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Türkeistämmige in Deutschland. Heimatlos oder überall zuhause?

Haci-Halil Uslucan

/ 17 Minuten zu lesen

Von den gegenwärtig rund 17 Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit Zuwanderungsgeschichte bilden die Türkeistämmigen mit knapp drei Millionen – nach den (Spät-)Aussiedlern – die größte Gruppe. Etwa die Hälfte von ihnen ist eingebürgert. Sie sind jedoch, was Teilhabe- und Teilnahmechancen am gesellschaftlichen Leben betrifft, häufig an hinterster Stelle. Obwohl ihre Migrationsgeschichte bis 1961 zurückreicht, erscheinen sie der Mehrheitsgesellschaft offenbar noch immer als "fremd" und befremdlich. Ihre nach wie vor starken Herkunftsbezüge werden gelegentlich als "mangelnde Integrationsbereitschaft" gedeutet. Aber auch die Türkeistämmigen selbst bewerten das Integrationsgeschehen in Deutschland weniger positiv als andere Zuwanderergruppen, wie zuletzt das "Integrationsbarometer" vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) gezeigt hat. Um dies genauer zu verstehen, ist ein Blick in die herkunftskulturellen Voraussetzungen der Türkeistämmigen hilfreich.

Unterschiedliche Prägungen

Die Türkei gehört zweifellos zu einem der widersprüchlichsten Länder des Nahen Ostens beziehungsweise Südosteuropas. Zwar hat sie sich durch den Ausbau wirtschaftsliberaler Programme seit 1983 stark nach Westen geöffnet und konnte unter der Regierung der AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei) bis etwa 2012/13 ein starkes Wirtschaftswachstum verzeichnen, aber all diese Entwicklungen haben landesweit kaum zu einem kulturellen Wertewandel in Richtung mehr Liberalität und Toleranz für Diversität geführt. Im Gegenteil: Spätestens seit 1994 hat es im türkischen Parteienspektrum einen deutlichen Rechtsruck gegeben. Ab Mitte der 1990er Jahre – also noch vor der AKP-Machtübernahme 2002 – ist die türkische Gesellschaft stärker religiös und konservativ geworden. Die AKP hat diese Tendenzen bereitwillig aufgegriffen und insbesondere im Bildungswesen weiter ausgebaut.

Wie extrem die Gegensätze in der Türkei und ihrer Entwicklung sind, zeigt allein der Blick auf die sehr unterschiedlichen Alphabetisierungs- und Geburtenraten in den verschiedenen Landesteilen: Während im Osten und Südosten der Türkei (in den Provinzen Van und Şanlıurfa) gerade einmal gut zwei Drittel der Bevölkerung lesen und schreiben können, liegt die Alphabetisierungsrate im Westen der Türkei (etwa in den Metropolen Istanbul und Izmir) weit über 90 Prozent. Gleichzeitig bekommt eine Frau in Van durchschnittlich rund sechs Kinder, in Izmir dagegen 1,75, was nur leicht über dem entsprechenden Wert in westeuropäischen Großstädten liegt. Darüber hinaus wurde in einer Vielzahl von Studien eine hohe Religiosität in der Türkei nachgewiesen; dem "Werteatlas der Türkei" zufolge, der auf den Daten des World Value Surveys basiert, gehört die türkische Bevölkerung weltweit zu den religiösesten. Während sich beispielsweise 1990 etwa 75 Prozent der Türkinnen und Türken als religiös definierten, waren es 2011 bereits 85 Prozent. In detaillierten Auswertungen lässt sich auch hier die große regionale Variation feststellen: Je weiter östlich die Landesteile liegen, desto höher ist der Grad der Religiosität.

Diese Befunde sind relevant, um die je unterschiedlichen sozialstrukturellen Prägungen und Orientierungen auch in Deutschland einordnen und verstehen zu können, die – zumindest in der ersten, noch selbst zugewanderten Generation – nicht ganz aufgegeben wurden. Insbesondere der wirtschaftliche Aufschwung und die damit gestiegene politische Bedeutsamkeit des Landes haben dazu geführt, dass das Herkunftsland für in Deutschland lebende Türkeistämmige als Identifikationsquelle immer attraktiver wurde, vor allem dann, wenn mit längerer Aufenthaltsdauer keine bessere Einbindung und Akzeptanz in der hiesigen Gesellschaft einhergegangen sind. Denn Menschen haben das Bedürfnis, Teil eines starken "Wir" zu sein; bei fehlenden Identifikationsangeboten in der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird diese dann gegebenenfalls in einer "starken Türkei", in einem "starken Islam" oder anderem gesucht.

