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Sinkende Wahlbeteiligung | Repräsentation in der Krise? | bpb.de

Repräsentation in der Krise? Editorial Krise der Demokratie? Anmerkungen zu einem schwierigen Begriff Demokratische Repräsentation und ihre Krise Die Krise der Weimarer Demokratie – Analogien zur Gegenwart? Populismus. Symptom einer Krise der politischen Repräsentation? Sinkende Wahlbeteiligung. Interpretationen und mögliche Gegenmaßnahmen Einstellungen junger Menschen zur Demokratie. Politikverdrossenheit oder politische Kritik? Machtverschiebungen vom Parlament zur Exekutive. Demokratie in Zeiten multipler Krisen

Sinkende Wahlbeteiligung Interpretationen und mögliche Gegenmaßnahmen

Frank Decker

/ 16 Minuten zu lesen

Was bedeuten rückläufige Wahlbeteiligungen und das zunehmende Beteiligungsgefälle zwischen den sozialen Schichten für die repräsentative Qualität der Demokratie? Welche institutionellen Maßnahmen könnten dem Negativtrend vielleicht entgegenwirken?

Neben dem wachsenden Stimmenanteil rechts- und linkspopulistischer Protestparteien gelten geringe oder rückläufige Wahlbeteiligungen als wichtigster Beleg dafür, dass sich die repräsentative Demokratie in einer Krise befindet. In Deutschland ist die Beteiligung bei Bundestagswahlen, die in den 1970er Jahren Rekordwerte von über 90 Prozent erreicht hatte, zuletzt auf gut 70 Prozent gesunken. Dies entspricht einem allgemeinen europäischen Trend, von dem nur wenige Länder ausgenommen sind – etwa Schweden, Norwegen, Dänemark oder Spanien. Die Bundesrepublik bildet auch einen Spiegel der Entwicklung im West-Ost-Vergleich, indem die neuen mittelosteuropäischen Demokratien beziehungsweise neuen Bundesländer von der Wahlabstinenz überproportional betroffen sind.

Was bedeutet dies für die Qualität der repräsentativen Parteiendemokratien? Um Antworten darauf zu erhalten, müssen wir uns zunächst bewusst machen, dass die absolute Höhe der Wahlbeteiligung wie auch deren Entwicklung im Zeitverlauf von zahlreichen Faktoren abhängt und Unterschiedliches widerspiegelt: "Wählerapathie oder Wählerzufriedenheit, Wahlpflicht oder freiwillige Wahl, vielleicht sogar das Wetter am Wahltag, oder auch bloße Akklamation." Diese Faktoren voneinander zu isolieren und in ihrem jeweiligen Gewicht zu bestimmen, wirft forschungspraktisch nahezu unlösbare Probleme auf. Dies gilt zumal, als sie sich nach Ländern und der Art der Wahlen (etwa Haupt- und Nebenwahlen) nochmals deutlich unterscheiden.

Um das Problem der rückläufigen Wahlbeteiligung angemessen zu betrachten, werden im Folgenden drei Differenzierungen beziehungsweise Relativierungen vorgenommen, die wiederum die Grundlage für die am Ende angestellten Reformüberlegungen bilden.

Repräsentativität der Wahl und Nichtwahl

Die erste Differenzierung betrifft die absolute Höhe der Wahlbeteiligung. Diese gewinnt ihre Bedeutung unter Legitimationsgesichtspunkten durch das bei Wahlen und Abstimmungen gültige Mehrheitsprinzip, das vor allem bei der Bildung einer Regierungsmehrheit zum Tragen kommt. Je geringer die Wahlbeteiligung, umso geringer fällt der Anteil der Stimmen aus, auf den sich die gewählte Regierung faktisch stützen kann. Verschärft wird das Problem, wenn durch ein disproportionales Wahlsystem unterlegene Stimmen ganz oder teilweise unter den Tisch fallen, also beim Mandatsgewinn unberücksichtigt bleiben. Hinter der regierenden Mehrheit steht dann unter Umständen nur noch eine zahlenmäßig kleine Minderheit. Bei Abstimmungen kann man das Problem dadurch lindern, dass eine Mindestbeteiligung oder -zustimmung verlangt wird. Bei Wahlen, die ja im Unterschied zu Abstimmungen ein zwingender und nicht nur optionaler Bestandteil der repräsentativen Demokratie sind, besteht diese Möglichkeit nicht. Deshalb ist auch der von sogenannten Parteienkritikern des Öfteren formulierte Vorschlag abwegig, die Zahl der zu vergebenden Mandate an die Wahlbeteiligung zu koppeln.

