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Verlorene Wirklichkeit? An der Schwelle zur postfaktischen Demokratie | Wahrheit | bpb.de

Wahrheit Editorial Verlorene Wirklichkeit? An der Schwelle zur postfaktischen Demokratie "Wahres Wissen" und demokratisch verfasste Gesellschaft Lügen und Politik im "postfaktischen Zeitalter" Bullshit. Weder Wahrheit noch Lüge Kleine Geschichte des Faktenchecks in den USA Bilder und "historische Wahrheit" Wahrheit. Ein philosophischer Streifzug

Verlorene Wirklichkeit? An der Schwelle zur postfaktischen Demokratie

Vincent F. Hendricks Mads Vestergaard

/ 16 Minuten zu lesen

    Bevor die Massenführer die Macht in die Hände bekommen, die Wirklichkeit ihren Lügen anzugleichen, zeichnet sich ihre Propaganda durch eine bemerkenswerte Verachtung für Tatsachen überhaupt aus.

Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955)

Nach der Amtseinführung Donald Trumps als US-Präsident am 20. Januar 2017 lösten folgende Fragen hitzige Debatten über ganz grundlegende Tatsachen aus: Hatte während seiner Antrittsrede die Sonne zu scheinen begonnen? Und wie groß war die Menge gewesen, die dem Ereignis beiwohnte – größer oder kleiner als 2009 bei Barack Obama?

Donald Trump sagte am Tag nach seiner Amtseinführung während einer Rede in der CIA-Zentrale: "Wir hatten ein riesiges Feld voll mit Leuten. Man sah das. Brechend voll. Heute Morgen stehe ich auf, schalte einen Sender ein, und die zeigen ein leeres Feld. Ich sage: 'Warte mal: Ich habe eine Rede gehalten. Ich habe hinausgeschaut. Es sah aus wie eine Million, eineinhalb Millionen Menschen.' (…) Der Regen hätte sie verscheuchen können. Doch Gott sah herab und sagte: 'Wir werden es bei deiner Rede nicht regnen lassen.' (…) Gleich im ersten Satz trafen mich ein paar Tropfen, und ich sagte: 'Oh, das ist, das ist verdammt schade – aber wir ziehen das durch!' Doch die Wahrheit ist, dass es augenblicklich aufhörte. Es war großartig. Und dann wurde es richtig sonnig – und dann ging ich weg und gleich, nachdem ich fort war, schüttete es. (…) Ehrlich, es sah aus wie eineinhalb Millionen Leute. Egal, wie viele es waren. Aber sie standen bis hinunter zum Washington Monument."

Damit begann Trump seine Präsidentschaft mit leicht nachzuweisenden falschen Tatsachenbehauptungen. Die Fülle an Bildmaterial von der Amtseinführung zeigt zweifelsfrei, dass die Sonne sich während Trumps Antrittsrede zu keinem Zeitpunkt zeigte und die Menge nicht bis zum Washington Monument reichte. Auf Letzteres lassen auch die Passagierdaten der Washingtoner Verkehrsbetriebe schließen.

Bei der Pressekonferenz im Weißen Haus am 21. Januar ging Pressesprecher Sean Spicer jedoch noch einen Schritt weiter. Er griff die Medien wegen "absichtlich falscher Berichte" über die Größe der Menschenmenge an und stellte kategorisch fest: "Das waren die meisten Zuschauer, die jemals eine Amtseinführung miterlebten, Punkt. Sowohl vor Ort als auch weltweit." Rückhalt erhielt er am selben Tag von Trumps Beraterin Kellyanne Conway, die angesichts der Diskrepanz zwischen den öffentlich zugänglichen Beweisen und Spicers Worten von "alternativen Fakten" sprach, die Spicer geliefert habe. Als dieser ein paar Tage später für eine Fragestunde erneut vor die Presse trat, sagte er: "Manchmal können wir [das Weiße Haus] den Tatsachen widersprechen."