Darüber hinaus sind mit der Migration auch die zentralen Konfliktlinien der türkischen Gesellschaft, die sich in politischer, ethnischer und religiöser Ausprägung zeigen, auch nach Deutschland "importiert" worden; genauer gesagt, sind sie natürliche Folge bestehender transnationaler Bezüge von Menschen auch nach einer Migration. Diese finden regelmäßig ihren Niederschlag etwa im Umfeld von Wahlkampfveranstaltungen türkischer Politiker in Deutschland, nach militärischen Einsätzen der türkischen Armee im Südosten des Landes sowie in den vergangenen Monaten nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 in Auseinandersetzung mit staatsnahen Institutionen wie dem Moscheeverband DITIB (Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion) und inkriminierten Gruppen wie der Gülen-Bewegung.

Die erste Konfliktdimension liegt in den Spannungen zwischen laizistischen und religiösen Türken, deren Ursprung auf die Republikgründung 1923 zurückzuführen ist. Damals wurde von einer westlich orientieren Elite Laizismus verordnet, der von einem Großteil der Bevölkerung mehr oder weniger widerwillig angenommen wurde. Die heute regierende AKP ist seit einigen Jahren – im Bewusstsein ihrer Machtfülle – dabei, diese Verhältnisse wieder umzudrehen.

Die zweite Konfliktdimension ist die ethnische zwischen Türken und Kurden, die mit dem lange Zeit hochgehaltenen Selbstverständnis des türkischen Staates als ethnisch homogene Nation zu tun hat. Etwa ein Viertel bis ein Drittel der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen sind ethnische Kurden, was in etwa ihrem Bevölkerungsanteil in der Türkei entspricht. Ihre genaue Zahl ist schwer zu erfassen, weil diese nach Staatsangehörigkeit und nicht nach ethnischen Selbstdefinitionen erfolgt. Darüber hinaus leben in Deutschland auch Kurden aus anderen Staaten, etwa aus Syrien, Iran und Irak, die sich hier politisch und sozial für Belange des kurdischen Volkes in der Türkei engagieren.

Die dritte Konfliktdimension ist die stets latente Spannung in der unterschiedlichen Deutung des Islam und den daraus abgeleiteten Lebensformen zwischen Aleviten und Sunniten. Schätzungen zufolge sind etwa zwei Drittel der Türkeistämmigen in Deutschland sunnitische Muslime, etwa 12 bis 15 Prozent sind Aleviten; die anderen gehören entweder kleineren konfessionellen Richtungen an oder sind konfessionslos. Während die türkischen Sunniten innerhalb der islamischen Rechtsschulen der hanefitischen Tradition folgen, sind kurdische Muslime aus der Türkei beispielsweise in ihrer religiösen Praxis stärker von der schafiitischen Tradition geprägt.

Bei einem genaueren Blick wird also deutlich, dass die im Alltag verwendete, vermeintlich eindeutige kategoriale Zuordnung von Menschen zu einer bestimmten Ethnie, Religion oder Herkunft brüchig wird. Auch etwaige Annahmen, dass mit einer Auswanderung in ein anderes Land Menschen im Laufe ihres Lebens ihre im herkunftskulturellen oder familiären Kontext erworbenen Kompetenzen, Kenntnisse und Orientierungen ablegen und eine "neue Sozialisation" durchlaufen, verkennen die "Mächtigkeit" früher Habitualisierungen; und sie übersehen die grundlegenden Befunde der Transnationalismusforschung. Denn Zuwanderer sind in ihrem Alltag häufig in mindestens doppelte soziale und kulturelle Bezugsnetze involviert, manchmal auch in transnationale Netzwerke, die jenseits von Aufnahme- und Entsendeland liegen – wenn etwa Türkeistämmige aus Deutschland heraus Netzwerke nach Belgien, Frankreich, Großbritannien oder in die USA unterhalten. Eine Analyse der Daten des Sozio-oekonomischen Panels hat gezeigt, dass mehr als drei Viertel der Türkeistämmigen aus der ersten Generation seit ihrer Ankunft in Deutschland mindestens einmal im Jahr die Türkei besucht haben; etwa 77 Prozent hatten Angehörige im Ausland. Diese intensiven transnationalen Beziehungen haben einen markanten Einfluss auf den mentalen Haushalt der Türkeistämmigen.

