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Von Libyen nach Syrien | Deutsche Außenpolitik | bpb.de

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Von Libyen nach Syrien Die Rolle des Militärs in einer neuen deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Claudia Major Christian Mölling

/ 15 Minuten zu lesen

Deutschland hat 2014 mehr sicherheitspolitische Verantwortungsübernahme angekündigt. Im Verteidigungsbereich wird es bislang dort aktiv, wo durch Partner oder Ereignisse Druck entsteht. Noch ist Verantwortungsübernahme eine Wahl, krisengetrieben und oft reaktiv.

Seit 2014 wird in Deutschland über eine "neue Verantwortung" in der Außenpolitik diskutiert. Dahinter steckt die Forderung, dass die Bundesrepublik ihre gewachsenen Möglichkeiten, die Welt mitzugestalten, auch nutzen soll. Bis dahin waren die deutsche Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik durch Kontinuität geprägt: Welche Regierung auch an der Macht war, die Ausrichtung wurde kaum verändert.

Ob und wie sich diese "neue Verantwortung" auf die deutsche Verteidigungspolitik auswirkt, ist von zentraler Bedeutung. Denn während es einen breiten politischen und gesellschaftlichen Konsens für den Einsatz ziviler Mittel in der Sicherheitspolitik gibt, herrschen große Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Rolle des Militärs. Zugleich erwarten Deutschlands Partner genau das: mehr Engagement im Verteidigungsbereich. Deshalb hat ein Wandel in diesem für die Bundesrepublik so schwierigen Feld eine große Aussagekraft für den Grad der politischen Veränderung. In diesem Beitrag möchten wir uns daher auf die Verteidigungspolitik konzentrieren.

Ein neuer Ton

Die Reden von Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 gelten als Startpunkt für die Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik. Ihre wesentliche Botschaft lautete, Deutschland müsse bereit sein, sich früher, entschiedener und substanzieller international zu engagieren. Die Kultur der militärischen Zurückhaltung bleibe bestehen, könne jedoch nicht die Entschuldigung dafür sein, von vornherein nichts zu tun und das Geschehen "von der Seitenlinie" zu kommentieren. Auch wenn Deutschland wahrscheinlich nie eine rein militärische Lösung unterstützen würde, könne es dieses Mittel nicht grundsätzlich ausschließen. Abgeleitet wurde diese Haltung aus der wachsenden Bedeutung Deutschlands: Als tief in globalen Netzwerken verankerte zentrale europäische Macht sollte es bereit sein, mehr für die Sicherheit zu tun, die andere seit Jahrzehnten bereitstellen, und sich für jene Stabilität der internationalen Ordnung einzusetzen, von der es profitiere und von der sein Wohlstand abhänge.

Mit dem Bekenntnis zu einer "neuen Verantwortung" wollte die Bundesregierung ihr Image als sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer loswerden. In der Tat war der Druck auf Deutschland schon seit Jahren gewachsen. 2011 war Berlin durch seine Enthaltung bei der Abstimmung über den Libyen-Einsatz im UN-Sicherheitsrat in den Augen vieler westlicher Partner endgültig zu einem unzuverlässigen Partner geworden. In der Folge hatte die Bundesregierung die unmittelbaren und langfristigen Kosten dieses Isolationskurses schmerzhaft erkannt. Die Einsicht wuchs, dass sich Deutschland mit der Überbetonung seiner Selbstbeschränkung und dem Mangel an sicherheitspolitischer Kultur selbst schade. Auch das traditionelle Bekenntnis zu Europäischer Union, NATO und Vereinten Nationen wirkte zunehmend substanzlos: Berlin hatte zwar immer wieder Ambitionen geäußert, jedoch wenig Konkretes folgen lassen. So führte Deutschland etwa innerhalb der Europäischen Union die Initiative für mehr Verteidigungskooperation (pooling & sharing), trug jedoch ebenso wenig zu ihrer Umsetzung bei wie alle anderen.