Ergibt es überhaupt einen Sinn, Tatsachen zu bestreiten, die leicht zu verifizieren sind, ihnen zu widersprechen oder "alternative Fakten" vorzulegen? Aus logischer Sicht jedenfalls nicht, denn man kann nicht "alternative Fakten" präsentieren, ohne dabei zu lügen oder sich zu irren. Tatsachen sind Tatsachen, sachliche Erklärungen sind entweder richtig oder falsch. Eine alternative Behauptung, die eine den Tatsachen entsprechende Aussage infrage stellt, ist schlicht eine falsche Behauptung. Auch aus erkenntnistheoretischer Sicht kann man nicht einfach Tatsachen widersprechen, ohne sich zu irren. Selbstverständlich lässt sich aber sehr wohl bestreiten, dass es sich um Tatsachen handelt. Ihnen zu widersprechen, bedeutet allerdings, der Wirklichkeit zu widersprechen. Ob wir es abstreiten oder nicht, und ob wir wollen oder nicht: Wenn die Sonne tatsächlich scheint, scheint sie – und zwar nur dann.

Als politische Strategie kann diese zweifelhafte Haltung zu Tatsachen allerdings durchaus sinnvoll erscheinen und mag sogar bereits zu einer erfolgreichen Strategie geworden sein. Denn das genannte Beispiel kann als Symptom einer sich entwickelnden postfaktischen Demokratie gedeutet werden.

Postfaktische Demokratie und Postwahrheitspolitik

Eine Demokratie befindet sich in einem postfaktischen Zustand, wenn nicht länger Tatsachen und Beweise, sondern opportune Narrative als Grundlage der Meinungsbildung in der öffentlichen Debatte und der Politik dienen. In einer postfaktischen Demokratie haben Tatsachen und deren Belege ihre Autorität verloren. Dann kann es zu politischem Erfolg führen, Fakten zu ignorieren. Dass Politikerinnen und Politiker Irrtümer in die Welt setzen und einen nachsichtigen Umgang mit Wahrheit und Lüge pflegen, ist keineswegs neu. Ein goldenes Zeitalter der Demokratie, in der Politiker ehrlich und authentisch waren, hat es nie gegeben. Politik ist seit jeher ein einigermaßen schmutziges Geschäft, und ein gehöriges Maß an Täuschung und Maskerade gehören dazu – allerdings ohne jemals offen zutage zu treten.

Das Neue an der postfaktischen Demokratie ist, dass man sich nicht mehr die Mühe geben muss, die Lüge zu verstecken oder den "Widerspruch" mit überprüfbaren Tatsachen zu unterfüttern. Wer beim Lügen ertappt wird, muss kaum Konsequenzen fürchten, solange er oder sie diejenigen, die die Lüge offenlegen, erfolgreich beschuldigen kann, selbst zu lügen und nicht vertrauenswürdig zu sein. Werden etwa Medien, die Lügen aufdecken, mit Erfolg als parteiisch gebrandmarkt – zum Beispiel als Teil der Opposition oder einer illegitimen Elite – oder wenn die Wählerinnen und Wähler ihnen selbst nicht trauen, dann zieht der Lügennachweis keinerlei ernsthafte Konsequenzen im Sinne eines Rückschlags in der politischen Karriere oder im Ansehen des Lügners nach sich. In der postfaktischen Demokratie scheint es nur noch zweitrangig zu sein, sich im Einklang mit den Tatsachen zu bewegen.

Die Diagnose des Postfaktischen verweist auf dasselbe Phänomen wie der Begriff der "Postwahrheit", wie ihn die Oxford Dictionaries definieren: "Bezieht sich auf und beschreibt Umstände, in denen objektive Tatsachen einen geringeren Einfluss auf das Zustandekommen öffentlicher Meinungen haben als Appelle an das Gefühl oder persönliche Ansichten." Wir ziehen im hier dargestellten Zusammenhang den Begriff des Postfaktischen vor, da er die kontroverse philosophische Frage nach der Wahrheit nicht berührt, die im Falle kognitivistischer metaethischer Positionen auch Fragen nach normativer Wahrheit umfassen kann. Das Postfaktische bezeichnet die faktische Wahrheit im engeren Sinn: eine Wahrheit, über die durch herkömmliche Quellen wie sinnliche Erfahrung, Wissenschaft, aber auch Journalismus entschieden wird, je nachdem, um welche Tatsachen es sich handelt.

