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"Nach" Köln ist wie "vor" Köln. Die Silvesternacht und ihre Folgen

Christian Werthschulte

/ 19 Minuten zu lesen

Ereignisse erlangen nicht aus sich heraus Bedeutung, sondern erst, indem von ihnen erzählt wird. Dies gilt in besonderem Maße bei den sexuellen Übergriffen der Silvesternacht 2015/16 in Köln, Hamburg und anderen deutschen Städten. "Köln" markiert in diesen Erzählungen verschiedene Dinge: das angebliche Ende der "Willkommenskultur", die Notwendigkeit einer "ehrlichen" Debatte über den Islam oder auch einen "Schock". Das "Ereignis Köln", schreibt die Kulturwissenschaftlerin Gabriele Dietze, sei "scheinbar überfüllt von Bedeutungen", bleibe aber "in seinem Ereigniskern leer". Die Ereignisse der Silvesternacht sind nur nach und nach an die Öffentlichkeit gelangt: Wie die Polizei genau die Domplatte geräumt hat und wann die ersten Anzeigen vorlagen, wurde nur durch langwierige Befragungen und Recherchen bekannt. 1222 Anzeigen gingen bei der Staatsanwaltschaft Köln ein, davon 513 wegen sexualisierter Gewalt. Es wurde gegen 333 mutmaßliche Täter in 267 Verfahren ermittelt. Rund ein Jahr später sind 24 Täter verurteilt, in einem Großteil der Fälle ließen sich die Täter aufgrund schlechter Kameraaufnahmen und traumatisierter Zeugen und Zeuginnen nicht feststellen. Dennoch setzte schon mit Bekanntwerden der ersten Übergriffe eine Debatte darüber ein, was diese bedeuten: für den Umgang mit Geflüchteten und dem Islam, für den Feminismus in Deutschland und für das Selbstverständnis der Stadt Köln.

Silvester in den Medien

Die Gewalttaten der Silvesternacht werden in der Regel in Erzähl- und Erklärungsmuster eingebettet, die bereits vor den Übergriffen existierten. Die Einbettung gelingt deshalb so leicht, weil die Berichterstattung über die Ereignisse nicht der üblichen Methode folgte: An Silvester selbst waren keine Journalistinnen und Journalisten vor Ort. Die einzige Quelle war die verharmlosende Polizeimeldung vom Neujahrsmorgen mit dem Titel "Ausgelassene Stimmung – Feiern weitgehend friedlich". Erst im Laufe des Neujahrstages meldeten sich Augenzeugen in der Facebook-Gruppe "Nett-Werk Köln" oder wandten sich direkt an die Redaktionen der lokalen Medien. Auf deren Internetseiten erschienen die ersten Meldungen schon im Laufe des Tages, doch das Ausmaß der sexualisierten Gewalt wurde erst danach sichtbar. Die Kölner Boulevardzeitung "Express" schrieb am Sonntag, dem 3. Januar, erstmals, dass es zu einer größeren Anzahl sexueller Gewalttaten gekommen sein könnte. Erst danach fand das Thema auch in den überregionalen Medien Niederschlag. Am 4. Januar sprach Kölns damaliger Polizeipräsident Wolfgang Albers von 60 Anzeigen, davon ein Viertel wegen sexueller Übergriffe. Fast alle überregionalen Medien griffen das Thema an diesem Tag auf. Die große Ausnahme war das ZDF, das nicht in der Hauptausgabe der "heute"-Sendung darüber berichtete. Der stellvertretende Chefredakteur Elmar Theveßen entschuldigte sich am nächsten Tag in einem Facebook-Posting: "Die Nachrichtenlage war klar genug. Es war ein Versäumnis, dass die 19-Uhr-heute-Sendung die Vorfälle nicht wenigstens gemeldet hat." Unter seinem Beitrag sammelten sich rund 2300 Kommentare, von denen viele den Sender der bewussten Fehlinformation beschuldigten. Ebenfalls am 5. Januar gaben Albers und die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker eine gemeinsame Pressekonferenz. Reker erklärte, dass es keinen Hinweis darauf gebe, "dass es sich hier um Menschen handelt, die hier in Köln Unterkunft als Flüchtlinge" bezogen hätten. Albers ergänzte, dass es keine Tatverdächtigen gebe.