Für die demokratische Bewertung der Wahlbeteiligung ist neben ihrer absoluten Höhe zugleich ihre Repräsentativität wichtig. Im Anschluss an die Politikwissenschaftlerin Hanna Pitkin lässt sich darunter zum einen die soziale Repräsentativität verstehen: also der Umstand, dass sich die faktischen Wählerinnen und Wähler in Bezug auf Merkmale wie Alter, Geschlecht, Bildung und Einkommen ähnlich zusammensetzen wie die Wahlberechtigten. Zum anderen geht es um die daraus ableitbaren Interessen, Wünsche und Bedürfnisse der Wählerschaft, das heißt um ihre (partei)politischen Präferenzen. Das Maß der Orientierung der Repräsentanten an diesen Präferenzen wird in der Demokratieforschung "Responsivität" genannt. Darüber hinaus sind als Objekte der Repräsentation auch diejenigen Teile der Bevölkerung in den Blick zu nehmen, die aufgrund ihres Wahlalters oder ihrer Staatsbürgerschaft nicht über das Wahlrecht verfügen, im weiteren Sinne sogar die Angehörigen anderer Nationen sowie künftiger Generationen.

Bezogen auf die Zusammensetzung der parlamentarischen Vertretungsorgane stellt die fehlende soziale Repräsentativität kein prinzipielles Problem dar; speziell beim Merkmal Bildung erweist sie sich vielmehr als Vorzug, denn wer möchte schon von Dummköpfen regiert werden? Allerdings würden wir oder jedenfalls die meisten von uns genauso der Forderung zustimmen, dass sich die soziale Zusammensetzung der Repräsentanten nicht zu weit von derjenigen der Wählerschaft entfernen sollte. Auch wenn sich von der sozialstrukturellen Zugehörigkeit der Abgeordneten keine direkte Verbindung zu ihren politischen Positionen ziehen lässt, gänzlich unberührt sind sie davon nicht. Die zunehmende soziale Selektivität der Wahlbeteiligung, die Autoren wie der Politikwissenschaftler Armin Schäfer für die Bundesrepublik seit den 1990er Jahren eindrucksvoll belegt haben, droht dieses Problem zu verschärfen. Denn indem die soziale Selektivität die Interessenwahrnehmung der Wähler von derjenigen der Wahlberechtigten und übrigen Bevölkerung entfernt, entfernt sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Politik der Repräsentanten von diesen. Die Folge ist ein sich selbst verstärkender Prozess: Bleiben die Wähler aus den benachteiligten Schichten den Wahlen fern, können sie nicht mehr damit rechnen, dass ihre Interessen von Parteien und Politikern vertreten werden. Und vertreten Parteien und Politiker ihre Interessen nicht, haben diese Wähler noch weniger Grund, an den Wahlen teilzunehmen.

Wahlen sind und bleiben die wichtigste Form der Partizipation, in der sich die politische Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger manifestiert. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht wird deshalb zu einer Farce, wenn die benachteiligten Gruppen der Gesellschaft von ihm keinen Gebrauch machen und den Wahlen immer häufiger fernbleiben. Zwar gibt es keine Belege, dass das Problem durch den Ausbau und die Nutzung anderer Partizipationsformen (etwa im Bereich der direkten Demokratie) zusätzlich verschärft wird: Die Benachteiligten bleiben nicht in noch größerer Zahl Wahlen fern, weil die politisch Interessierten aus den bessergestellten Schichten solche Beteiligungsangebote wahrnehmen. Dennoch muss es verwundern, wie wenig sich die Politikwissenschaft um dieses Problem bisher gekümmert hat, während sie den neuen Beteiligungsmodellen breite Aufmerksamkeit schenkt.