Deutschland steckte in einer Verantwortungslücke: Es schien seinen internationalen Einfluss nicht wahrhaben zu wollen und lehnte es ab, ihn zu nutzen. Damit gab die Bundesregierung a priori die Möglichkeit auf, die internationale Ordnung mitzugestalten und verschenkte letztlich die Möglichkeit, auf die Verwirklichung eigener Werte und Interessen hinzuarbeiten. Beispielhaft für diese Verantwortungslücke ist ein Umfrageergebnis von 2013: Zwar sprachen sich 54 Prozent der Deutschen für eine UN-basierte Militäroperation in Syrien aus, aber 62 Prozent gegen eine deutsche Beteiligung daran.

Verteidigungspolitische Herausforderungen der "neuen Verantwortung"

Der Praxistest für die in München formulierten Ambitionen folgte schneller als erwartet: Nur wenig später zwangen die Ukraine-Krise und die russische Annexion der Krim die Bundesregierung, ihre Rhetorik in die Tat umzusetzen. Die Grundstrukturen der europäischen Sicherheitsordnung wurden erschüttert, die die europäischen Staaten gemeinsam etwa in der Schlussakte von Helsinki der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 und in der Charta von Paris 1990 vereinbart hatten, mit Prinzipien wie der Unverletzlichkeit der Grenzen und der freien Bündniswahl. Zudem hatte sich der Krisenbogen in der europäischen Nachbarschaft nicht nur ausgeweitet, sondern intensivierte sich mit dem Erstarken des sogenannten Islamischen Staates (IS), der Instabilität in Nordafrika und dem Mittleren Osten sowie der Flüchtlingskrise.

Soll "mehr Verantwortung" in der deutschen Verteidigungspolitik Realität werden, muss sich die Bundesregierung folgenden Herausforderungen stellen. Erstens muss sie konzeptionell auf die neuen sicherheitspolitischen Bedingungen antworten und Deutschlands Rolle dabei neu definieren: Was bedeutet es konkret, mehr Verantwortung in einer zunehmend krisengeschüttelten Welt zu übernehmen? Zweitens muss sie sich der Frage stellen, ob die Kompetenzverteilung und Prozesse bei der Gestaltung der Verteidigungspolitik noch angemessen sind. Drittens gilt es, die Streitkräfte, die seit Jahren für Negativschlagzeilen sorgen, einsatzfähig zu machen. Dies könnte die Bundeswehr ohne die Rüstungsindustrie nicht leisten. Daher muss viertens definiert werden, wie eine verantwortungsvolle Rüstungspolitik aussehen kann. Fünftens muss Deutschland seinen Partnern, vor allem in der Europäischen Union und der NATO, klare Angebote machen, denn die Bundeswehr ist auf die Zusammenarbeit angewiesen. Sechstens wird sich der Nutzen deutscher Streitkräfte an Einsätzen messen lassen müssen: nicht nur an der Größe der Kontingente, sondern auch daran, ob Deutschland anders als zuvor bereit ist, die gleichen Risiken einzugehen wie seine Partner.

Erste Bilanz des Wandels

Seit 2013/14 haben vor allem der Außenminister und die Verteidigungsministerin Veränderungen und Überlegungen angestoßen.

Sicherheitspolitischer Rahmen

Das Auswärtige Amt definiert die deutsche Sicherheitspolitik und gibt damit den Rahmen für die Verteidigungspolitik vor. Infolge der Münchner Reden lancierte Außenminister Steinmeier 2014 einen ambitionierten, international und national partizipativ gestalteten "Review-Prozess" der deutschen Außenpolitik. Wesentliches Ergebnis ist die Reorganisation des Ministeriums. Im Abschlussbericht gibt es keine expliziten Bezüge zur Sicherheits- oder Verteidigungspolitik. Auch sonst leitet das Auswärtige Amt die Folgen des Review-Prozesses für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik kaum ab. Der sogenannte vernetzte Ansatz, also die Kombination von militärischen und zivilen Mitteln, bleibt ein Leitmotiv, wird aber konzeptionell kaum ausbuchstabiert.