Das Vertrauen in die Äußerungen der Polizei war zu diesem Zeitpunkt bereits auf einem Tiefpunkt. "Bild" und "Spiegel Online" veröffentlichten am 7. Januar ein ihnen zugespieltes Gedächtnisprotokoll eines Bundespolizisten zur Lage vor dem Hauptbahnhof. Der Beamte berichtete von Böllerwürfen und massenhafter sexueller Belästigung durch "Asylbewerber". Unter anderem wollte er gesehen haben, wie Aufenthaltstitel "mit einem Grinsen im Gesicht und der Aussage: ‚Ihr könnt mir nix, hole mir Morgen einen Neuen‘" zerrissen worden seien. Zudem wollte er den Satz "Ich bin Syrer, ihr müsst mich freundlich behandeln! Frau Merkel hat mich eingeladen" gehört haben. Zwar äußerten Patrick Bahners in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und Georg Restle vom WDR-Magazin "Monitor" Zweifel an der Darstellung des Beamten, da der Bericht erst vier Tage nach Silvester verfasst wurde und die von ihm zitierten Syrer etwas zu gut Deutsch sprechen. Aber das Protokoll etablierte das dominante Narrativ über die Silvesternacht: Die Polizei hat uns belogen, es waren doch Flüchtlinge unter den Tätern.

Der "Kölner Stadt-Anzeiger" fügte ein entscheidendes Detail hinzu. Am Morgen des 8. Januar veröffentlichte er anonyme Stimmen aus dem Polizeiapparat, die behaupteten, tatverdächtige Geflüchtete aus Syrien, Irak und Afghanistan sollten aus politischen Gründen nicht im internen Polizeibericht auftauchen. Stattdessen stehe dort wider besseres Wissen die Formulierung "nordafrikanisch und arabisch aussehende Männer". Am Nachmittag des 8. Januar entließ NRW-Innenminister Ralf Jäger den Polizeipräsidenten Wolfgang Albers. Die Einschätzung des Polizeiberichts stellte sich jedoch als weitgehend korrekt heraus. Bis Anfang Dezember 2016 hatte die Staatsanwaltschaft Köln 333 Beschuldigte ermittelt. Davon waren 109 Asylsuchende, 53 hielten sich illegal in Deutschland auf, in 80 Fällen konnte der Aufenthaltsstatus nicht ermittelt werden, nur 44 Verdächtige besitzen einen legalen Aufenthaltsstatus als Nicht-EU-Bürger. Menschen aus Marokko und Algerien bilden die Mehrheit der Tatverdächtigen.

Journalistische Fehleinschätzungen von Fakten sind häufig durch die Tagesaktualität bedingt und nicht immer vermeidbar. Nach Silvester überformte das Narrativ "Politik und Polizei lügen, arabische Männer sind gefährlich" jedoch häufig die Wahrnehmung und damit auch die Themensetzung der Qualitätsmedien. Die Medienwissenschaftlerin Ricarda Drüeke arbeitete in einer Studie heraus, dass ARD und ZDF sich in ihrer Berichterstattung einseitig auf die als homogen wahrgenommenen Täter der Silvesternacht fokussierten und den gesamtgesellschaftlichen Rahmen sexueller Gewalt vernachlässigten. Das WDR-Magazin "Westpol" etwa folgte drei dunkelhäutigen jungen Männern mit verdeckter Kamera in den Kölner Hauptbahnhof, konnte aber kein Verbrechen aufzeichnen. Trotzdem wurden sie im Beitrag als "Antänzer" bezeichnet und damit als Kriminelle markiert. Gut drei Wochen nach der Silvesternacht hatten sich die großen Medien in der Berichterstattung immer stärker den Narrativen angeglichen, die jahrelang nur auf rechtsextremen Internetseiten wie "PI-News" kursiert waren.