Religiosität

In einer Vielzahl empirischer Studien wird zum einen die hohe Relevanz der Religion für die Identitätsentwürfe Türkeistämmiger deutlich, die zunächst als eine das Selbst stabilisierende Ressource anzuerkennen ist. Zum anderen führt die gelebte Religiosität innerhalb der Gruppe der Türkeistämmigen aber zu Spaltungen beziehungsweise zu einer deutlichen Differenzierung der individuellen Wertestruktur. Dies soll im Folgenden anhand einiger empirischer Studien und Befunde exemplarisch aufgezeigt werden.

Die Psychologen Jürgen Raithel und Joachim Mrazek haben in einer repräsentativen Studie, für die sie über 2100 "biodeutsche" und türkeistämmige Jugendliche im Alter von 14 bis 19 Jahren befragten, festgestellt, dass für die Identitätsdefinition "biodeutscher" Jugendlicher neben der primär nationalen Identität (deutsch) die sozialräumliche Verortung (etwa als Kölner, Berliner, Duisburger) und dann aber schon eine überregionale Zugehörigkeit (Europäer, Weltbürger) zentral ist. Die religiöse Dimension spielt für sie kaum eine Rolle, nur etwa acht Prozent gaben die Kategorie "Christ" an. Bei den türkeistämmigen Jugendlichen ergibt sich ein deutlich anderes Bild: Auch ihnen ist primär die national-ethnische (türkisch) Zugehörigkeit wichtig (94 Prozent), gefolgt von der Kategorie "Muslim" (86 Prozent) und dann aber bemerkenswerterweise von der Kategorie "Ausländer" (72 Prozent). Das Gefühl, nicht Teil der deutschen Gesellschaft zu sein, bildet also eine Kernkomponente ihrer Identität. Generell fühlen sich die türkeistämmigen Jugendlichen mehr "türkisch" als "biodeutsche" Jugendliche sich "deutsch" fühlen, wobei sich bei letzteren hinsichtlich der nationalen Identifikation markante Bildungseffekte zeigen: Hauptschüler empfinden sich eher als "deutsch", Gymnasiasten fühlen sich eher als "Weltbürger". Für die Türkeistämmigen lassen sich diesbezüglich hingegen kaum Bildungseinflüsse nachweisen. Stattdessen sind bei ihnen hinsichtlich der religiösen Dimension Bildungseffekte festzustellen: Türkeistämmige Hauptschüler fühlen sich eher als Muslime, Gymnasiasten etwas weniger.

In einer früheren Studie von 2011 mit türkeistämmigen Zuwanderern, Türken in der Türkei und "Biodeutschen" habe ich gezeigt, dass eine aktiv gelebte Religiosität die Wertewelt von Türken (in der Türkei) und türkeistämmigen in Deutschland deutlich stärker trennt als dies innerhalb der ethnisch deutschen Gruppe der Fall ist. Religiosität ist demnach für "Biodeutsche" eher eine private, spirituelle Angelegenheit, die andere Wertauffassungen nur unwesentlich berührt. Für die Gruppe der Türkeistämmigen und Türken (in Deutschland und in der Türkei) lässt sich hingegen zeigen, dass in der Religion eine die Wertestruktur deutlich prägende Kraft liegt. Bereits 2009 ist in einer soziologischen Studie mit Blick auf die allgemeine Religiosität von Türkeistämmigen eine über Generationen hinweg vorzufindende Stabilität festgestellt worden, die weitestgehend unabhängig von sozialen Schichtmerkmalen ist. Auch hat das Essener Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) von 2000 bis 2013 eine Relevanzzunahme muslimischer Religiosität dokumentiert: Der Anteil der "eher" bis "sehr" Religiösen ist in diesem Zeitraum von 56,7 Prozent auf knapp 82 Prozent angestiegen. Zugleich gab es eine markante Abnahme der "weniger" Religiösen um gut 40 Prozentpunkte auf etwa 18 Prozent.