Auch wenn es sich lohnt, über eine Verbesserung der institutionellen Anreizstrukturen nachzudenken, wird man die in Resignation gefallenen Wähler nicht primär durch Reformen des Wahlrechts oder Wahlsystems in das politische System zurückholen können. Selbst eine Wahlpflicht würde an den Ursachen der sozialen Spaltung nichts ändern. Notwendig ist stattdessen eine Agenda, die dieser Spaltung durch mehr Chancengerechtigkeit begegnet, indem sie die Integration in den Arbeitsmarkt verbessert und stärker in Bildung, Kinderbetreuung und Gesundheitsvorsorge investiert. Am skandinavischen Beispiel lässt sich belegen, welche Bedeutung ein erneuerter Wohlfahrtsstaat für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewinnt. Dies gilt gerade unter den Bedingungen der Globalisierung. Je mehr sich die Volkswirtschaften nach außen öffnen, desto wichtiger werden Bildung und Ausbildung, um sich für den Wettbewerb zu wappnen, aber auch die Absicherung gegen die durch den Wettbewerb entstehenden Risiken im Inneren. Gelingt es der Politik nicht, den Menschen diese Sicherheit zu vermitteln beziehungsweise zurückzugeben, dann wird sich auch die Krise der Partizipation nicht beheben lassen.

Krisenzeichen oder Normalität?

Die zweite Differenzierung zielt auf die Frage, ob die rückläufige Wahlbeteiligung, selbst wenn sie überwiegend die benachteiligten Gruppen betrifft, überhaupt als Krisenzeichen interpretiert werden kann. Gegen eine solche Auffassung könnte man mehrerlei zu bedenken geben: Erstens stehen dem Verlust repräsentativer Qualität in sozialer Hinsicht, die eine Folge des Auseinanderdriftens der Gesellschaften ist, in anderen Bereichen genauso beträchtliche Repräsentationsgewinne gegenüber – man denke nur an die Geschlechtergleichheit und den Abbau der Diskriminierung von Homosexuellen. Zweitens ist der Rückgang der Wahlbeteiligung eine natürliche Folge der abnehmenden Bedeutung der Wahlen selbst. Die heutigen nationalstaatlich verfassten Demokratien haben ein sich verschärfendes "Souveränitätsproblem". Der politische Entscheidungsbereich, über den in Wahlen verfügt werden kann, nimmt in ihnen tendenziell ab. Ursächlich dafür sind die Verlagerung von Entscheidungszuständigkeiten auf die supra- und transnationale Ebene, wo sie sich der demokratischen Kontrolle und Beeinflussbarkeit weitgehend entziehen, die Krise der öffentlichen Haushalte, die den Spielraum für verteilungspolitische Maßnahmen reduziert, und die Abgabe von staatlichen an private Zuständigkeiten. Die allmähliche Aushöhlung demokratischer Prinzipien, für die der britische Sozialwissenschaftler Colin Crouch mit der "Postdemokratie" eine einprägsame Formel gefunden hat, trägt also zum Teil auch hausgemachte Züge.

Hauptleidtragende dieser Entwicklung sind die Parteien, die als Trägerinnen des demokratischen Wettbewerbs ihre frühere Vorrangstellung einbüßen. In der staatlichen Sphäre sind sie gezwungen, einen Teil ihrer repräsentativen Funktionen an unabhängige Behörden oder Verfassungsgerichte abzutreten, die sich eher an Grundprinzipien und Langfristzielen orientieren als die nach verbreiteter Meinung nur auf ihren kurzfristigen Machtvorteil bedachten gewählten Vertreter. Diese Institutionen genießen deshalb in der Bevölkerung eine größere Wertschätzung. In der elektoralen Sphäre sind die Parteien immer weniger in der Lage, grundlegende Entscheidungsalternativen zu formulieren und sich von der Konkurrenz abzuheben. Und in der gesellschaftlichen Sphäre sehen sie sich mit der Tatsache konfrontiert, dass die Partizipation vermehrt außerhalb der Parteien stattfindet, die Bürger also andere Formen und Kanäle der Einflussnahme vorziehen, etwa Bürgerinitiativen, soziale Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen. Der Rückgang der Wahlbeteiligung ist somit weder gleichbedeutend mit einem Rückgang der Partizipation insgesamt, noch lässt er sich auf abnehmendes politisches Interesse zurückführen.