CDU und FDP beantragten Mitte Januar 2016 im NRW-Landtag einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA), der im Frühjahr 2017 seinen Abschlussbericht vorlegen wird. Der PUA offenbarte einige Faktoren, die zum Verlauf der Silvesternacht beigetragen haben. Der Kriminologe Rudolf Egg etwa, der vom PUA mit einem Gutachten zur Silvestergewalt beauftragt wurde, widerlegte das Gerücht, die Übergriffe seien geplant gewesen. Er wies zudem auf die unpassenden polizeilichen Maßnahmen hin: "Zur Verhinderung der festgestellten Flut von Straftaten in dieser Nacht wäre ein möglichst rasches und vor allem frühzeitiges Eingreifen der Polizei und sonstiger Schutz- und Ordnungskräfte, also die konsequente Verfolgung erster Straftaten, ggf. auch die frühe Räumung und Sperrung größerer Flächen, erforderlich gewesen." Die Polizei sei personell überfordert gewesen und habe die Aussagen der Opfer über sexuelle Übergriffe nicht ernst genommen. Der Fokus des Untersuchungsausschusses auf das Versagen der Behörden bildet damit einen Gegensatz zu den Debatten der ersten Monate nach der Silvesternacht, in denen die Frage nach der Ethnizität der Täter in den Vordergrund gerückt war.

Doppelter Exzess


Die Täter der Silvesternacht waren lange Zeit Phantome. Erst im Sommer veröffentlichte das "Zeitmagazin" eine großangelegte Recherche, für die ihre Reporter und Reporterinnen mit einigen Tätern und Tatverdächtigen sprachen. Ihre Geschichten ähneln sich. Viele Täter sind illegal aus Nordafrika nach Europa migriert und haben sich in der Schattenwirtschaft europäischer Großstädte durchgeschlagen. Ihre Migrationsgeschichte ist von Kleinkriminalität begleitet, die Autoren und Autorinnen erwähnen zudem, dass alle Tatverdächtigen, mit denen sie gesprochen haben, an Silvester alkoholisiert waren und Drogen genommen hatten. "Für Leute, die sich länger mit Migration beschäftigen, ist es nicht überraschend, was die Autoren herausgefunden haben", sagt Migrationsforscher Martin Zillinger. Er spricht von einem "doppelten Exzess" der Silvesternacht: der Exzess der sexualisierten Gewalt und einem Exzess im Diskurs.

Die sexualisierte Gewalt wurde bereits kurz nach der Silvesternacht in Begriffen beschrieben, deren Konnotationen weit über die bekannten Ereignisse hinausreichen. Bundesjustizminister Heiko Maas nannte die Vorgänge einen "Zivilisationsbruch", ein Begriff, der normalerweise für die Schoah Verwendung findet. Im Fokus standen dabei die überwiegend migrantischen Täter und Tatverdächtigen. So verwendet etwa der "Express" seit der Silvesternacht die Polizeiterminologie "Nafri" (Nordafrikaner) für die Berichterstattung über Tatverdächtige mit nordafrikanischem Migrationshintergrund und hat damit auch Stellung in der Debatte um die Nennung der Herkunft von Tatverdächtigen in Medienberichten bezogen, die nach den Silvesterübergriffen aufflammte.

Mehrere Boulevardmedien und Illustrierte, darunter "Express", "Bild" und "Stern" nannten die Übergriffe eine "Schande" – ein Begriff, der Vorstellungen von Ehre oder (sexueller) Reinheit konnotiert. Semantisch näherten sie sich damit einem historischen Ereignis an: der "schwarzen Schmach" oder auch "schwarzen Schande". Dies war eine Kampagne des Kölner Bürgertums gegen die französische Besatzung des Rheinlands nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die Kampagne konzentrierte sich darauf, dass auch Soldaten aus den französischen Kolonien (Nord-)Afrikas eingesetzt wurden: "Von der gezielten ‚Mulattisierung und Syphilisierung‘ und ‚Verseuchung des deutschen Volkes‘ war die Rede; die französischen Besatzer ließen ‚weiße Menschen in Treibjagden durch Senegalneger zusammenfangen‘, um der ‚bestialischen Wollust afrikanischer Wilder zu dienen‘ (…) Geradezu zwanghaft wurden Bilder bemüht, die blonde Frauen in der Gewalt schwarzer Männer zeigten; eine zu trauriger Berühmtheit gelangte Münze von Karl Goetz schmückte ein riesiger Penis mit französischem Stahlhelm, an den eine deutsche ‚Unschuld‘ gekettet war."

