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Globalisierung - Gesellschaftspolitik Editorial David gegen Goliath: Seattle und die Folgen Globalisierung und Wirtschaftswachstum Wohlfahrtsmerkantilismus Zum Verhältnis von Globalisierung und Sozialstaat Globalisierung als Chance für Wohlstand und Arbeitsplätze Frauen und Globalisierung

David gegen Goliath: Seattle und die Folgen

Claus Leggewie

/ 5 Minuten zu lesen

In Gestalt der Protestbewegung ist ein neuer Akteur der transnationalen Politik entstanden. Er richtet sich gegen eine exklusive - d.h. sozial unausgewogene und ökologisch nicht nachhaltige - Globalisierung.

Einleitung

"Seattle" ist das Mantra einer weltweiten Protestbewegung geworden, Schlüsselwort der Kritik exklusiver Globalisierung, die zu viele Interessen und Regionen der Weltgesellschaft außen vor lässt. In Seattle, der größten Stadt des US-Bundesstaates Washington und Zentrum des "digitalen Kapitalismus" (Peter Glotz), war im November 1999 eine Sitzung der World Trade Organization (WTO) angesetzt, auf der die Liberalisierung des Welthandels weiter vorangetrieben werden sollte. Wer die Webseiten etwa der "Ruckus Society" studiert hatte (was freilich die wenigsten getan hatten), konnte bereits ahnen, dass energische Proteste keine reguläre Tagung erlauben würden. Weithin sichtbar und laut vernehmlich artikulierte sich Widerstand gegen eine weltwirtschaftliche Modernisierung, die Menschenrechte und ökologische Kollektivgüter ignoriert und überdies sozial unausgewogen ist - zwischen dem Norden und Süden der Weltgesellschaft ebenso wie zwischen Armen und Reichen innerhalb der Hemisphären. Denn was man auch vergleicht: das Bruttosozialprodukt der zwanzig reichsten Länder der Erde mit dem der zwanzig ärmsten oder die Einkommenszuwächse des oberen mit denen des unteren Fünftels einer beliebigen Gesellschaft - fast immer hat sich die Schere seit den sechziger Jahren geöffnet, und der Wirtschaftsboom der neunziger Jahre hat diese Kluft noch vergrößert.

Die zahlenmäßige Stärke der weltweiten Protestbewegung ist kaum noch zu übersehen, aber einen "bunteren Haufen" könnte man sich kaum denken: Umweltschützer und Feministinnen, Protektionisten und Internationalisten, Militante und Gewaltfreie, Gewerkschafter und Tierschützer, Reformer und Revolutionäre vereinen sich unter zum Teil ganz konträren Zielsetzungen. Mit dem Slogan "turtles and teamsters" ist dieser Zusammenprall von Milieus umschrieben worden, der Mitte der neunziger Jahre mittelständische Universitätsstudenten mit Gewerkschaftern in der Anti-Sweatshop-Bewegung im Kampf gegen miserable Arbeitsbedingungen von Wanderarbeitern in den USA wie in multinationalen Unternehmen der Dritten Welt vereinte. Die Hierarchie- und Führerlosigkeit der heterogenen Bewegung (ein paar "Stars" sind mittlerweile ins Rampenlicht gestellt worden) entpuppte sich als Vorteil: Ein lose verkoppeltes, auf thematisch gebundene Zellen setzendes Netzwerk mobilisiert ohne formale Entscheidungsprozeduren punktgenau und weltweit mit Hilfe neuester Kommunikationstechnologien. Die zu Unrecht als "Protesttourismus" abgetane Bewegung verflüchtigt sich vorübergehend im Cyberspace, um bei nächster Gelegenheit wieder in Gruppen aus Fleisch und Blut hervorzutreten. Kaum jemand hat das Internet, ein Transnationalisierungsmedium par excellence, so effektiv gegen transnationale Akteure gewendet; E-mails etwa werden nicht nur zum Zweck interner Verabredung eingesetzt, sondern auch als massenhaftes Petitions- und sogar Sabotageinstrument.

Die überwiegend jungen Kritiker der Globalisierung sind in der Tradition des gewaltfreien Widerstands eher Mahatma Gandhi als Ibn Ladin und eher Martin Luther King als Malcolm X verpflichtet. Kleinere Gruppen bekunden, die kapitalistische Infrastruktur zerschlagen und "dem Volke" rückerstatten zu wollen, womit sich die Debatte zwischen "Realos" und "Fundis" gewissermaßen auf Weltebene wiederholt. Der "Seattle-Mensch" (Paul Krugman) ist dabei weit stärker von nordamerikanischen Aufruhrtraditionen geprägt, bis hin zu den an Happenings und Halloween erinnernden Aufmärschen. Teilweise trifft man ein konspirationistisches Weltbild an, das die Globalisierung als "McDonaldisierung" in ein dämonisches Licht setzt. Eine zweite Wurzel der nicht ins konventionelle Rechts-Links-Schema passenden Bewegung waren Proteste gegen das Freihandelsabkommen NAFTA (North American Free Trade Agreement) Mitte der neunziger Jahre. Zum protektionistischen Flügel gesellen sich neonazistische Gruppen und nationalpopulistische Parteien, die als Anwälte vernachlässigter Interessen von Arbeitnehmern auftreten.