Letzteres verweist auf einen weiteren wichtigen Punkt: Laut der sogenannten Zufriedenheitsthese ist der Verzicht auf die Stimmabgabe ein Zeichen für die Zufriedenheit der Bürger mit der Politik der Regierung und der Funktionsweise der Demokratie. Verfechter dieser These verweisen gerne auf das Beispiel der Weimarer Republik, wo die Wahlbeteiligung am Ende, als sich die Demokratie bereits im Zangengriff der extremistischen Kräfte befand, Rekordwerte erreichte. Die heutigen Befunde zeigen dagegen eindrucksvoll, dass die Zustimmung zur Demokratie im Allgemeinen (als Idee und System) in der Bundesrepublik hoch bleibt, auch wenn die Unzufriedenheit mit ihren Institutionen und der Regierungspolitik zunimmt. Häufig sind es ja gerade die unzufriedenen Bürger, die sich zu zentralen demokratischen Prinzipien bekennen. Geht dieses Bekenntnis mit der Bereitschaft einher, die Politik kritisch zu beobachten und ihr gegenüber nötigenfalls zu intervenieren, dürfte sich das auf die Entwicklung der Demokratie insgesamt positiv auswirken, auch wenn es im Einzelfall zu mehr Unzufriedenheit führt.

Die ambivalente Beziehung zwischen politischer Zufriedenheit/Unzufriedenheit und Mobilisierung lässt sich an den Ergebnissen der Landtagswahlen im März und September 2016 (in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern) veranschaulichen, bei denen die Wahlbeteiligung entgegen dem Trend um etwa zehn Prozentpunkte gestiegen ist. Der Hauptgrund dafür lag in der durch das Flüchtlingsthema herbeigeführten parteipolitischen Polarisierung. Weil sie mit Rekordergebnissen für die erst 2013 gegründete rechtspopulistische AfD einherging, sorgte die Trendumkehr gerade bei den linken Parteien und Beobachtern für Irritationen – vor allem bei den Sozialdemokraten. Nachdem sich der Rückgang der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2009 und erneut 2013 im Vergleich zu 2005 zu einem großen Teil aus deren Klientel gespeist hatte, musste die SPD nun mit ansehen, dass die Wähler zwar an die Urne zurückkehrten, ihr Kreuz aber mehrheitlich nicht bei ihr machten, sondern bei einer Partei, die elementare demokratische Prinzipien offen oder versteckt negiert. Würde die gestiegene Wahlbeteiligung der Demokratie damit nicht einen Bärendienst erweisen?

Gegen diese Sichtweise sprechen mindestens zwei Punkte. Zum einen gelang es nicht nur der AfD, sondern auch den anderen Parteien, die Stimmen bisheriger Nichtwähler zu gewinnen. Der Erfolg der Rechtspopulisten geht insofern weniger auf die gestiegene Wahlbeteiligung zurück als darauf, dass Wähler der etablierten Parteien in beträchtlicher Zahl zur AfD abwanderten. Zum anderen hat sich mit dem Erfolg der AfD die Repräsentationslücke im Parteiensystem verringert, in dem einwanderungs- und EU-skeptische Positionen zuvor nicht vertreten waren. Die Kehrseite dieser an sich begrüßenswerten Entwicklung besteht darin, dass sich der Parteienwettbewerb vom Zentrum an die politischen Ränder verlagert. Weil die Positionen der Rechtspopulisten kaum kompromissfähig sind, macht deren Erstarken die parlamentarische Mehrheitsbildung schwieriger. Das Parteiensystem könnte dadurch künftig in eine ähnlich prekäre Situation geraten wie in Österreich, wo die mangels anderer Möglichkeiten erzwungene Fortsetzung der Großen Koalition den rechten Herausforderern direkt in die Hände spielt.