Die Analogie stößt jedoch an eine Grenze: Während der Kampagne gegen die "schwarze Schmach" wurden viele sexuelle Übergriffe erfunden, bei der Silvesternacht geht die Staatsanwaltschaft Köln bislang nur von einer bewussten Fehlanzeige aus. Auch eine vor dem PUA gemachte Aussage über eine Vergewaltigung mit anschließender Schwangerschaft ist gegenstandslos geblieben.

In den 1920er Jahren wie 2016 fokussierte sich die Debatte auf die Sexualität von Männern aus Nordafrika. Am plakativsten zeigte sich das in der von der "Bild"-Zeitung verwendeten Formulierung eines "Sex-Mobs" am Kölner Hauptbahnhof. Aber auch die Qualitätsmedien zeigten denselben Fokus. Mitte Januar wollte "Die Zeit" wissen: "Wer ist der arabische Mann?" Die Antwort fiel ambivalent aus. Ein Redakteur berichtete von seinen Erlebnissen als arabischstämmiger Mann mit weißer Hautfarbe und den Anti-Araber-Sprüchen Berliner Taxifahrer, ein anderer arabischstämmiger Autor machte sich auf die Suche nach Klischees unter Berliner Arabern und fand nur ironische Anekdoten. Vier männliche Geflüchtete – überwiegend aus Syrien – gaben bereitwillig Auskunft über ihr konservatives Geschlechterbild. Alle Interviewten lehnten Sex vor der Ehe ab, berichteten aber auch, dass Gewalt gegen Frauen für sie ebenso tabu sei.

Gabriele Dietze merkte zu dieser Berichterstattung an, dass die Autoren versucht hätten, "das Wissensobjekt ‚Arabischer Mann‘ in einer bestimmten autoritativen Version zu etablieren". Konstitutiv dafür sei, "am arabischen Mann den aufgeklärten westlichen Mann zu konstruieren". Beispielhaft dafür stehe eine Aussage des "Zeit"-Redakteurs Bernd Ulrich: "Deutschland hat nach zwei militärisch und moralisch verlorenen Kriegen, nach Jahren des antiautoritären und antipatriarchalischen Kampfes eine immense Fähigkeit darin entwickelt, Männlichkeit zu entgiften. (…) Dem deutschen Stuhlkreis entkommt auf Dauer keiner."

Erklärungsformel

Die Täter werden über ihre Herkunft charakterisiert, ihre aktuellen Lebensumstände zwischen Kleinkriminalität und Flüchtlingsunterkunft nicht thematisiert. So werden die Gründe für die Übergriffe geografisch in die Herkunftsländer verschoben und kulturalisiert. Dies wird besonders deutlich in einem über soziale Netzwerke weitverbreiteten Text des ehemaligen ARD-Korrespondenten in Nordafrika, Samuel Schirmbeck, der sich in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" unter der Überschrift "Sie hassen uns" zu Wort meldete. Schirmbeck berichtet von der Alltäglichkeit sexueller Übergriffe, denen Frauen, darunter seine ehemaligen Mitarbeiterinnen, in Nordafrika jeden Tag "hunderttausendfach" ausgesetzt seien. Verantwortlich dafür sei eine "islamische Grundeinteilung der Welt", die "den Übergriff auf ‚westliche‘, gleich ‚ungläubige‘ Frauen" ermögliche. Die Schizophrenie dieses "außer Rand und Band geratenen" Islams habe "sich diesmal vor dem Kölner Hauptbahnhof ausgetobt". Begünstigt worden sei dies durch die linksliberale Toleranz in Deutschland: "Das gesamte linke und linksliberale Spektrum baute (…) eifrig an einem Multikulti-Schutzprotektorat für das Kopftuch samt dahinter steckendem Frauenbild, den Hass auf den ‚Westen‘, die Verschonung des Islams vor jeder Kritik."