Der tschechische Staatspräsident Vaclav Havel bemühte sich beim Prager Weltbank-Gipfel im September 2000, der durch ein martialisches Polizeiaufgebot geschützt wurde, Protestierer mit Weltbankern an einen Tisch zu bringen. Diese unterschätzen eine Bewegung nicht, die so erstaunliche Erfolge vorweisen kann wie die Aussetzung der MAI-Vereinbarung der OECD (Organization for Economie Cooparation and Development) und die große Firmenketten wie Starbucks und Gap zur Korrektur ihrer Einkaufs- und Beschäftigungspolitik veranlasst hat. Fairer Welthandel und soziale Gerechtigkeit sind wahrlich keine "extremistischen" Forderungen; jüngere Weltbank-Projekte haben sie beim Thema Schuldenerlass und der Neudefinition von Armutsbedingungen bereits aufgegriffen. Die multilateralen Organisationen öffnen sich den Nicht-Regierungs-Organisationen, womit sie die respektable Seite der Dissidenten für sich einnehmen wollen. Deren inneres Demokratiedefizit wird damit sichtbar: Während Weltbank, IWF und WTO immerhin auf (lange) Legitimationsketten verweisen können, die sie an gewählte Regierungen zurückbinden, sind die Protestierer niemand anderem rechenschaftspflichtig als einem ominösen "Weltgewissen". Dieses Manko führen vor allem Vertreter der Schwellenländer ins Feld, deren Ambitionen durch die Anwendung von Sozial- und Umweltnormen aus dem "reichen Norden" gestört würden.

Das Monitum haben sich Freihandelsbefürworter aus reichen Ländern zu Eigen gemacht. Der langjährige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff etwa beklagte nach Seattle, Leidtragende seien "vor allem die Kinder, die Alten und die Kranken in Indien, Afrika und Asien, die nicht auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen hoffen können" (FAZ vom 13. 1. 2000). Eine solche Schuldzuweisung stellt die Verantwortung für eine fehlgegangene Globalisierungspolitik aber geradezu auf den Kopf. Auch im verhaltenen Urteil der Bundestags-Enquetekommission "Globalisierung der Weltwirtschaft" werden deren Risiken herausgestrichen, wobei hier die Auszehrung nationalstaatlicher Steuereinnahmequellen durch die hohe Kapitalmobilität, das Ausufern lokaler Störfälle zu globalen Krisen und die Monopolmacht transnationaler Konzerne in den Vordergrund gerückt wurden. Die älteste UN-Sonderorganisation, die Genfer International Labor Organization (ILO), griff deswegen die Forderung nach einer gerechteren Verteilung der Früchte der Globalisierung auf; wenn kein "sozialer Pfeiler" in die Welt(wirt-schafts)ordnung eingezogen werde, münde die Liberalisierung der Handels- und Kapitalmärkte in eine soziale Abwärtsspirale.

Fazit: Die Davids der Globalisierung führen eine beachtliche Denk- und Handlungsalternative zur fraglosen Selbstreproduktion des kapitalistischen Marktes vor. Nichts ist gut an einer Globalisierung, bei der ein Sechstel der Weltbevölkerung hungert und (sogar in Deutschland) jedes siebte Kind in Armut leben muss, deren Millimeter-Fortschritte beim nachhaltigen Umweltschutz durch die rasante Industrialisierung des Südens aufgefressen werden, die elementare Rechte von Frauen und Minderheiten ignoriert. Ein globales Bürgerengagement ist entstanden, an welchem die multilateralen Organisationen ihre Lernfähigkeit unter Beweis stellen müssen. Umso erstaunlicher ist die Taubheit der politischen Apparate, auch der "Neuen Mitte", und die Indolenz der Sozialwissenschaften und Politischen Bildung, die gedanklich an nationalstaatlichen "politischen Systemen" und "internationalen Beziehungen" hängen, während sich längst ein "komplexer Multilateralismus" (O'Brien u. a.) herausgebildet hat.

Literatur: Robert O'Brien u. a., Contesting Global Governance, Multilateral Economic Institutions and Global Socail Movements, Cambridge - New York 2000 (Cambridge University Press).

Internetverweise des Autors:

Protestbewegung:

Ruckus Society (Berkeley, CA): www.ruckus.org

Global Exchange (San Francisco, CA): www.globalexchange.org

Netzversion des "Z-Magazine": www.lbbs.org

Netzversion "The Nation": www.thenation.com

Verbraucherschutzgruppe Public Citizen: www.citizen.org

Internationale Organisationen:

World Trade Organization: www.wto.org/

Internatiol Monetary Fund: www.imf.org/

Weltbank: www.worldbank.org.

E-Mail: claus@leggewie.de  

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Dr. disc. pol., geb. 1950; Professor für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Fellow am Remarque Institute der New York University.

Anschrift: Universität Gießen, Institut für Politikwissenschaft Karl-Glöckner-Str. 21 E, 35394 Gießen.

Veröffentlichungen u. a.: Amerikas Welt. Die USA in unseren Köpfen, Hamburg 2000, (Hrsg. zus. mit Richard Münch), Politik im 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. (i. E.).