Ansatzpunkte für institutionelle Reformen

Die dritte Differenzierung bezieht sich auf die verschiedenen Ebenen des politischen Systems. Schlüsselt man die Entwicklung der Wahlbeteiligung nach diesen auf, zeigt sich bei Kommunalwahlen, Landtagswahlen und Europawahlen ein stärkerer Rückgang als bei den Bundestagswahlen: Während die Quote bei Bundestagswahlen auch im europäischen Vergleich mit 70 Prozent immer noch recht hoch liegt, ist sie bei Landtagswahlen mittlerweile im Schnitt unter die 60-Prozent- und bei Kommunalwahlen unter die 50-Prozent-Marke gefallen; bei den Wahlen zum Europäischen Parlament lag sie zuletzt (2014) sogar nur knapp oberhalb der 40-Prozent-Marke.

Kann man den Niveauunterschied mit der geringeren Bedeutung, die die Bürger den – von der Politikwissenschaft aus diesem Grund als "Nebenwahlen" apostrophierten – Kommunal-, Landtags- und Europawahlen im Vergleich zu den Bundestagswahlen beimessen, leicht erklären, so bleibt die Frage, warum der Rückgang bei den Nebenwahlen auch prozentual höher ausfällt als bei den Hauptwahlen. Ein möglicher Grund könnte darin liegen, dass sich die soziale Selektivität hier noch stärker auswirkt. Dies erscheint mit Blick auf die föderale Aufgabenverteilung plausibel, da die materielle Lebenswirklichkeit der Bürger faktisch und in ihrer eigenen Wahrnehmung in erster Linie von bundespolitischen Entscheidungen abhängt – anhand der vorliegenden Daten lässt sich dieser Zusammenhang allerdings nicht sicher belegen.

Eine andere Erklärung für den Einbruch der Wahlbeteiligung stellt auf die seit den 1990er Jahren durchgesetzten Verfassungsreformen ab, die durch die Einführung der zweistufigen Bürgermeisterdirektwahlen und Ausweitung direktdemokratischer Verfahren in Ländern und Gemeinden insbesondere auf der kommunalen Ebene zu einer "Inflationierung" der Wahltermine geführt haben. So wie in anderen Ländern (etwa der Schweiz) wird der Ausbau der institutionellen Partizipationsrechte durch einen Rückgang der individuellen Wahl- oder Abstimmungsbeteiligung erkauft, so die Erklärung. Die nachfolgend diskutierten institutionellen Vorschläge beziehen sich deshalb vor allem auf die kommunale und Länderebene. Dort haben sie einerseits den größten potenziellen Nutzen, zum anderen bieten sich die Länder als Experimentierfeld der Institutionenpolitik an, indem Reformen in einem Bundesland auf andere Länder und den Bund ausstrahlen.

Bei der Diskussion des Für und Wider solcher Reformen ist zunächst wichtig, dass die Vorschläge auf ihre Verfassungskonformität und mögliche schädliche Nebenwirkungen in anderen Bereichen geprüft werden. Des Weiteren bedürfen sie der Akzeptanz durch die parteipolitischen Akteure und die allgemeine Öffentlichkeit. Beides lässt sich gut an dem ebenso naheliegenden wie radikalen Vorschlag illustrieren, der rückläufigen Wahlbeteiligung mit einer sanktionsbewährten Wahlpflicht zu begegnen. Weil man die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung damit auf vergleichsweise einfache Art bekämpfen könnte, wird dieser Vorschlag heute gerade von Wissenschaftlern beziehungsweise Autoren (aber noch nicht von Politikern) ins Spiel gebracht, die politisch der Sozialdemokratie nahestehen. Im Umkehrschluss kann man sich leicht ausmalen, warum die bürgerlichen Parteien an einer solchen Lösung kein Interesse haben. Argumentativ spielt ihnen dabei nicht nur die Meinung der Bevölkerung in die Hände, die die Einführung einer Wahlpflicht zu zwei Dritteln ablehnt. Die – international kaum verbreitete – Wahlpflicht wäre in der Bundesrepublik auch ein verfassungspolitischer und -rechtlicher "Fremdkörper". Ob sie sich mit dem Verfassungsgebot der freien Wahl in Einklang bringen ließe, ist zweifelhaft.