Die Formel "Köln = arabisch-islamistisches Frauenbild + linksliberale Toleranz" hatte auch Monate nach Silvester noch mediale Konjunktur: Am 11. Mai 2016 war Samuel Schirmbeck zu Gast in der Talkshow "Maischberger". Das Thema lautete "Mann, Muslim, Macho: Was hat das mit dem Islam zu tun?" Neben Schirmbeck war auch "Emma"-Chefredakteurin Alice Schwarzer eingeladen, in deren Deutung der Silvesternacht Schirmbecks Thesen einen Widerhall finden. In ihrem im Mai 2016 erschienenen Buch "Der Schock – Die Silvesternacht von Köln" behauptet sie, seit einem Vierteljahrhundert herrsche in Deutschland "eine Political Correctness – allen voran befeuert von Grünen und Protestanten –, die nicht wahrhaben will, dass es mit spezifischen Menschengruppen spezifische Probleme geben kann." Diese Haltung ersetze "den Fremdenhass ihrer Väter und Großväter (…) durch eine nicht minder blinde Fremdenliebe". Auch Schwarzer sieht die Herkunft der Täter, die sie als "schriftgläubige Scharia-Muslime" bezeichnet, die "aus traditionell offen frauenfeindlichen Kulturen" stammen, als ursächlich für die Gewalt in der Silvesternacht. Die Täter seien "Männer, für die Frauen ‚unrein‘ sind und am Abend nichts auf der Straße zu suchen haben, sonst sind sie Freiwild. Männer, für die die Polizei nicht zu respektieren ist, weil für sie die Scharia über dem Gesetz steht. Männer, für die alle Nicht-Muslime Ungläubige sind und zu verachten." Während für Schwarzer eine kulturelle Prägung der Schlüssel zur Erklärung der Übergriffe ist, steht dem eine Aussage der Polizei Köln gegenüber: "Männer aus Nordafrika sind in den letzten Jahren bei Sexualdelikten nicht signifikant in Erscheinung getreten", erklärte Norbert Wagner von der Kriminalpolizei bereits im Januar 2016 im Rahmen einer Pressekonferenz.

Schwarzers Haltung ist zum Teil einer publizistischen Strategie geschuldet. Sie und ihre Zeitschrift "Emma" stilisieren sich damit zur feministischen Pressestimme, die bereits lange vor den Übergriffen in der Silvesternacht vor den Gefahren islamistischer Misogynie warnte. Die Position steht im Kontrast zur Initiative "#ausnahmslos", die unter anderem von der Redaktion des "Missy Magazine", der Medienberaterin Anne Wizorek und der freien Autorin Kübra Gümüsay ins Leben gerufen wurde. Nach Silvester veröffentlichten sie ein Manifest, bei dem die Reform des Sexualstrafrechts im Vordergrund steht. Nach Vorstellung der Unterzeichnerinnen soll hier sowohl der Grundsatz "Nein heißt Nein" gelten als auch die sexuelle Belästigung, etwa das Grapschen, als eigenständige Straftat eingeführt werden. Mit der im Juli 2016 vom Bundestag verabschiedeten Reform des Sexualstrafrechts wurden beide Forderungen umgesetzt, jedoch wurde das Gesetz in Reaktion auf die Silvesternacht um einen "Gruppenstraftatbestand" ergänzt sowie das Aufenthaltsrecht verschärft. Seither kann eine sexuelle Gewalttat von Ausländern zur Ausweisung führen. Die Unterzeichnerinnen von "#ausnahmslos" lehnten diese "Doppelbestrafung auf Grundlage der Staatsbürgerschaft" ab, da "die Bundesregierung mithilfe des geplanten Gesetzes nun einen Zusammenhang zwischen Sexualstraftaten und Aufenthaltstatus herstellt und rassistischen Vorurteilen dadurch Vorschub leistet."