Schließlich ist ein Befund aus Österreich zu nennen: Trotz sozioökonomischer Angleichungsprozesse – für die jüngere Generation etwa ist eine gewisse Aufwärtsmobilität feststellbar –, gibt es eine hohe Wertetransmission zwischen den Generationen beziehungsweise ein Festhalten an den Werten der Herkunftskultur der Eltern. Dies bestätigt die schon ältere Erkenntnis, dass bestimmte religionsspezifische Dogmen in der Migrationssituation recht stabil sind, auch wenn in der individuellen Lebensführung eine deutliche Abnahme der Verbindlichkeit religiöser Normen zu beobachten ist. Das heißt im Klartext: Die Jugendlichen bezeichnen sich zum Beispiel als Muslime und kennen eventuell auch einige islamische Gebote und Dogmen, sind in ihrem Alltag – etwa, was das tägliche Gebet, das Fasten im Ramadan oder anderes betrifft – jedoch kaum davon geleitet. Insofern ist hier geboten, die Annahmen klassischer Modernisierungs- und Wertewandeltheorien mit Blick auf Migrationssituationen neu zu konzeptualisieren.

Für türkeistämmige Zuwanderer, die als eine große Gruppe von Diskriminierungen, Entwertungserlebnissen und Rückweisungen im sozialen Alltag betroffen sind, kann Religion die Funktion einer symbolischen Heimat annehmen, die neben der Orientierung im alltäglichen Handeln auch ein Gefühl transzendentalen Schutzes und Geborgenheit vermittelt.

Politisches Zuhause?

Menschen mit Migrationshintergrund bilden für die politischen Parteien in Deutschland ein immer wichtiger werdendes Potenzial; ihre spezifischen Bedürfnisse, Wünsche, Haltungen und Einstellungen sowie deren Dynamiken zu kennen, kann künftig wahlentscheidend sein. Über alle Zuwanderergruppen hinweg lässt sich festhalten, dass diese ihr politisches Zuhause eher in der SPD gefunden haben, mit deutlichem Vorsprung vor den Unionsparteien: 40,1 Prozent geben eine Präferenz für die Sozialdemokraten an, 27,6 neigen eher zu CDU/CSU. Bündnis 90/Die Grünen (13,2 Prozent) und Die Linke (11,3 Prozent) liegen fast gleichauf dahinter. Allerdings gibt es markante Unterschiede zwischen den beiden größten Zuwanderergruppen, den (Spät-)Aussiedlern und den Türkeistämmigen: Während die Gruppe der (Spät-)Aussiedler mit 45,2 Prozent nach wie vor deutlich die Union favorisiert, ist bei den Türkeistämmigen die SPD mit 69,8 Prozent die beliebteste Partei, dahinter folgen Bündnis 90/Die Grünen mit 13,4 Prozent, Die Linke mit 9,6 Prozent und schließlich die CDU/CSU mit 6,1 Prozent.

Haben wir es bei den Türkeistämmigen also mit einer überaus linksliberalen Gesinnung zu tun, die zugleich, wie oben gezeigt, nationalistisch und religiös geprägt ist? Wie ist dieser Widerspruch zwischen psychologischem Profil und Parteipräferenz zu erklären? Hierfür ist die Analyse des Wahlverhaltens mit Blick auf türkische Parteien hilfreich, wie sie sich sowohl bei den Stimmabgaben zum türkischen Parlament 2015 (Juni und November) als auch bei der Präsidentschaftswahl 2014 gezeigt hat – und sich beim bevorstehenden Referendum im April 2017 vermutlich erneut zeigen wird. Hier sehen wir eine hohe Präferenz für die gegenwärtig in der Türkei regierende AKP, die je nach Bundesland unter den in der Türkei Wahlberechtigten bei 50 bis 70 Prozent liegt, und somit etwas höher als bei den Wählerinnen und Wählern in der Türkei, was Deutschland zu einem begehrten Wahlkampfort für türkische Politiker macht. Mit deutlichem Abstand folgt als zweitstärkste Kraft mit rund 16 Prozent die Unterstützung für die oppositionelle HDP (Halkların Demokratik Partisi, Demokratische Partei der Völker), eine politisch eher linksliberale und den Kurden nahestehenden Partei. Die türkischen Sozialdemokraten der CHP (Cumhuriyet Halk Partisi; Republikanische Volkspartei), sind in der Türkei gegenwärtig mit etwa 26 Prozent die zweitstärkste Partei, scheinen jedoch in der Gunst der Türkeistämmigen in Deutschland mit Werten um die 15 Prozent nur eine geringere Rolle zu spielen.