Wenn die Arbeitsteilung zwischen politischen Akteuren und den Quellen von Tatsachen infrage gestellt wird, Fakten nicht mehr als gegeben akzeptiert werden und selbst Gegenstand politischer Auseinandersetzungen werden, wenn also solide, überprüfbare Fakten politisiert werden, um der politischen Logik einer parteiischen Auseinandersetzung zu folgen, gibt es für die politische Debatte keinen echten Fixpunkt mehr. Tatsachen werden zu Rosinen, die man sich herauspickt, wenn sie einer politischen Position oder einer Parteilinie entsprechen. Nicht nur Meinungen werden gewählt, sondern auch Fakten. Selbst die Frage, ob die Sonne scheint oder nicht, ist in diesem extremen Szenario abhängig von der politischen Meinung. Wenn alles politisch ist, ist alles relativ – und die tatsächliche Wirklichkeit hat die Bühne der Politik verlassen. Das ist der Beginn der postfaktischen Demokratie.

Medienlandschaft ohne Torwächter

Das Postfaktische wird stark durch das Medienumfeld gefördert. Erst jüngst zeigte eine Analyse des US-amerikanischen Medienunternehmens Buzzfeed zur derzeitigen politischen Debatte in digitalen Medien in Deutschland, wie rasch und wie weit sich sogenannte Fake News und Verschwörungstheorien im Netz verbreiten. Negative Geschichten über Bundeskanzlerin Angela Merkel, ihre Einwanderungspolitik und deren Konsequenzen führten Ende 2016 vor allem auf Facebook zu einer Fülle an Reaktionen und Kommentaren. Ob sie den Tatsachen entsprachen, schien für den Grad der ihnen geschenkten Aufmerksamkeit und ihre Verbreitung keine große Rolle zu spielen – im Gegenteil: Zu den Geschichten, die 2016 die meisten Facebookaktivitäten nach sich zogen, gehörten gegenstandslose Zuschreibungen psychischer Probleme, Verschwörungsszenarien zu Merkels angeblicher Kontrolle über Massenmedien wie das ZDF und eine Falschmeldung mit einem Foto, das Merkel beim Selfiemachen mit einem der Terroristen hinter den Brüsseler Anschlägen im März 2016 "zeigte".

Die Ergebnisse dieser Analyse entsprechen dem Befund einer wissenschaftlichen Untersuchung von 2015, demzufolge unbegründete Verschwörungsbehauptungen zeitlich und dem Umfang nach genauso stark kursieren, Aufmerksamkeit erhalten und nachhallen wie überprüfbare Tatsacheninformationen. Für das Verbreitungspotenzial im Netz ist Faktizität zweitrangig. Im Umfeld der neuen Onlinemedien scheinen Gerüchte, Falschmeldungen und fingierte Geschichten gut zu gedeihen und lange zu leben. Bei der Wahrheit zu bleiben, gehört nicht zu den notwendigen Bedingungen für eine große Resonanz von Medieninhalten. Aufgeblähte Onlineaufmerksamkeit kann sich jedoch real auf die demokratische Debatte, die Meinungsbildung und die politische Landschaft auswirken – selbst wenn haltlose Inhalte als solche entlarvt werden.

Mit dem Internet, der Digitalisierung und den sozialen Medien hat sich die Medienlandschaft dramatisch verändert. Traditionelle Medienanstalten haben ihr Monopol der Informationsverbreitung verloren. Konventionelle Torwächter für Informationen und Faktenwissen, also Journalistinnen und Redakteure, haben große Teile ihrer Macht eingebüßt. Das wurde zunächst als Demokratisierung der Medien gefeiert, denn die neuen digitalen und vernetzten Medien haben es möglich gemacht, ohne viel Aufwand Medieninhalte und Informationen auf Onlineplattformen und in sozialen Medien zu veröffentlichen, sodass heute jeder Einzelne ein Knotenpunkt der vernetzten Öffentlichkeit ist und dort eigene Meinungen äußern kann.