Auch in Köln haben feministische Initiativen, Institutionen und Einzelpersonen auf die Silvesternacht reagiert. Schon kurz danach gab es einige Demonstrationen, zum Internationalen Frauentag im März fand eine mit 3500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern besuchte Demonstration unter dem Motto "Reclaim Feminisim – unser Feminismus ist antirassistisch" statt. Die Initiative "agisra", die geflüchtete Frauen mit Migrationshintergrund betreut, erneuerte nach Silvester ihre Forderung, dass die Stadt Köln ein Wohnheim nur für geflüchtete Frauen einrichten solle. Schon seit Längerem ist angekündigt, ein Heim in der Kölner Südstadt umzuwidmen, bislang wurde dies nicht umgesetzt.

"Du bes Kölle, du bes super tolerant"

Die Kölner Stadtgesellschaft kämpfte nach Silvester zunächst um ihr Selbstbild als tolerante Stadt, das nach den Übergriffen nicht mehr selbstverständlich erschien. "Du bes Kölle, du bes super tolerant. Nimps jeden op d’r Ärm – un an de Hand", heißt es im Lied "Du bes Kölle" des ehemaligen Bläck-Fööss-Sängers Tommy Engel. Es wird immer dann angestimmt, wenn diese Toleranz infrage gestellt wird.

Die Silvesternacht stellte diese Eigenwahrnehmung vor ein Dilemma, denn die Kölner mussten zur Kenntnis nehmen, dass ihnen diese Toleranz auch negativ ausgelegt werden kann. Drei Wochen nach Silvester haben sich prominente Kölner, darunter Friedenspreisträger Navid Kermani, BAP-Sänger Wolfgang Niedecken, die Künstlerin Rosemarie Trockel und Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki, mit einer "Kölner Botschaft" an die Öffentlichkeit gewandt: "Wir lieben die Vielfalt unserer Stadt, die Lebenslust, das immer etwas Chaotische, nicht ganz so Reglementierte, niemals Stubenreine, aber auch die Gastfreundschaft und Offenheit für Lebensformen, Kulturen und Sprachen, die erst seltsam anmuten und kurz darauf bereits zum Alltag gehören", heißt es in der Präambel des Textes. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner stellten vier wesentliche Forderungen auf: keinerlei Tolerieren von sexueller Gewalt; Kampf gegen bandenmäßige Kriminalität; Konsequenzen aus dem behördlichen Versagen; Ende der fremdenfeindlichen Hetze.

Dank der Mitarbeit der meisten Printmedien im Rheinland fand die "Kölner Erklärung" breite Resonanz. Lediglich Ekaterina Degot, die künstlerische Leiterin der Akademie der Künste der Welt, kritisierte den Text für die Stilisierung Kölns als tolerante Stadt. Dieser Lokalpatriotismus, so Degot, sei "nicht nur provinziell und in sich geschlossen, auf beleidigende Weise selbstherrlich und blind in dem Glauben an die eigene ‚Offenheit‘, sondern politisch gesehen problematisch, da er ‚uns‘ von ‚denen‘ abgrenzt". Die Kölner Botschaft bediene "sich im Wesentlichen eines ethnischen Rahmens zur Definition des anderen, wobei die Unterscheidung zwischen ‚uns‘ und ‚denen‘ vor allem anhand jener rassischen Kriterien erfolgt, welche die öffentliche Meinung dominieren." Ein Beispiel dafür ist die Passage in der "Kölner Botschaft", in der gefordert wird, sexualisierte Gewalt nicht zu tolerieren. Dort wird einerseits erklärt, in Deutschland werde "alle drei Minuten eine Frau Opfer einer Vergewaltigung, etwa drei Viertel von ihnen in der eigenen Familie oder im Bekanntenkreis". Gleichzeitig stellt der Text einen Machismo "in Milieus von Menschen arabischer oder orientalischer Herkunft" heraus. Auch wenn Degot die Widersprüche der "Kölner Botschaft" deutlich herausarbeitet, fanden ihre Einwände in Köln keine große Resonanz, was auch mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung kurz vor Weiberfastnacht zusammenhing.

