangszahlen und das politische Patt in der EU mit restriktiven Maßnahmen. In einem ersten Gesetzespaket wurden unter anderem die verbleibenden Westbalkanstaaten (Kosovo, Albanien und Montenegro) zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt; 2014 waren bereits Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt worden. Damit wird die Beweislast für die Asylanträge erhöht und sollen Verfahren beschleunigt werden. Ein zweites, gegenwärtig noch verhandeltes Gesetz ("Asylpaket II") soll unter anderem ein Sonderverfahren für Personen einführen, die aus sicheren Herkunftsländern kommen oder mutmaßlich ihre Reisedokumente beseitigt haben. Die Nichtregierungsorganisation Pro Asyl bezeichnete den Referentenentwurf des Gesetzes als "Frontalangriff auf das individuelle Asylrecht". Schließlich führte auch Deutschland wieder temporäre Grenzkontrollen ein, um kurzfristig auf die Einhaltung der Dublin-Regeln zu pochen und den politischen Druck für einen neuen Verteilungsmechanismus zu erhöhen. Doch mittlerweile stehen die Bundesregierung und ihre europäischen Partner auch sicherheitspolitisch unter Druck: Einige der belgischen Attentäter der Terroranschläge in Paris vom 13. November hatten sich, möglicherweise auch aufgrund der chaotischen Situation an den Außengrenzen, relativ frei zwischen Europa und Syrien bewegen können. Über eine immer härter geführte Diskussion über die Sicherung der Außengrenzen und durch den politischen Rechtsruck in zahlreichen Mitgliedstaaten droht menschenrechtlichen und humanitären Erwägungen das Nachsehen.

Konsens gibt es unter den EU-Mitgliedern derzeit nur hinsichtlich Maßnahmen, deren Wirksamkeit nicht ausschließlich in ihrer eigenen Kontrolle liegen: der Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern und der EU-Türkei-Kooperation über den vorgelagerten Grenzschutz. Auf einem Gipfeltreffen am 29. November 2015 vereinbarte die EU Hilfszahlungen in Höhe von drei Milliarden Euro für syrische Flüchtlinge, zahlbar in Tranchen im Gegenzug für eine bessere Grenzsicherung. Weiterhin stehen für die Türkei Visaerleichterungen und eine Wiederbelebung des EU-Beitrittsprozesses aus.

Ob die EU 2016 flüchtlingspolitisch handlungsfähig wird, hängt davon ab, inwiefern die Ad-hoc-Maßnahmen greifen und zu permanenten, funktionierenden Mechanismen weiterentwickelt werden. Dabei stehen die Regierungen vor einem "Europäisierungsdilemma": Nicht nationale, sondern nur europäische flüchtlingspolitische Antworten sind erfolgversprechend, doch sie machen die EU auch für (euroskeptische) Gegner des Flüchtlingsschutzes politisch angreifbar. Notwendige gemeinsame Instrumente betreffen die wichtigsten Aspekte der Verantwortungsteilung für Flüchtlinge: menschenrechtskonformer Grenzschutz, eine Reform des Dublin-Systems, möglicherweise zunächst in einer "Koalition der Willigen", geordnete Erfassung von Flüchtlingen, Kostenteilungsmodelle, bessere Anreize zur Flüchtlingsaufnahme, effektivere Überprüfungsmechanismen der gemeinsamen Standards und die Flankierung der regulären Flüchtlingsaufnahme mit Resettlement und humanitärer Aufnahme. Der Stresstest für das EU-Asylsystem wird jedenfalls noch andauern: Aktuelle Schätzungen der EU-Kommission gehen von bis zu drei Millionen Asylsuchenden bis 2017 aus.

LL.M., geb. 1986; Projektmanager am Global Public Policy Institute, Reinhardtstraße 7, 10117 Berlin. E-Mail Link: jlehmann@gppi.net