Die sicherheitspolitische Neuverortung Deutschlands erfolgt stattdessen durch das neue "Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr", das im Juli 2016 erscheint. Darin werden zunächst strategische Prioritäten und Gestaltungsfelder deutscher Sicherheitspolitik aus dem Anspruch der neuen Verantwortung und dem sicherheitspolitischen Umfeld abgeleitet. In einem separaten Teil werden die Lage der Bundeswehr und die Anforderungen an die Streitkräfte für die kommenden zehn Jahre skizziert.

In weiten Teilen wird dieses Strategiedokument eine vorsichtige und allgemeine Annäherung an die Realitäten und Herausforderungen sein. Zudem handelt es sich um ein Konsensdokument, dem die gesamte Regierung zustimmen muss – kontroverse Aussagen sind daher unwahrscheinlich. Gerade mit Blick auf die Instrumente deutscher Sicherheitspolitik befasst sich das Weißbuch nur mit einem kleinen Ausschnitt staatlicher Sicherheitsvorsorge, nämlich jenem, bei dem die Bundeswehr zum Einsatz kommen kann. Insbesondere die immer stärkere Verbindung von innerer und äußerer Sicherheit wird kaum eine Rolle spielen, auch wenn dieser Nexus die deutsche Sicherheitspolitik zunehmend prägt. Trotz all dieser Einschränkungen sehen Deutschlands Partner das Weißbuch als Test, ob Berlin die in München angekündigte Politik auch schriftlich verankert. Die Messlatte wird sein, wie klar die Analyse, wie konkret die Schlüsse und wie bedeutend und belastbar die resultierenden Empfehlungen und Selbstverpflichtungen sind.

Parlamentsbeteiligung

Obwohl der Bundestag noch nie einen Einsatz der Bundeswehr verhindert hat, identifizieren internationale Partner den Parlamentsvorbehalt als Problem für Berlins Bündnisfähigkeit: Da der Bundestag theoretisch einen Einsatz verhindern könnte, zweifeln Partner in der Europäischen Union und der NATO an Berlins Verlässlichkeit. Sie fürchten auch, dass ihre Streitkräfte durch eine zu enge Zusammenarbeit mit der Bundeswehr an einem Einsatz gehindert werden könnten.

Um diese Befürchtungen zu prüfen, hat die Bundesregierung im Frühjahr 2014 eine durch den ehemaligen Verteidigungsminister Volker Rühe geleitete Kommission eingesetzt. In ihrem Abschlussbericht schlägt diese jedoch nur minimale Änderungen am Parlamentsbeteiligungsgesetz vor, die auf Details für Trainings- und Unterstützungseinsätze zielen. Der grundlegende Rechtsrahmen soll nicht verändert werden: Es bleibt dabei, dass der Bundestag Einsatzentscheidungen grundsätzlich vorher billigen muss. Auch die Ausnahmen von dem Grundsatz des Parlamentsvorbehalts sind bereits in der bisherigen Praxis verankert. Zu den sehr viel grundsätzlicheren Fragen der Verteidigungsintegration der europäischen Streitkräfte macht die Kommission keine wesentlichen Vorschläge, auch, weil sie die unterschiedlichen Ansichten der beteiligten Regierungsparteien aus der Kommission heraushalten wollte.

Streitkräfte

Bei dem wesentlichen verteidigungspolitischen Instrument der Streitkräfte forderte vor allem die Kombination aus neuer Ambition und verschlechtertem sicherheitspolitischen Umfeld erhebliche Anpassungen. Die Ukraine-Krise zwang Deutschland 2014, den desolaten Zustand der Bundeswehr öffentlich anzuerkennen. Die Einsparungen im Rahmen der seit 2010 laufenden Bundeswehrreform hatten dazu geführt, dass Deutschland nicht mehr in der Lage war, seine klassische Rolle als militärisches Rückgrat bei der Bündnisverteidigung zu spielen. In der Tat war die Bundeswehr nunmehr auf Stabilisierungseinsätze und Krisenmanagement ausgerichtet und hielt daher bei vielen Waffensystemen nur noch geringe Zahlen vor: So hatte sich etwa die Panzerflotte seit 2010 von 1385 auf 306 Panzer verkleinert. Auch die Qualität hatte gelitten: Die Einsatzbereitschaft der Jagdflugzeugflotte war auf 30 Prozent gesunken, weil Spezialisten und Ersatzteile fehlten; hinzu kamen spektakuläre Ausfälle bei der Hubschrauberflotte.