Hält man nun die Präferenzen der Türkeistämmigen für die deutschen Parteien dagegen, ergibt sich also ein in doppelter Hinsicht vollkommen umgekehrtes Bild: spiegelverkehrt zur Präferenz einheimischer deutscher Wähler und spiegelverkehrt zur Präferenz der Parteien in der Türkei. Auch wenn ein Großteil der Türkeistämmigen eingebürgert und de jure im Besitz vollständiger Rechte ist, lässt sich die Dominanz der SPD und der Grünen stark auf die Parteiprogramme beziehungsweise auf die Haltung der Parteien zum Beispiel zu Integration, Minderheitenrechten oder doppelter Staatsbürgerschaft zurückführen. Insofern kann bei den türkeistämmigen Wählern in Deutschland durchaus von einer pragmatischen, das Eigeninteresse kalkulierenden Positionierung gesprochen werden.

Die parteipolitischen Präferenzen mit Blick auf die Türkei hingegen lassen sich in erster Linie mit den unterschiedlichen Migrationswellen erklären: In der ersten Phase der Migration, von 1961 bis 1973, rekrutierten sich die damaligen "Gastarbeiter", die danach schrittweise ihre Familien nachholten, eher aus der ländlichen Bevölkerung, die weitestgehend konservativ-islamisch geprägt war. In Deutschland organisierten sie sich über landsmannschaftliche Vereine (oft als "Kulturvereine") sowie über Moscheevereine, die gegenwärtig politisch eher zum Wählerreservoir der regierenden AKP zählen. Diese konservativ-religiösen Haltungen werden weitestgehend in den Familien an die nachfolgenden Generationen tradiert; generell ist die intergenerationale Wertetransmission bei Zuwanderern stark ausgeprägt.

In der zweiten größeren Migrationswelle, während und nach dem Militärputsch von 1980 sowie nach den lang andauernden Unruhen im Südosten der Türkei in den 1990er Jahren, kamen verstärkt Menschen mit einer eher politisch linken Gesinnung oder aus den überwiegend von Kurden bewohnten Gebieten und suchten in Deutschland Asyl. Gegenwärtig stellen neben (hier aufgewachsenen) linksliberalen Intellektuellen insbesondere kurdische und auch alevitische Gemeinden (aus ihrer historischen Spannung zum sunnitischen Islam) die größten Unterstützungspotenziale für die HDP und haben eine kritische Haltung zur AKP. Die türkische Sozialdemokratie – unter anderem mit der Betonung des Laizismus sowie der Atatürk’schen Reformen – bietet für die Türkeistämmigen in Deutschland kein scharfes Profil; ihre Themen (wie etwa der Laizismus) berühren die Lebenswelt der Türkeistämmigen weniger, ihr Adressatenkreis ist eher eine westlich, weltlich und städtisch orientierte Elite in der Türkei.

Am Beispiel dieses scheinbar widersprüchlichen Wahlverhaltens lässt sich die mehrfache Gespaltenheit der türkeistämmigen Zuwanderer nachvollziehen: Auf der einen Seite gibt es eine starke religiös-konservative Orientierung, die den Islamisierungstendenzen in der Türkei zumindest wohlwollend gegenübersteht, aber hier die stärksten Ausgrenzungserlebnisse macht und zu Recht mehr Teilhabe und Gleichberechtigung einfordert; auf der anderen Seite gibt es eine linksliberale Orientierung, die den politischen Entwicklungen in der Türkei höchst kritisch gegenübersteht, zugleich aber auch skeptisch ist, was ein stärkeres Empowerment von Muslimen in Deutschland betrifft, weil sie diese als "rückständig" und "vormodern" deutet. Eine Balance wäre hier eher mit einer Orientierung an Menschenrechten und allgemeinen Gleichheitsgrundsätzen herzustellen, jenseits von nationaler und religiöser Orientierung.

Emotionale Heimat?