Optimistischen Hoffnungen zum Trotz zeigen empirische Studien jedoch, dass die Aufmerksamkeit keineswegs gleichmäßiger unter den Informationsquellen verteilt ist als zu Zeiten, in denen Massenmedien de facto noch über das Monopol der Informationsverbreitung verfügten. Die Aufmerksamkeit verteilt sich nach Machtregeln. Einige wenige große Vertriebskanäle und Onlineplattformen erhalten den Großteil der Aufmerksamkeit und bestimmen die Agenda. Diese Entwicklung hat die Rolle eines Torwächters und Informationsfilters untergraben, die der professionelle Journalismus innehatte.

Professionelle Journalisten und Redakteure folgen bei ihrer Arbeit ethischen Grundsätzen und Qualitätsrichtlinien. So hält etwa die Gesellschaft professioneller Journalisten in den USA die öffentliche Aufklärung für das umfassende demokratische Ziel ihrer Zunft und nennt eine Reihe von Prinzipien, die Journalisten befolgen sollen, wenn sie dieser Aufgabe gerecht werden wollen. Die Wahrheit zu suchen, sie zu überprüfen und fair und akkurat darüber zu berichten, steht an oberster Stelle. Nun müssen aber politische Akteure aller Art, Bürgerinnen und Bürger sowie Aktivisten, aber auch anonyme Zyniker mit dem einzigen Ziel, durch Aufmerksamkeit zu Geld, Macht oder Ansehen zu kommen, nicht mehr über die Medienanstalten gehen und vorbei an journalistischen Torwächtern. Das Resultat: Bei der Verbreitung durch soziale Transmission überholen Fake News überprüfte Ereignisberichte.

Aufmerksamkeit um jeden Preis

Hinzu kommt das Ungleichgewicht zwischen der überwältigenden Menge an verfügbaren Informationen und der begrenzten Aufmerksamkeit, das dem Postfaktischen ebenfalls Vorschub leistet. Im Informationszeitalter ist die Masse an zugänglichen Daten schlicht unvorstellbar. Individuen verfügen täglich aber nicht über unendlich viel Zeit und intellektuelle Kapazität. Gleiches gilt für die Makroebene: Die Agenda eines Gemeinwesens ist beschränkt. Die kumulierte Aufmerksamkeit individueller politischer, medialer oder ziviler Akteure hat Grenzen, ebenso die Fähigkeit des politischen Systems als solches, Informationen aufzunehmen. Auch die großen medialen Nachrichtenkanäle haben jeden Tag ein limitiertes Programm. Diese Kapazitäten stecken die Grenzen ab, innerhalb derer die verbreiteten Informationen kursieren, sowie dafür, was öffentliche und politische Aufmerksamkeit erfährt.

Die Aufmerksamkeitsknappheit macht die Informationsselektion zum entscheidenden Moment. Ob individuelle Akteure sachgemäß informiert sind, hängt davon ab, wie sie ihre Aufmerksamkeit einsetzen: Wer sie auf unzuverlässige Informationen und aus erkenntnistheoretischer Sicht bedenkliche Quellen wie konspirative, pseudowissenschaftliche, politische oder religiöse Propagandaplattformen richtet, wird weniger sachlich informiert, als wenn er Fakten und Informationen aus zuverlässigen Quellen bezieht. Gleiches gilt für Akteure, die statt politisch relevanter Informationen Unterhaltungsmedien konsumieren. Wer die Aufmerksamkeit auf die Sportseiten richtet, liest in dieser Zeit keinen politisch relevanten oder informativen Zeitungsartikel. Informationsselektion führt auch zu Echokammern und Filterblasen sowie zur daraus unter Umständen resultierenden gesellschaftlichen Fragmentierung. Solche Phänomene sind zum Teil also tatsächlich als Ausdruck von (suboptimaler) Aufmerksamkeitsverteilung zu verstehen.