Seit 2014 kämpft das Verteidigungsministerium gegen den Abwärtstrend: Die Zahl der Kampf- und Schützenpanzer wird wieder erhöht, die Einsatzbereitschaft des Materials soll durch bessere Wartung gesteigert werden. Die 2014 beschlossene "Agenda Attraktivität" und das 2015 verabschiedete Gesetz zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr sollen Personalrekrutierung und -bindung verbessern. Zudem soll der Verteidigungsetat steigen. Allerdings eröffnet dies keine besonderen Spielräume. Denn auch wenn Regierungsvertreter und Parlamentarierinnen zunehmend mehr Qualität und Quantität bei der Bundeswehr und eine Erhöhung des Haushalts fordern – die derzeitigen Maßnahmen können die Bundeswehr bestenfalls auf ihrem derzeitigen Stand stabilisieren.

Rüstungspolitik

Rüstung als Teil von Sicherheitspolitik ist ein deutsches Tabuthema. Als der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel 2013 ankündigte, Rüstungsexporte restriktiver handhaben zu wollen, entspann sich jedoch eine heftige Debatte. Die Rüstungsindustrie fürchtete den Verlust des überlebenswichtigen Exportmarktes und das Verteidigungsministerium den Verlust der industriellen Basis, die in weiten Teilen die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte sicherstellt. Der Konflikt konnte im Juli 2015 mit dem Rüstungsstrategiepapier der Bundesregierung zunächst beigelegt werden. Seitdem gibt es theoretisch einen Konsens: Erstens ist Rüstungspolitik Sicherheitspolitik: Rüstungsexporte sind nur sicherheitspolitisch und nicht industriepolitisch begründbar; zweitens sind Rüstungsexporte legitim: Die Industrie darf Gewinne erzielen und versuchen, durch Exporte ihre Marktposition zu stärken; drittens gibt es eine gegenseitige Abhängigkeit: Der Staat braucht für seine Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine industrielle Basis, die Industrie braucht zum Überleben den Staat als Kunden und Unterstützer im Export. Doch auf die Praxis hat dieser Kompromiss kaum Einfluss. Die Bundesregierung liefert auch weiterhin keine sicherheitspolitische Begründung für Exporte. Ihre Position wankt sogar, wie sich etwa 2016 bei einer Lieferung von Patrouillenbooten an Saudi-Arabien zeigte. Deutschlands Partner in der Europäischen Union und der NATO hingegen warten auf Signale politischer Stabilität für gemeinsame Rüstungsprojekte. Am Ende hat sich Deutschland einmal im Kreis gedreht: Rüstung bleibt ein Tabuthema; eine Betrachtung deutscher Rüstungspolitik unter dem Aspekt der sicherheitspolitischen Verantwortung und damit ein konzeptioneller Neuanfang waren nicht möglich.

Verteidigungskooperation

Wenn es international Verantwortung übernehmen will, ist Deutschland auf Zusammenarbeit angewiesen. Hierbei gibt es greifbare Fortschritte. Diese sind allerdings weniger durch die Verantwortungsdebatte oder grundsätzliche Überlegungen motiviert, sondern vielmehr durch den Druck, der aus den immer weiter sinkenden militärischen Kapazitäten angesichts neuer sicherheitspolitischer Risiken resultiert. Zwar schlug EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März 2015 eine europäische Armee vor, und etwa zeitgleich veröffentlichte der ehemalige NATO-Generalsekretär und Hohe Vertreter der Europäischen Union für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Javier Solana einen Bericht mit dem Titel "More Union in Defence". Beides führte zu einer unerwartet langen Debatte, die jedoch nicht von europäischen Partnern aufgenommen wurde und ohne sichtbaren Schub für die Verteidigungskooperation verebbte.