Die sonstigen Vorschläge lassen sich grob in vier Bereiche einteilen: Wahlberechtigung, Wahlsystem, Technik des Wählens und Zusammenlegung von Wahlen (Regierungsform). Bei der Wahlberechtigung geht es vor allem um die Einführung eines kommunalen Wahlrechts für Nichtdeutsche und die Absenkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre. Beide Maßnahmen hätten mit Blick auf die faktische Wahlbeteiligung vermutlich einen negativen Effekt. Weisen die neu hinzutretenden Wähler eine unterdurchschnittliche Beteiligung auf, wovon bei beiden Gruppen auszugehen ist, drückt das auf die Gesamtwahlbeteiligung. Mittel- und langfristig könnte sich dagegen die Absenkung des Wahlalters positiv auswirken, wenn durch die Erstwahl ein Kohorteneffekt entsteht, der durch das weitere Leben des Wahlbürgers "durchträgt". Die Absenkung des Wahlalters hätte den Vorteil, dass die Vorbereitung auf den staatsbürgerlichen "Ernstfall"in den Schulen lebens- und praxisnäher gestaltet werden könnte.

Wenig Belege gibt es dafür, dass sich durch Veränderungen im Wahlsystem zusätzliche Beteiligungsanreize vermitteln ließen. Die von Demokratielobbyisten gelegentlich geäußerte These, die Fünfprozent-Sperrklausel oder fehlende Möglichkeiten der Personenwahl schreckten die Bürger von der Teilnahme ab, ist reines Wunschdenken. Gutgemeinte Demokratisierungsvorschläge wie die Einführung einer Ersatzstimme oder die Ermöglichung einer Stimmenthaltung könnten hier sogar kontraproduktiv wirken, indem sie das Wahlsystem verkomplizieren.

Vielversprechender erscheinen Überlegungen, die bei der Technik des Wählens ansetzen, das heißt den Orten und Zeitpunkten der Stimmabgabe. Hier könnte man nahtlos an die bestehenden Formen anknüpfen, indem man etwa die Öffnungszeiten der Wahllokale und/oder die Fristen der Briefwahl ausweitet. Beides ließe sich ohne nennenswert größeren Aufwand realisieren. Keine grundsätzlichen Bedenken bestehen gegen die Einführung einer universellen Briefwahl. Diese sollte sich aber – zumindest im ersten Schritt – nur auf Volksabstimmungen (wenn diese nicht zeitgleich mit einer regulären Wahl stattfinden) und die Nebenwahlen erstrecken, wo sie nach den vorliegenden ausländischen Befunden (insbesondere aus der Schweiz) ihre größten Effekte erzielt. Auf kommunaler und Landesebene wäre die universelle Briefwahl durch die Verfassungsautonomie der Länder problemlos umsetzbar; bei den Volksabstimmungen ist sie (wie in Hamburg) zum Teil schon Realität. Weil die Briefwahl mit Einschränkungen bei der Geheimheit, Freiheit und Öffentlichkeit der Wahl verbunden ist, darf und kann sie die klassische Präsenzwahl nicht ersetzen; diese muss vielmehr durch ein dichtes, insofern nicht beliebig ausdünnbares Netz an Wahllokalen und Abstimmungsstellen in möglichst vollem Umfang aufrechterhalten bleiben. Des Weiteren ist durch das gleichberechtigte Nebeneinander beider Formen noch stärker als heute Sorge zu tragen, dass Fehler bei der Briefwahl vermieden werden und es zu keinen Doppelzählungen kommt.