Für die sachliche Qualität des öffentlichen Diskurses ist die Qualität der verbreiteten Information ausschlaggebend. Erhalten politisch unbedeutende Themen, unbrauchbare Belege und einseitige Berichte große Aufmerksamkeit, dann erfahren relevante Beiträge und fundierte Informationen gegebenenfalls nicht genügend Interesse, um den demokratischen Diskurs mit ausreichenden Kenntnissen zu unterfüttern. Umgekehrt dominieren auf diese Weise Narrative statt Tatsachen die öffentliche Agenda, Meinungen statt Kenntnisse, Stereotype statt repräsentative Beispiele, politische Blasen statt politische Substanz. Eine Folge ist der postfaktische demokratische Diskurs – in dem Fakten und Belege von zweitrangiger Bedeutung sind, da sie, verglichen mit unsachlichen Narrativen, nicht genügend Aufmerksamkeit erhalten.

Aufmerksamkeit steht aber nicht nur in begrenztem Maß zur Verfügung – sie ist zugleich äußerst gefragt und gerade im Netz das wertvollste Gut. Medienanstalten und -akteure buhlen um Aufmerksamkeit in Form von Leserinnen, Zuhörern, Betrachterinnen und "Klicks" und investieren immense Summen in Werbung und Marketing. Aufmerksamkeit ist ihre Währung, und als "Aufmerksamkeitshändler" im Netz lässt sich sehr viel Geld verdienen. Das Ergebnis ist ein ökonomischer Anreiz, auf allen nur erdenklichen Wegen Aufmerksamkeit zu erzeugen. In finanzieller Hinsicht ist die Sachlichkeit von Information dabei nicht von Belang. Ein Klick ist ein Klick und lässt sich in Euros und US-Dollar einlösen. Die Produktion von Fake News wird in dieser Umgebung zum zukunftsträchtigen Geschäftsmodell. Wenn die Öffentlichkeit zum Aufmerksamkeitsmarkt wird und das virale Narrativ zum Goldesel, kann es für politische Akteure erfolgreich sein, auf Polarisierung zu setzen.

Virale Narrative als politische Strategie

So zeichnet sich etwa der Populismus, der derzeit in vielen westlichen Demokratien immer mehr Wählerinnen und Wähler mobilisieren kann, durch den Gebrauch ausgrenzender und polarisierender Narrative aus. Seine Argumentationsmuster folgen dem Schema "Wir gegen die Anderen", das in der gegenwärtigen Medienlandschaft regelrecht darauf zugeschnitten ist, Aufmerksamkeit zu erregen und Themen zu setzen.

Populisten behaupten, sie – und nur sie allein – vertreten den wahren Willen des Volkes. Konzeptionell teilen sie zum einen die Bevölkerung in das "echte Volk" und die "Anderen" auf und zum anderen die politischen Akteure in Repräsentantinnen und Repräsentanten des "echten Volkes" und der "Anderen". Mit den "Anderen" können Einwanderer gemeint sein, die angeblich nationale Sicherheit, Identität und Werte bedrohen, oder auch politische Eliten in Brüssel oder Washington, die "das Volk" hintergehen. Der Begriff kann aber auch auf die etablierten Massenmedien zielen, die regelmäßig beschuldigt werden, die Wahrheit zu verbergen, um das Volk zum Schweigen zu bringen. Wer gegen die Populisten ist, so das Metanarrativ, ist gegen das Volk und entbehrt daher einer demokratischen Legitimität.

Diese narrative Struktur des "Wir gegen die Anderen" erzeugt effektiv Empörung, Wut und Angst. Berichte, die solchen Gefühlen Vorschub leisten, haben eine starke Tendenz, sich auszubreiten, und erzeugen daher große Aufmerksamkeit. Stimmungslagen aus negativen Empfindungen wie Wut und Angst in Kombination mit positiven Gefühlen der Ehrfurcht und Faszination motivieren zum Handeln, anders als etwa Trauer oder Geborgenheit, die als Gefühle gelten, die Aktivität hemmen. In einer Onlineumgebung bedeutet Handeln auch Teilen, Retweeten, Liken und andere Aktivitäten, die die Verbreitung von Medieninhalten beschleunigen. Wer möchte, dass sich ein Content viral verbreitet, muss also auf Verärgerung und/oder Beängstigung setzen. Ob dabei Tatsachen und die dazu verfügbaren relevanten Fakten adäquat wiedergegeben werden, ist für die politischen Auswirkungen nachrangig.