Häufig wird die identifikative Integration, das "Sich-Deutsch-Fühlen" als Krönung einer gelungenen Integration betrachtet und insbesondere von den Nachfolgegenerationen – spätestens ab der dritten Generation – von der Mehrheitsgesellschaft auch erwartet. Die prominente Betonung herkunftskultureller Identitätsmerkmale wird im öffentlichen Diskurs hingegen als Zeichen gescheiterter Integration, manchmal gehässig auch als "Integrationsresistenz" oder "Integrationsverweigerung" gedeutet. In der Integrationsforschung hat sich jedoch seit Langem die Erkenntnis durchgesetzt, dass weder eine Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft eine Rückweisung der Verbundenheit mit der Herkunftskultur bedeutet, noch die Identifikation mit der Herkunftskultur eine Ablehnung der Aufnahmegesellschaft markiert. Loyalitäten und Identifikationen sind kein Nullsummenspiel. Zuwanderer können in ihrem sozialen Alltag je nach Lebenssituation zwischen den verschiedenen kulturellen Bezugs- und Orientierungssystemen wechseln – etwa Mehrfachintegrationen und Mischidentitäten aufweisen –, ohne dass dies als ein Zeichen von Pathologie oder sozialer Exklusion beziehungsweise Selbstexklusion zu werten ist. Die im Unterton meist gehässige Rede von "Parallelgesellschaften" verkennt, dass trotz unterschiedlicher politisch-religiöser Ausrichtungen und Orientierungen von Einheimischen und Zuwanderern beziehungsweise deren Nachkommen im alltäglichen Zusammenleben tatsächlich vielfältige freundschaftliche Beziehungen sowie Nachbarschaften bestehen und diese von beiden Seiten auch explizit gewünscht sind.

Um eine empirische Orientierung über die Stärke und Zusammenhänge der Identifikationen beziehungsweise Beheimatungen Türkeistämmiger zu bekommen, sollen im Folgenden einige repräsentative Daten vorgestellt werden, die das ZfTI 2015 in einer Mehrthemenbefragung in Nordrhein-Westfalen erhoben hat. Als ein Indikator des Zugehörigkeitsgefühls, der auch eine bikulturelle Identifikation abbilden kann, wurde die Frage nach der heimatlichen Verbundenheit mit Deutschland, der Türkei oder mit beiden Ländern gestellt: Eine heimatliche Verbundenheit allein zu Deutschland empfinden demnach 18 Prozent der Befragten; weitere 30 Prozent sehen sowohl Deutschland als auch die Türkei als ihre Heimat (Abbildung). Zusammengefasst hat also knapp die Hälfte der Türkeistämmigen Heimatgefühle für Deutschland. Dagegen sehen 47 Prozent nur die Türkei als ihre Heimat; vier Prozent fühlen sich nirgends zu Hause.

Abbildung: Heimatliche Verbundenheit mit den Ländern Deutschland und Türkei 1999 bis 2015 (in Prozent) (© bpb)

Betrachtet man die heimatliche Verbundenheit im Zeitverlauf, so wird deutlich, dass diese offenbar von allgemeinen Stimmungen beeinflusst wird. Insbesondere seit 2012 nimmt die Verbundenheit mit der Türkei zu; hingegen nimmt die Verbundenheit mit Deutschland tendenziell eher ab beziehungsweise stagniert. Diese Entwicklung lässt sich zum einen möglicherweise damit erklären, dass die AKP seit einigen Jahren deutlich stärker um die Gunst der "Auslandstürken" buhlt und sie in ihre politischen und strategischen Überlegungen einbezieht – etwa durch die Gründung eines Ministeriums für die Belange der "Auslandstürken", durch die Schaffung von Wahlmöglichkeiten in den Konsulaten oder durch symbolische Identitätsangebote durch türkische Politiker als "stolze Erben" des Osmanischen Reiches. Zum anderen wirkt die gleichzeitige Fokussierung der deutschen Integrationspolitik auf die angeblich gescheiterte türkische beziehungsweise islamische Integration als Identifikationsbarriere.