Mehr Fortschritte hat die Bundesregierung mit dem sogenannten Rahmennationenkonzept erzielt. Dieses sieht vor, dass angesichts schrumpfender nationaler Streitkräfte jene Armeen, die wie die Bundeswehr im Vergleich noch schlagkräftig genug sind, als Rückgrat für multinationale Verbände dienen sollen: Kleinere Armeen anderer Staaten können sich hier einklinken, sodass größere Verbände entstehen, die länger einsatzfähig sind. Die Zahl der daran interessierten Staaten ist mittlerweile auf 16 gestiegen. Zugleich wurde das Konzept angepasst: Mit der Neuausrichtung der NATO sind nun wieder große Verteidigungskräfte notwendig. Folglich sollen nicht nur spezialisierte Fähigkeiten durch das Konzept geschaffen werden, sondern ganze Divisionen – also Verbände in der Größe von etwa 15000 Soldatinnen und Soldaten. Bislang liegen noch keine sichtbaren Ergebnisse vor, die Umsetzung solcher Konzepte dauert. Zugleich besteht immer die Möglichkeit, dass die notwendigen Partner abspringen, weil sich ihre politischen Interessen verändern. Greifbarer geht die Kooperation auf bilateraler Ebene voran. Beispielhaft ist etwa die Integration der deutschen und niederländischen Heere seit 2014. Parallel intensiviert Deutschland die Kooperation mit Polen, aber auf geringerem Niveau.

Aufgaben und Operationen

Eine Veränderung der deutschen Verteidigungspolitik wird beim internationalen Engagement am deutlichsten: Deutschland beteiligt sich häufiger, in anderer Form und offensiver. Die erste Übernahme neuer verteidigungspolitischer Verantwortung wurde durch die Art der Aufgaben vereinfacht, die die NATO aus der Ukraine-Krise für sich ableitete: Abschreckung und Bündnisverteidigung. Deutschland stand vor der Herausforderung, wieder das konventionelle Rückgrat der Bündnisverteidigung im Osten zu stellen: Hier konnte es auf das überwiegend akzeptierte Narrativ aus dem Kalten Krieg aufbauen. Deutschland prägte auch maßgeblich die konzeptionelle Weichenstellung zur militärischen Anpassung der NATO auf dem Gipfel in Wales 2014. Auch bei der Umsetzung liefert Berlin: So ist Deutschland beispielsweise der größte europäische Truppensteller für Rückversicherungs- und Anpassungsmaßnahmen und übernahm 2015 als erstes Land die Führung der neuen schnellen Eingreiftruppe. Diese starke Beteiligung an der traditionellen Bündnisverteidigung bleibt bislang weitgehend unkontrovers.

Umstrittener ist hingegen die sogenannte Ertüchtigungsinitiative, mit der Deutschland sein Engagement im Krisenmanagement konzeptionell umreißen wollte: Regionale Akteure sollen so trainiert und ausgerüstet werden, dass sie selbst Verantwortung für ihre Sicherheit übernehmen können. Dieser Logik folgt der Einsatz der Bundeswehr in der EU-Trainingsmission in Mali seit 2013. Zugleich unterstrich die Bundesregierung aber damit auch ihre Abneigung, Kampfaufgaben zu übernehmen, woraufhin Partner wie Frankreich Deutschland kritisierten, die riskanten Kampfeinsätze, die erst die Voraussetzung für Beratung und Ausbildung schaffen, anderen zu überlassen. Ohnehin überholt die Realität diesen Versuch der konzeptionellen Abgrenzung: Auch wenn der Einsatz deutscher Ausbilder im Irak seit 2015 unter Ertüchtigung firmiert, geht er bereits in die immer wichtiger werdende Aufgabe der Terrorbekämpfung über. Ähnlich entwickeln sich die seitdem begonnenen Einsätze in Syrien und im Norden Malis.