Größere Skepsis ist mit Blick auf Einführung von Wahlwochen beziehungsweise das "Wählen im Supermarkt" angebracht – ein Vorschlag, den Yasmin Fahimi als SPD-Generalsekretärin 2014 in die Debatte gebracht hat. Der finanzielle und administrative Mehraufwand steht hier in keiner vernünftigen Relation zu den wahrscheinlich nur minimalen Zuwächsen bei der Wahlbeteiligung, zumal mit der Briefwahl in der Bundesrepublik eine bequeme Möglichkeit der vorzeitigen Stimmabgabe bereits besteht. Darüber hinaus entwerten die unkonventionellen Orte den Wahlakt in seiner staatsbürgerschaftlichen "Sakralität", die neben einem würdigen Rahmen auch eine gewisse Bringschuld des Wählers verlangt. Daher lässt sich nachvollziehen, warum sie mit Ausnahme Schwedens auf nationaler Ebene nirgendwo vorkommen.

Für die Stimmabgabe über das Internet, die eine moderne Form der Briefwahl darstellt, ist die Zeit noch nicht reif. Gegen Onlinewahlen sprechen nicht nur die nach wie vor bestehenden technischen Sicherheitsmängel, sondern auch die digitale Spaltung der Gesellschaft, die sich vor allem in der geringeren bis nicht vorhanden Netzaffinität der älteren Wählergruppen ausdrückt. Beide Probleme könnten in etwa zehn bis zwanzig Jahren überwunden sein. Bis dahin würde es sich auch in der Bundesrepublik anbieten, die elektronischen Formen der Stimmabgabe ähnlich wie in Großbritannien, Kanada, den Niederlanden oder Norwegen im Rahmen von Pilotprojekten auf der kommunalen und regionalen Ebene zu erproben, um in diesem Bereich international nicht den Anschluss zu verlieren.

Eine weitere Möglichkeit, der rückläufigen Wahlbeteiligung institutionell entgegenzuwirken, bestünde in der Zusammenlegung von Wahlen. Dies könnte zum einen durch Veränderungen im Regierungs- und Wahlsystem erreicht werden, indem man zum Beispiel die Wahlperioden von Bürgermeistern und Räten synchronisiert oder anstelle der heutigen Stichwahl ein Präferenzstimmensystem einführt. Damit ließen sich gleich zwei Urnengänge einsparen. Zum anderen könnten Wahlen auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig stattfinden. Dabei muss aber beachtet werden, dass nicht alle Wahlen zusammenlegungsfähig sind. So ist es etwa unter Föderalismusgesichtspunkten wenig zweckmäßig, die ohnehin stark von der Bundespolitik überlagerten Landtagswahlen zeitgleich mit einer Bundestagswahl anzusetzen. Auch die Abhaltung von Volksentscheiden an Wahlterminen erscheint aus demokratiepolitischer Sicht prekär, wenn sie dazu beiträgt, Beteiligungs- oder Zustimmungsquoren künstlich auszuhebeln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien: Eine Einführung, Wiesbaden 20084, S. 377.

  2. Welche Fehlinterpretationen aus einer Missachtung solcher Unterschiede resultieren können, lässt sich z.B. am bekannten Demokratisierungsindex des finnischen Mathematikers Tatu Vanhanen ablesen, der die Qualität einer Demokratie an zwei Indikatoren festmacht: der Höhe der Wahlbeteiligung und der Fragmentierung des Parteiensystems. Dies führte in der empirischen Anwendung dazu, dass Italien und Belgien (wo eine Wahlpflicht besteht) auf der Demokratieskala obere Plätze belegen, während die Schweiz und die USA (wo die Häufung von Wahlen und Abstimmungen und – in den USA zusätzlich – die erschwerte Wählerregistrierung auf die Höhe der Wahlbeteiligung drücken) weit unten rangieren. Vgl. Tatu Vanhanen, Prospects of Democracy. A Study of 172 Countries, London–New York 1997. In den späteren Fassungen des Indexes hat Vanhanen seine Messmethode korrigiert, um die institutionell bedingten Unterschiede besser einzufangen.