Bei einer genaueren Analyse der Daten fallen einige interessante Differenzierungen und Zusammenhänge auf: So fühlen sich die nichtreligiösen Befragten seltener nur mit der Türkei, aber häufiger mit beiden Ländern oder nur mit Deutschland verbunden als die religiösen. Tendenziell lässt sich beobachten, dass mit der Zunahme sozialer Beziehungen das Verbundenheitsgefühl mit Deutschland sowie mit beiden Ländern zusammen zunimmt und die Verbundenheit mit der Türkei abnimmt. Auch die Wahrnehmung von Diskriminierung macht sich – gleichwohl die Korrelationen nicht überinterpretiert werden dürfen – bemerkbar: Wenn die Befragten angaben, dass sie bereits Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, ist eine höhere Türkeiverbundenheit und eine geringere Verbundenheit mit Deutschland sowie mit beiden Ländern zusammen zu beobachten. Als ein deutlicher Indikator erweist sich auch die Wahrnehmung der eigenen wirtschaftlichen Situation: Je schlechter diese eingeschätzt wird, desto geringer ist die Verbundenheit mit beiden Ländern und mit Deutschland und desto höher zeigt sich die Türkeiverbundenheit.

Hinsichtlich der Zuwanderergenerationen zeigt sich, dass Angehörige der ersten Generation und Heiratsmigranten (also diejenigen, die primär in der Türkei sozialisiert wurden) sich häufiger nur mit der Türkei und seltener nur mit Deutschland verbunden fühlen als Angehörige der zweiten und dritten Generation. Jedoch empfinden mehr Erstgenerationsangehörige beide Länder als ihre Heimat als Zweitgenerationsangehörige, die sich etwas häufiger mit keinem der beiden Länder verbunden fühlen. Auffällig und erklärungsbedürftig ist vor allem der Befund bei den Angehörigen der dritten Generation: Zu erwarten wäre eine deutlich stärkere Verbundenheit mit Deutschland; jedoch gaben sie häufiger an, sich nur mit der Türkei und seltener nur mit Deutschland verbunden zu fühlen, als Angehörige der zweiten Generation. Dieser kontraintuitive Befund fügt sich gut in Ergebnisse einer niederländischen Studie, die die Autoren dort als "Paradox of Integration" beschreiben. Bei den in dieser Untersuchung befragten ethnischen Gruppen (Türkeistämmige, Marokkaner, Surinamesen) hatten vor allem die besser Gebildeten und besser Integrierten weniger positive Einstellungen zu der Aufnahmegesellschaft. Zu erklären ist dies damit, dass diese deutlich sensibler gegenüber gesellschaftlicher Diskriminierung und verweigerter Zugehörigkeit sind. Sie verfolgen die zum Teil gehässig verlaufenden Diskurse zur Erwünschtheit und Integration von Zuwanderern aufmerksamer und haben die Gleichheitsgrundsätze wesentlich stärker verinnerlicht – weshalb sie auf Erfahrungen der Ungleichbehandlung mit einem "ethnischen Rückzug" und der Aktualisierung herkunftskultureller Identitätsdimensionen reagieren.

Fazit

Sind die Türkeistämmigen nun in Deutschland zuhause? Diese Frage ist sicherlich kaum mittels einer binären Ja-Nein-Logik zu fassen. Sie sind dabei, sich im (gar nicht mehr so) neuen Zuhause Deutschland einzurichten. Sie werden es eher als ihr Zuhause wahrnehmen, wenn sie dort gewohnte Einrichtungsgegenstände aufstellen können, wenn sie die Wände und Zimmer anders aufteilen können, und wenn sie an der Architektur des gesamten Hauses mitwirken können.

Für die Stärkung der Identifikation von (nicht nur türkeistämmigen) Zuwanderern mit Deutschland lässt sich also festhalten, dass eine staatsbürgerliche, soziale und kulturelle Gleichberechtigung sowie ihre Akzeptanz und der Abbau der Diskriminierung in der Bildungs- und Arbeitswelt zentral sind. Denn wenn Menschen das Gefühl vermittelt bekommen, "ausgegrenzt" zu sein und nicht dazuzugehören, wenn Jugendliche als eine zentrale Dimension ihrer Identität "Ausländer" angeben, erscheint es auch für sie psychologisch widersinnig, an einer Wertewelt jener Gruppe teilzuhaben, die sie doch gar nicht in ihrer Mitte haben will.