Hinzu kommen weitere Verschiebungen: Schon der Irak-Einsatz fand am Rande der rechtlichen Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr statt, weil diese hier nicht in einem klassischen System kollektiver Sicherheit, sondern in einer Ad-hoc-Koalition agierte. In der gleichen Grauzone operiert der Syrien-Einsatz im Rahmen der Anti-IS-Koalition. Der Bundeswehreinsatz im Norden Malis zeigt zwei weitere Besonderheiten: Die Entsendung von Kampfeinheiten in ein sehr gefährliches Umfeld ist möglich – die Mali-Einsätze sind bei Weitem gefährlicher als der Einsatz von Aufklärungsflugzeugen in Syrien; zudem unterstellt die Bundeswehr erhebliche Kontingente den Vereinten Nationen, was Deutschland trotz Unterstützungsrhetorik in der Vergangenheit selten getan hatte. Damit sind in kürzester Zeit verschiedene rote Linien gefallen und das klassische Koordinatensystem deutscher Militäreinsätze durcheinandergeraten.

Sicherheitspolitische BAUSTELLEN

Seit der Ankündigung einer sicherheitspolitischen Neuausrichtung hat Deutschland einiges getan. Aktiv wird die Bundesrepublik bislang vor allem dort, wo durch Partner oder Ereignisse Druck entsteht: Vor allem in der Ukraine-Krise hat Berlin diplomatische und militärische Verantwortung und Führung übernommen. Auch die militärischen Grundlagen werden jetzt saniert: Beim Material und der Verteidigungskooperation ist Besserung zumindest in Sicht. In anderen Fällen, wie im Kampf gegen den IS, handelte Deutschland erst, als diese Krisen zu einem innenpolitischen Thema wurden, etwa angesichts der hohen Flüchtlingszahlen im Sommer 2015, oder zu einem Kernthema bei einem zentralen Partner, wie durch die Pariser Terroranschläge im November 2015. Noch ist Verantwortungsübernahme krisengetrieben und oft reaktiv, wie Politik im Allgemeinen. Diese Krisen haben aber den notwendigen Handlungsdruck erzeugt und somit Deutschland ermöglicht, zu reagieren und dabei neue Wege zu gehen.

Dennoch tut Berlin sich schwer, systematisch eine Politik der "neuen Verantwortung" zu entwickeln: Verteidigungspolitik bleibt das Problemkind der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Gleichzeitig lässt das sich schnell und gewaltsam verändernde Sicherheitsumfeld Deutschland keine Atempause: Die Einsätze in Mali, Syrien und im Irak zeigen, dass innere und äußere Risiken und Bedrohungen verschmelzen. Deutschland muss klären, in welchem politisch-rechtlichen Rahmen und mit welchem Ziel es Militär einsetzen will, und welche Rolle Verantwortung dabei spielt. Fünf Punkte gehören dazu:

Erstens muss der Begriff der sicherheitspolitischen Verantwortung ausbuchstabiert werden. Deutschland trägt diese Verantwortung für sich selbst, aber auch für die sicherheitspolitische Gemeinschaft, in der es agiert. Verantwortung besteht in dem Maße, in dem Deutschland die Möglichkeit hat, durch (Nicht-)Handeln seine eigene Lage oder die seiner Partner zu verbessern oder zumindest nicht zu verschlechtern und seine sicherheitspolitischen Ziele und Interessen zu erreichen. Insofern ist Deutschland nicht nur dort für Wandel und Stabilität in der Welt verantwortlich, wo es handelt, sondern auch dort, wo es nicht handelt. Hierzu sollte Deutschland eine eigene sicherheitspolitische Konzeption entwickeln. Das gilt in geografischer Hinsicht, etwa für den Nordosten Europas, wo es Sicherheit im Wesentlichen über die NATO und die Europäische Union gestaltet, wie auch für funktionale Themen wie Energie und kritische Infrastrukturen. Die besondere Herausforderung wird darin liegen, die in der Realität bereits weitgehend aufgehobene Trennung zwischen äußerer und innerer Sicherheit auch in der Bundesregierung nachzuvollziehen.