  3. Die "indirekte" Wahlpflicht in Gestalt einer Mindestbeteiligung war im 19. Jahrhundert in einer Reihe von deutschen Fürstentümern geläufig, etwa in Sachsen, Braunschweig, Württemberg, Bayern und Baden, wurde dort jedoch bereits vor der Jahrhundertwende nicht mehr umgesetzt. Neuerdings ist sie auf der kommunalen Ebene in Brandenburg wieder eingeführt worden, wo bei der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte ein 15-prozentiges Zustimmungsquorum gilt. Wird dieses nicht erreicht, erfolgt die Wahl ersatzweise durch die Gemeindevertretung beziehungsweise den Kreistag.

  4. Vgl. Hanna F. Pitkin, The Concept of Representation, Berkeley u.a. 1967. Das dritte, von Pitkin als "formal" bezeichnete Merkmal der Repräsentation bezieht sich auf das stellvertretende Entscheiden. Es ist vor allem für den Unterschied zwischen plebiszitären Sachentscheidungen (Abstimmungen) und Wahlen relevant. Bei Wahlen bestimmt das Wahlvolk die Zusammensetzung der Repräsentationsorgane, die anschließend in seinem Auftrag und Interesse regieren. Bei Abstimmungen wächst es dagegen selbst in die Rolle eines Repräsentationsorgans hinein, entscheidet also auch "stellvertretend" für jene, die an der Abstimmung nicht teilnehmen wollen, können oder dürfen. Vgl. Winfried Steffani, Das magische Dreieck demokratischer Repräsentation: Volk, Wähler und Abgeordnete, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 3/1999, S. 772–793.

  5. Vgl. Armin Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt/M.–New York 2015.

  6. Vgl. Frank Decker/Marcel Lewandowsky/Marcel Solar, Demokratie ohne Wähler? Neue Herausforderungen der politischen Partizipation, Bonn 2013.

  7. Vgl. etwa Wolfgang Schroeder, Vorsorge und Inklusion. Wie finden Sozialpolitik und Gesellschaft zusammen?, Berlin 2012.

  8. Vgl. Wolfgang Merkel, Steckt die Demokratie in einer Krise?, in: Caroline Y. Robertson-von Trotha (Hrsg.), Herausforderung Demokratie, Baden-Baden 2011, S. 11–29, hier S. 24.

  9. Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2008.

  10. Vgl. Pierre Rosanvallon, Demokratische Legitimität. Überparteilichkeit – Reflexivität – Nähe, Hamburg 2010.

  11. Zur Krise der Weimarer Demokratie siehe auch den Beitrag von Elke Seefried in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  12. Vgl. Everhard Holtmann/Tobias Jaeck, Was denkt und meint das Volk? Deutschland im dritten Jahrzehnt der Einheit, in: APuZ 33–34/2015, S. 35–45. Siehe auch den Beitrag von Wolfgang Gaiser/Martina Gille/Johann de Rijke in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  13. Vgl. Brigitte Geißel, Kritische Bürger. Gefahr oder Ressource für die Demokratie?, Frankfurt/M.–New York 2011.

  14. Vgl. Frank Decker, AfD, Pegida und die Verschiebung der parteipolitischen Mitte, in: APuZ 40/2015, S. 27–32.

  15. Vgl. z.B. Thorsten Faas, Wahlpflicht – warum eigentlich nicht?, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 10/2015, S. 17ff.

  16. Vgl. Decker/Lewandowsky/Solar (Anm. 6), S. 51ff.

  17. Vgl. Robert Vehrkamp/Niklas Im Winkel/Laura Konzelmann, Wählen ab 16. Ein Beitrag zur nachhaltigen Steigerung der Wahlbeteiligung, Gütersloh 2015.

  18. Vgl. Simon Luechinger/Myra Rosinger/Alois Stutzer, The Impact of Postal Voting on Participation: Evidence from Switzerland, in: Swiss Political Science Review 2/2007, S. 167–202. Die Autoren errechnen für die Schweiz eine durchschnittliche Steigerung der Wahlbeteiligung nach Einführung der universellen Briefwahl um 4,1 Prozentpunkte.

  19. Vgl. Roland Sturm, Wählen im Supermarkt, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 1/2015, S. 5ff.

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ist Professor für Politische Wissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. E-Mail Link: frank.decker@uni-bonn.de