Es wird hier nicht behauptet, populistische Narrative und Kommunikation hätten keinerlei Realitätsbezug. Bürgerinnen und Bürger, die Populisten unterstützen, können aus guten Gründen empört oder besorgt sein, die auf harten Tatsachen wie etwa wachsender Ungleichheit basieren. Für sich genommen, können zahlreiche Fakten und Nachrichten die Position der Populisten stützen. Doch gehört es zum Populismus, zu vereinfachen und einzelne Tatsachen sowie Randaspekte und -informationen im Sinne der Dichotomie "Wir gegen die Anderen" herauszugreifen. Häufig werden dabei Fakten durch Stereotype und die Komplexität kausaler Beziehungen durch die Benennung von Schuldigen ersetzt.

Diese Art der politischen Kommunikation bleibt durchaus nicht allein Populisten vorbehalten. Ihr ideologischer Antipluralismus lässt sie allerdings viel unbefangener auf solche klar umrissenen Narrative zurückgreifen, die entlang der Ausgrenzung des stereotypisierten "Anderen" strukturiert sind, als politische Akteure, die Grundwerte der liberalen Demokratie wie Pluralismus und Individualismus hochhalten. Durch den selektiven Gebrauch von Fakten und vereinfachende Schuldzuweisungen, die sich beide hervorragend für die massenhafte Verbreitung eignen und als Aufmerksamkeitsmagnet wirken, kann der Populismus gerade zur gewinnenden politischen Strategie in der postfaktischen Demokratie werden. In diesem Fall steht die Demokratie vor einer tiefen Krise.

(Post-)Faktizität und demokratische Legitimität

Wenn auch in einer postfaktischen Demokratie der Populismus mit der Behauptung gedeihen mag, ihm widersprechende Meinungen und Parteien entbehrten der demokratischen Legitimität, so kann die Legitimität der postfaktischen Demokratie doch selbst infrage gestellt werden. Zwar kommt je nach Demokratiemodell der Wahrhaftigkeit der verbreiteten Informationen mit Blick auf die Frage der demokratischen Legitimität ein unterschiedlicher Stellenwert zu. Aber in jedem Fall untergräbt der Mangel an Faktizität die demokratische Legitimität.

So müssen in deliberativen Demokratien legitime politische Entscheidungen einen Prozess rationaler Beratung in der Öffentlichkeit und im Parlament durchlaufen. Von den Bürgerinnen und Bürgern wird erwartet, dass sie sich eine sachlich informierte Meinung bilden und rational motivierte Haltungen zu politischen Vorschlägen entwickeln. Eine auf sachlichen Informationen beruhende Deliberation stellt eine notwendige Bedingung für demokratische Legitimität dar. In der postfaktischen Demokratie, in der Fakten in der politischen Auseinandersetzung zwischen politischen Lagern untergehen, ist die deliberative Legitimität nicht zu erreichen, da das unabdingbare Kriterium des rationalen Diskurses nicht erfüllt wird.

Weniger anspruchsvolle Demokratiekonzepte sehen den Kern der Demokratie im Prozess einer friedlichen Zusammenführung von Einzelinteressen. Ohne jeglichen Bezug zu Tatsachen oder Wahrheiten geraten diese Demokratievorstellungen jedoch in Konflikt mit dem, was der Prozess der Wahl sicherstellen soll: eine verantwortungsvolle Regierungsführung bei Gewaltenteilung und einem System von checks and balances.