Schon früh war klar, dass Karneval 2016 zu einer Bewährungsprobe für Stadt und Polizei stilisiert werden würde. Bereits bei der ersten Pressekonferenz nach Silvester am 5. Januar hatte Oberbürgermeisterin Reker betont, wie wichtig es sei, "dass wir uns das Karnevalfeiern in Köln durch solche Vorfälle nicht nehmen lassen". Karneval ist zum einen das identitätsstiftende Volksfest, bei dem alleine zum Rosenmontagszug rund 1,5 Millionen Zuschauer kommen, darunter viele Touristen. Zum anderen ist er ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Mehr als 2000 Polizistinnen und Polizisten waren 2016 an Karneval im Einsatz, und anders als in den Vorjahren führte die Polizei Sexualstraftaten gesondert in ihrer Pressemitteilung auf. An den Karnevalstagen kam es zu 66 Anzeigen wegen Sexualdelikten, darunter ein Übergriff auf eine Reporterin vor laufender Kamera. Die Polizei führte dies auf das gesteigerte Anzeigeverhalten zurück. Zur Sessionseröffnung am 11. November 2016 fehlten Angaben über Sexualdelikte wieder.

Law and Order op Kölsch

Nicht nur über die Sicherheitslage während des Karnevals wurde kurz nach den Übergriffen diskutiert, auch der öffentliche Raum rund um den Kölner Dom rückte ins Zentrum der Debatte. Am 8. Januar ließ der "Express" unter der Überschrift "Räumt hier endlich auf" fünf verschiedene Kölner – allesamt männlich – zu Wort kommen, die rund um den Kölner Dom arbeiten. Alle fünf forderten einen neuen Umgang mit der Domumgebung und befürworteten eine stärkere Präsenz von Polizei und Ordnungsamt. So wünschte sich etwa Markus Trier, Direktor des Römisch-Germanischen Museums, dass "rund um den Dom konsequent aufgeräumt" wird. Unter dem Artikel wurde Oberbürgermeisterin Reker mit dem Statement zitiert, der Dom müsse wieder ein Aushängeschild sein. Auffällig ist, dass die tatsächlichen Nutzer der Domumgebung – Touristen, Pendler oder die Straßenkünstler auf der Domplatte – ebenso wenig zitiert wurden wie Organisationen, die den Opfern von sexueller Gewalt oder anderen Verbrechen helfen. Die Debatte setzte sich im Laufe des Januars fort. Peter Pauls, Chefredakteur des "Kölner Stadt-Anzeigers", erinnerte daran, dass seine Zeitung schon vor zwei Jahren einen Plan zur Verbesserung der Domumgebung präsentiert hatte. Dom- und Stadtdechant Robert Kleine forderte schließlich eine Schutzzone rund um das Kölner Wahrzeichen.

Politik und Verwaltung griffen seinen Vorschlag auf, wenn auch verzögert: Im Oktober wurden die Pläne der Stadt Köln für eine Neufassung der Stadtordnung bekannt, die das Verhalten im öffentlichen Raum reguliert. Zu den Vorschlägen gehörte eine Schutzzone um den Dom, in der organisiertes Betteln und Straßenmusik verboten sind. Am 12. Dezember 2016 verabschiedeten die Gremien die neue Stadtordnung. Straßenmusik bleibt zwar erlaubt, unterliegt aber strengeren Auflagen. Die Regelungen für das Betteln wurden stadtweit verschärft. In der Kölner Politik wurde die Neufassung vor allem mit Rückgriff auf die Silvesternacht diskutiert, obwohl bei den Übergriffen weder Bettler noch Straßenmusikanten eine Rolle gespielt hatten. Damit bestätigte sich eine Beobachtung des ehemaligen Kölner Polizeidirektors Udo Behrendes: "Letztlich werden seitdem auf allen Ebenen (Bund, Länder, Kommunen) Grundfragen zum Gewaltmonopol des Staates und zur Sicherheit und Kontrolle des öffentlichen Raumes erörtert. Die mit teilweise ‚heißer Nadel gestrickten‘ Positionspapiere, Handlungskonzepte und Gesetzesinitiativen gehen dabei thematisch vielfach über den eigentlichen Bezugsrahmen der Erkenntnisse der Kölner Silvesternacht hinaus."