Fussnoten

Fußnoten

  1. So bewerten die Türkeistämmigen das Integrationsklima in Deutschland auf einer Skala von 0 (negativ) bis 100 (positiv) mit 62,7 Punkten und damit schlechter als beispielsweise die (Spät-) Aussiedler mit 68,6 Punkten und Zuwanderer aus anderen EU-Ländern mit 71 Punkten (Bevölkerung ohne Migrationshintergrund: 65,4 Punkte). Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Viele Götter, ein Staat: Religiöse Vielfalt und Teilhabe im Einwanderungsland. Jahresgutachten 2016 mit Integrationsbarometer, Berlin 2016, S. 25f.

  2. Vgl. Yasemin El-Menouar/Martin Fritz, Sozioökonomische Entwicklung und Wertvorstellungen in elf Regionen der Türkei, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 61/2009, 535–561.

  3. Vgl. Yilmaz Esmer, Türkiye Değerler Atlası 2012 (Werteatlas der Türkei 2012), Istanbul 2012.

  4. Vgl. Margit Fauser/Eveline Reisenauer, Diversität und Dynamik transnationaler Beziehungen, in: Barbara Pusch (Hrsg.), Transnationale Migration am Beispiel Deutschland und Türkei, Wiesbaden 2013, S. 171–185.

  5. Vgl. Jürgen Raithel/Joachim Mrazek, Jugendliche Identität zwischen Nation, Region und Religion, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 7/2004, S. 431–445.

  6. Vgl. Hacı-Halil Uslucan, Parallelwelten oder Parallelwerte? Die Wertewelt türkischstämmiger Migranten in Deutschland, in: Dirk Lange (Hrsg.), Entgrenzungen. Gesellschaftlicher Wandel und Politische Bildung, Schwalbach/Ts. 2011, S. 85–94.

  7. Vgl. Claudia Diehl/Matthias Koenig, Religiosität türkischer Migranten im Generationenverlauf: Ein Befund und einige Erklärungsversuche, in: Zeitschrift für Soziologie 38/2009, S. 300–319.

  8. Vgl. Martina Sauer, Teilhabe und Befindlichkeit: Der Zusammenhang von Integration, Zugehörigkeit, Deprivation und Segregation türkeistämmiger Zuwanderer in Nordrhein-Westfalen, Essen 2016, Externer Link: http://zfti.de/wp-content/uploads/2016/11/NRW-Mehrthemenbefragung-2015_Bericht_end.pdf.

  9. Vgl. Hildegard Weiss, Der Wandel religiöser Glaubensgrundsätze in muslimischen Familien – Säkularisierungstendenzen bei der zweiten Generation?, in: dies./Philipp Schnell/Gülay Ateş (Hrsg.), Zwischen den Generationen. Transmissionsprozesse in Familien mit Migrationshintergrund, Wiesbaden 2014, S. 71–94.

  10. Vgl. Herbert Gans, Symbolic Ethnicity and Symbolic Religiosity: Towards a Comparison of Ethnic and Religious Acculturation, in: Ethnic and Racial Studies 17/1994, S. 577–592.

  11. Vgl. SVR, Schwarz, rot, grün. Welche Parteien bevorzugen Zuwanderer?, Sachverständigenrat deutscher Stiftungen, Policy-Brief des SVR-Forschungsbereichs 5/2016.

  12. Bei der Parlamentswahl in der Türkei im November 2015 nahmen von den rund 1,4 Millionen in Deutschland lebenden Wahlberechtigten 575.000 ihr Wahlrecht wahr.

  13. Vgl. Irina Mchitarjan/Rolf Reisenzein, Kulturtransmission bei Minderheiten: Ein Theorieentwurf, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 30/2010, S. 421–435; Weiss (Anm. 9).

  14. Vgl. Werner Schiffauer, Parallelgesellschaften. Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft? Für eine kluge Politik der Differenz, Bielefeld 2008.

  15. Vgl. Sauer (Anm. 8).

  16. Vgl. Irene ten Teije/Marcel Coenders/Maykel Verkuyten, The Paradox of Integration: Immigrants and Their Attitude Toward the Native Population, in: Social Psychology 44/2013, S. 278–288.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Haci-Halil Uslucan für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für Moderne Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen und wissenschaftlicher Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI). E-Mail Link: uslucan@zfti.de, Externer Link: http://www.uslucan.de