Minimalistischen Demokratietheorien zufolge speist sich die demokratische Legitimität aus der Fähigkeit des Volkes, seine Repräsentanten in einem fairen Verfahren zu wählen. Wahlen stellen den Mechanismus dar, der Regierungen und Regierende verantwortlich macht und gegebenenfalls auf friedlichem Wege ersetzt. Doch ohne ein Minimum an korrekter und wahrheitsgemäßer Sachinformation ist es unmöglich, die Leistungsfähigkeit einer Regierung zu kennen und zu beurteilen. Wenn die Beurteilung von Politik selbst eine Sache der Politik wird, geht die Tatsachenbasis verloren, auf deren Grundlage sich beurteilen lässt, ob eine Politik gut oder überhaupt funktioniert. Umgekehrt kann eine Politik, die von der Wirklichkeit losgelöst ist, unmöglich reale Probleme angehen und effektive Lösungen entwickeln. Notwendige Bedingung demokratischer Legitimität ist daher ein Minimum an Faktizität.

Autorität den Fakten

Fakten gebührt in einer Demokratie also Autorität – und damit auch den Instanzen, die mit verlässlichen Methoden Faktenwissen produzieren und vermitteln: Wissenschaft und Journalismus. In einer Demokratie, in der Fakten respektiert werden, ist die erkenntnistheoretische Autorität in Tatsachenfragen an diese Akteure delegiert.

Das bedeutet indes nicht, dass Expertinnen und Experten immer Recht haben oder dass das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als Tatsache gilt, sich nicht ändern kann. Sich auf Fakten zu verständigen, ist häufig qualvoll. Wissenschaft funktioniert nicht nach absoluter, kartesianischer Sicherheit, sie ist immer auch ein historisches, kulturelles und gesellschaftliches Unterfangen. Sowohl der Journalismus als auch die Wissenschaft können irren und bringen bisweilen falsche Annahmen, unzulängliche Theorien und unbrauchbare Beweise hervor. Aber mehr und besserer Journalismus und weiterführende Forschung müssen diese Fehler korrigieren können. Daher besteht auch ein großer Unterschied zwischen der Ablehnung von Wissenschaft und Journalismus als unseriöse Arme der Elite einerseits und der Kritik an schlechter Wissenschaft und schlechtem Journalismus aus den eigenen Reihen andererseits. So gelang es etwa Klimaskeptikern größtenteils nicht, der Begutachtung durch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen eines Peer-review-Prozesses standzuhalten, um ihre "Ergebnisse" in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlichen zu können.

Die Demokratie, die Fakten Autorität einräumt, ist allerdings keine Technokratie. Wissenschaft ist nicht unfehlbar und liefert keine normativen Regeln dafür, was individuell oder kollektiv getan werden sollte. In einer Demokratie gibt es unterschiedliche Visionen für ein gutes Leben und die Gesellschaft, und es herrscht eine Vielfalt an kulturellen Traditionen, moralischen Standpunkten und religiösen Doktrinen. Man vergesse den antiken Gedanken, platonische Philosophenkönige sollten herrschen, da sie die eine "Wahrheit" kennen – in der Demokratie ist die fundierte Meinungsverschiedenheit eine conditio sine qua non. Demokratie heißt Pluralismus.

Doch wenn in politischen Debatten sachbezogene Fragen auftauchen, kommt es auf Fakten an, die aus verlässlichen Quellen und durch solide Methoden erhoben wurden. Es muss eine Teilung geben zwischen der geistigen und der deliberativen Arbeit – ähnlich der zwischen Tatsachen und Werten. Nur durch eine solche Arbeitsteilung und durch die Berücksichtigung des Unterschieds zwischen Tatsachen und Werten, wenn also Fakten, die durch solide und modernste Untersuchungsmethoden erhoben wurden, nicht selbst zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen werden, ist es möglich, einen rationalen und transparenten Dialog zu führen, der die Grundlage für aufgeklärte kollektive Entscheidungen und demokratische Kontrolle schafft. Wenn Tatsachen politisiert werden, leben wir im Postfaktischen, wenn Politik auf Sachfragen und Expertenlösungen reduziert wird, enden wir in einer Technokratie. Beide Extreme untergraben die Demokratie.