Zweitens gilt es, die Streitkräfte europäisch zu reformieren. Deutschland steht in Sachen Streitkräfte vor massiven Herausforderungen. Politisch muss Berlin bereit sein, die Folgen einer engeren Kooperation im multilateralen Kontext zu tragen. Fähigkeiten der Bundeswehr können sinnvoll nur noch im europäischen Kontext definiert werden. So bestimmen etwa die jetzigen und zukünftigen militärischen Fähigkeiten der Partner die Umsetzung des Rahmennationenkonzepts. Die Planung der eigenen Fähigkeiten und die Kooperationsangebote an Partner sollte die Bundeswehr deshalb auf eine umfassende, kontinuierliche und weitblickende Analyse der Verteidigungskomplexe seiner europäischen Partner stützen. Militärisch bedeuten die deutschen Verpflichtungen einen langfristigen Mehrbedarf an Personal, Ausrüstung und Übungstätigkeit. Die derzeitigen Budgeterhöhungen werden nicht ausreichen, um das Fähigkeitsprofil über die nächste Dekade stabil zu halten oder sogar zu steigern. Dies würde jährlich drei bis fünf Milliarden Euro mehr erfordern.

Drittens sollte Rüstung als Teil von Verantwortung begriffen werden. Der Konsens darüber, was ein verantwortungsvoller sicherheitspolitischer Umgang mit Rüstung ist und welche Rolle Europa dabei spielt, besteht höchstens theoretisch, hat aber keine praktischen Auswirkungen. Dies schränkt nicht nur die Möglichkeiten ein, Rüstungsexporte und -kooperation als sicherheitspolitische Gestaltungsmittel zu nutzen. Es schadet sogar: Deutschlands Partner sehen darin auch die mangelnde Bereitschaft, verlässliche Zusagen und Beiträge für ihre Sicherheit zu leisten. Eine Konkretisierung mittels einer Rüstungsstrategie und die Schaffung klarer Zuständigkeiten für die sicherheitspolitische Gesamtbewertung innerhalb der Bundesregierung wären mögliche Schritte, um diese Lücke zu schließen.

Viertens gilt es, die Bevölkerung in Deutschland mitzunehmen. Für die außenpolitischen Ambitionen der Bundesregierung ist nach wie vor nur ein geringer gesellschaftlicher Rückhalt festzustellen. Doch gerade in Deutschland, wo Sicherheitspolitik nicht auf einem etablierten Konsens aufbaut, sondern stets neu definiert werden muss, ist die Unterstützung durch die Bevölkerung wichtig. Wenn Deutschland glaubhaft seine Verlässlichkeit beweisen möchte, wird es seine Entscheidungen für oder gegen Einsätze sicherheitspolitisch begründen müssen – und das vor allem zuhause. Bundesregierung und Parlament werden aktiv die "neue Verantwortung" erklären und dafür werben müssen. Dazu gehört beispielsweise, der Öffentlichkeit besser zu vermitteln, wie tiefgreifend sich die Sicherheitslandschaft gerade verändert und warum ein deutscher Beitrag notwendig ist. Startpunkt könnte das neue Weißbuch sein.

Fünftens sollte die "neue Verantwortung" den Bundestag einbinden: Parlamente tragen Debatten in die Öffentlichkeit; sie spielen auch eine immer größere Rolle in der Verteidigungskooperation. Sie entscheiden nicht nur über Einsätze, sondern können auch gemeinsame Beschaffungen und Betrieb von Material ermöglichen und so die Kooperation mit Partnern erleichtern. Der Bundestag könnte über den nationalen Tellerrand schauen und seine Kontakte zu Parlamenten in Partnerstaaten intensivieren, um zu eruieren, wie Kooperationsbedingungen verbessert werden können.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektleiterin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. E-Mail Link: claudia.major@swp-berlin.org

ist Senior Resident Fellow beim German Marshall Fund of the United States in Berlin und dort zuständig für Sicherheits-, Verteidigungs- und Rüstungspolitik in der Europäischen Union und der NATO. E-Mail Link: cmoelling@gmfus.org