Behrendes konstatierte einen Rückgang der Gewalt- und Straßenkriminalität und zitierte eine Studie des Bundeskriminalamtes, derzufolge die Fallzahlen von Kriminalität durch Zuwanderer ebenfalls gesunken sei. Damit stellte er die empirischen Grundlagen der Forderung nach einer Schutzzone um den Dom infrage. Diese Forderung folgt den Imperativen des Stadtmarketings und der Restaurierung einer Kölner Identität als tolerante Stadt.

Exemplarisch zeigt sich das auch im bislang letzten Kapitel: der Umgang der Stadt mit der Silvesternacht 2016/17. Schon früh hatte die Stadt Köln angekündigt, eine eigene Veranstaltung ausrichten zu wollen. Ein Konzert auf der Domplatte wurde aufgrund von Ordnungs- und Sicherheitsbedenken verworfen, sodass sich die Stadt letztlich für eine Videoinstallation entschied. Mit dem Lichtkunst-Projekt "Time Drifts Cologne" des Künstlers Philipp Geist wird das Domumfeld mit Begriffen und anderen Projektionen erleuchtet, um Köln so ins Bild zu setzen, wie es sich selber sieht: "als traditionsreiche Kulturmetropole, lebendig, vielfältig, modern und dabei vor allem sicher und zivilisiert".

Kontinuität statt Einschnitt


Die Formulierung "nach Köln" ist zum geflügelten Wort geworden. Sie deutet eine Zäsur an, aber es wird den Deutungsversuchen der Silvesternacht nicht immer gerecht. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagte auf einer Diskussionsveranstaltung in Köln im Oktober 2016, die Silvesternacht sei "vielleicht ein Wendepunkt in der Debatte um Flüchtlinge in Deutschland". Für die politischen Maßnahmen, die er als Innenminister initiierte, bedeuteten die Kölner Ereignisse jedoch keinen Einschnitt: Das im März 2016 verabschiedete Asylpaket II, das Integrationsgesetz vom Juli 2016 und die Ausweitung der Drittstaatenregelung für die Maghreb-Länder drücken keine Zäsur, sondern eine Kontinuität aus. Mit Ausnahme der temporären Aussetzung des Dublin-II-Abkommens im Sommer 2015 haben alle Änderungen in der Asylgesetzgebung seit der Neuformulierung des Grundgesetz-Artikels 16a 1993 Asylsuchenden erschwert, in Deutschland Asyl zu beantragen.

Doch egal, ob es die Asylgesetzgebung des Bundes, die Repräsentation der Täter im öffentlichen Diskurs oder die selbstbescheinigte Toleranz der Kölner Stadtgesellschaft betrifft: Die Debatte ist davon gekennzeichnet, dass die Silvesterübergriffe in bereits bestehende kulturelle Interpretationsmuster oder politische Initiativen überführt werden, die ihren Anfang vor Silvester genommen haben. Eine Ausnahme stellt die Reform des Sexualstrafrechts dar, die vor den Silvesterübergriffen in der Berliner Bürokratie auf ihre Umsetzung wartete und mit der erstmals der Grundsatz "Nein heißt Nein" im Sexualstrafrecht verankert wird. Damit ist jedoch nicht notwendigerweise auch eine Zäsur im Alltag verbunden. Die Stadt Köln tut sich weiterhin schwer damit, geflüchteten Frauen, die laut Gesetz als schutzbedürftig gelten, den nötigen eigenen Schutzraum zuzugestehen. Und eine Studie der EU vom November 2016 hat ergeben, dass 27 Prozent der Deutschen denken, dass "Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein kann". Nach Köln ist mehr beim Alten geblieben als es zuerst den Anschein hatte.

ist Politikredakteur beim Kölner Stadtmagazin "Stadtrevue". E-Mail Link: christian.werthschulte@stadtrevue.de