Übersetzung aus dem Englischen: Kirsten E. Lehmann, Köln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jon Sharman, Donald Trump: All the False Claims 45th President Has Made Since His Inauguration, 23.1.2017, Externer Link: http://www.independent.co.uk/-a7541171.html.

  2. Sean Spicer, zit. nach Matt Ford, Trump’s Press Secretary Falsely Claims: "Largest Audience Ever to Witness an Inauguration, Period", 21.1.2017, Externer Link: http://www.theatlantic.com/politics/archive/2017/01/inauguration-crowd-size/514058.

  3. David Smith, Sean Spicer Defends Inauguration Claim, 23.1.2017, Externer Link: http://www.theguardian.com/us-news/2017/jan/23/sean-spicer-white-house-press-briefing-inauguration-alternative-facts.

  4. Siehe dazu auch den Beitrag von Stefan Marschall in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  5. In den Worten des Philosophen Niccolò Machiavelli: "Wenn es manchmal notwendig ist, Tatsachen mit Worten zu verbergen, sollte dies so geschehen, dass man es nicht erkennt; wird es aber entdeckt, so sollte eine Verteidigung zur Hand sein.", in: The Historical, Political, and Diplomatic Writings of Niccolò Machiavelli, Bd. 4: Diplomatic Missions 1506–1527, Boston 1882, S. 422.

  6. Neil Midgley, Post truth, in: Oxford Dictionaries, Oxford 2017, en.oxforddictionaries.com/definition/post-truth.

  7. Siehe auch den Beitrag von Petra Kolmer in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  8. Vgl. Farhad Manjoo, True Enough: Learning to Live in a Post-Fact Society, New Jersey 2008.

  9. Vgl. Alberto Nardelli/Craig Silverman, Hyperpartisan Sites And Facebook Pages Are Publishing False Stories And Conspiracy Theories About Angela Merkel, 14.1.2017, Externer Link: http://www.buzzfeed.com/albertonardelli/hyperpartisan-sites-and-facebook-pages-are-publishing-false.

  10. Vgl. ebd.

  11. Vgl. Marton Karsai et al., Collective Attention in the Age of (Mis)Information, in: Computers in Human Behaviour 51/2015, S. 1198–1204.

  12. Vgl. Emily Thorson, Belief Echoes: The Persistent Effects of Corrected Misinformation, Philadelphia 2013.

  13. Vgl. etwa Yochai Benkler, The Wealth of Networks, New Haven–London 2006.

  14. Vgl. James G. Webster, The Marketplace of Attention, Cambridge MA 2014.

  15. Vgl. Society of Professional Journalism, Code of Ethics, Indianapolis 2014, Externer Link: http://www.spj.org/ethicscode.asp.

  16. Vgl. Herbert A. Simon, Designing Organizations for an Information-Rich World, in: Martin Greenberger (Hrsg.), Computers, Communications, and the Public Interest, Baltimore 1971, S. 38–52.

  17. Vgl. Vincent F. Hendricks/Pelle G. Hansen, Infostorms, New York 2016.

  18. Vgl. Tim Wu, The Attention Merchants, New York 2016.

  19. Vgl. Jan-Werner Müller, What is Populism?, Philadelphia 2016.

  20. Vgl. hier und im Folgenden Jonah Berger, What Makes Online Content Viral?, in: Journal of Marketing Research 2/2012, S. 192–205.

  21. Vgl. Claudia Alvares/Peter Dahlgren, Populism, Extremism and Media, in: European Journal of Computing 1/2016, S. 46–57.

  22. Vgl. Jürgen Habermas, Political Communication in Media Society, in: Communication Theory 16/2006, S. 411–426.

  23. Siehe auch den Beitrag von Peter Weingart in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

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ist Professor für Philosophie und leitet das Center for Information and Bubble Studies der Universität Kopenhagen, Dänemark. E-Mail Link: vincent@hum.ku.dk

ist Doktorand am Center for Information and Bubble Studies der Universität Kopenhagen, Dänemark. E-Mail Link: m.vestergaard@hum.ku.dk