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Strukturprobleme des Parteienstaates | Parteispendenaffäre | bpb.de

Parteispendenaffäre Editorial  Vom Unheil und Segen einer Affäre Durchsichtige Taschen oder schwarze Koffer? Parteienfinanzierung in der Bewährung Parteispenden in der Krise? Strukturprobleme des Parteienstaates

Strukturprobleme des Parteienstaates

Hans Herbert von Arnim

/ 25 Minuten zu lesen

Die Parteispendenaffäre ist nicht nur eine Krise der CDU, in ihr spiegelt sich eine allgemeine Demokratiekrise wider. Denn Berufspolitiker haben ihre eigenen parteiübergreifenden Interessen.

I. Der Systemgedanke

1. "System Kohl"

Die Parteienkrise der letzten Monate hat das "System Kohl" in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion gestellt, ein perfektioniertes Netzwerk zum Zwecke des Machtgewinns und Machterhalts. Das jahrzehntelange, im Hinblick auf das Machtziel höchst konsequente und durch schwarze Kassen unterfütterte Agieren hat die ganze Struktur und das Führungspersonal der CDU geprägt und teilweise geradezu deformiert.

Die Problematik betrifft aber nicht allein die CDU - und das nicht nur, weil auch die SPD mit der West-LB in einen Skandal verwickelt ist. Könnte es nicht sein, dass die Dominanz des Macht- und Sicherheitsstrebens, die die Struktur der CDU verdorben, ihre sachorientierte Programmatik ausgedörrt und die innerparteiliche Demokratie erstickt hat, sich auch in der staatlichen Demokratie insgesamt in ähnlicher Weise auswirkt und dort zu viel schlimmeren und weiter reichenden Verbiegungen geführt hat?

2. Systembedingte "Reformblockade"

Besteht nicht vielleicht ein Zusammenhang zur so genannten Reformblockade, dem "Wort des Jahres 1997"? Die große "Ruck-Rede" des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, mit der er die fälligen Reformen anmahnte, ist uns noch gut in Erinnerung. Herzog brachte die Situation seinerzeit auf die Formel: "Wir haben", was notwendige Reformen anlangt, "kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem" . Worauf Herzog aber nicht einging, sind die tieferen Gründe für die mangelnde Umsetzung.

Eine ganz andere Perspektive eröffnete Hans-Olaf Henkel. Die Reformblockade, so ergänzte er Herzogs Rede, sei "systembedingt" . Das politische System in Deutschland sei nicht mehr geeignet, seine Hauptaufgabe zu erfüllen, nämlich die Anreize für die Akteure so zu setzen, dass sie Politik im Interesse der von ihnen Regierten machten. Als Beispiel für Systemmängel nannte Henkel das Verhältniswahlrecht und den Föderalismus in seiner spezifisch deutschen Ausprägung. Doch schien dem Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie die volle Glaubwürdigkeit zu fehlen. Die deutsche politische Kultur weist seit je zwei große Defizite auf: Das eine betrifft die Demokratie, das andere die Wirtschaft. Präsentiert in einer solchen - von Demokratie- und Wirtschaftsferne geprägten - Atmosphäre ein Mann der Wirtschaft Vorschläge zur Verbesserung der Demokratie, so kann man sich vorstellen, wie sie aufgenommen und zunächst einmal gezielt missverstanden wurden .

Wir wissen gerade aus der Wirtschaft, in welchem Maße die Effizienz eines Systems von den Systemdeterminanten abhängt. Spätestens seit dem Zusammenbruch des Kommunismus ist es unübersehbar geworden, dass die Menschen im Osten nicht deshalb wirtschaftlich so zurückgefallen waren, weil es ihnen etwa an Fleiß und Erfindungsreichtum gefehlt hätte. Entscheidend für den Misserfolg war das System der zentralen Kommandowirtschaft, das Verantwortung verwischt und Leistung und Initiative nicht belohnt, sondern bestraft und zur Verschwendung geradezu anreizt. Im Bereich der Wirtschaft wurde also unübersehbar, dass die besten Eigenschaften der Menschen nichts nützen, wenn das System nicht stimmt.

Warum aber sollte das System nur für die Wirtschaft Bedeutung haben? Warum zögern wir, die Erkenntnis auch auf die Politik anzuwenden? Die Thematik gewinnt ihre Brisanz aus einem Missverhältnis: der mangelnden Fähigkeit "der Politik", Reformen durchzusetzen, bei gleichzeitig rasant zunehmender Dringlichkeit solcher Reformen. Die Politik bleibt die Antwort auf immer größer werdende Herausforderungen zunehmend schuldig.

II. Wachsende Herausforderungen

Ich möchte drei Herausforderungen nennen und mich dabei auf den Bereich der Innenpolitik beschränken:

1. Die Veränderung der Altersstruktur

Seit dem Pillenknick und dem verstärkten Trend zum Individualismus ist - und hier übernehme ich die Terminologie der Bevölkerungsstatistiker - die so genannte Reproduktionsrate der Bevölkerung auf etwa 1,3 gefallen, das heißt, eine Frau und ein Mann bekommen im Durchschnitt 1,3 Kinder. Wenn die Jungen und Aktiven aber immer weniger werden, während die Alten immer länger leben, hat das gewaltige Rückwirkungen, etwa auf die Finanzierung unserer Versorgungssysteme, und erfordert grundlegende Reformen der Beamtenpensionen, der Renten- und Krankenversicherungen, soll deren Leistungsfähigkeit bewahrt und gleichzeitig die Wirtschaft vor Überbelastungen verschont bleiben.

Die Belastungen, die der jetzt ins Arbeitsleben eintretenden Generation vorab aufgebürdet sind, ohne dass sie je dazu befragt worden wäre, sind ohnehin hoch: Offiziell beträgt die Verschuldung des Staates auf seinen verschiedenen Ebenen 2,3 Billionen Mark. Darin sind die Verpflichtungen der öffentlichen Hand für zukünftige Pensionen und Renten aber noch gar nicht enthalten; rechnet man auch diese Verpflichtungen hinzu, wie dies ökonomisch durchaus angezeigt ist, gelangt man auf mehr als den vierfachen Wert: rund zehn Billionen Mark. Kein Wunder, dass für viele damit die Geschäftsgrundlage des Generationenvertrages entfallen ist und andere sogar einen "Krieg der Generationen" kommen sehen, wenn durchgreifende Reformen nicht rasch angepackt werden.

2. Die Veränderung der Produktions- und Wettbewerbsbedingungen

Die Computerisierung, die neuen Kommunikationsmittel und andere Formen des technischen Fortschritts, die Europäisierung und Globalisierung der Märkte setzen die Rahmenbedingungen, unter denen produziert wird, zunehmend unter Druck. Dadurch gewinnen Faktoren plötzlich an Stellenwert, ja sie können langfristig über unser Schicksal im globalen Wettbewerb mitentscheiden, von denen wir vorher meinten, sie uns leisten zu können: zu lange Genehmigungszeiten; zu dichte staatliche Regulierungen; zu hohe Abgaben und Sozialleistungen, die den Betroffenen kaum Anreiz geben, das Stadium des öffentlichen Leistungsempfängers möglichst rasch wieder zu verlassen; ein zu starres Tarifrecht, das die Flexibilität übermäßig beeinträchtigt; ein Arbeitsrecht, das die Einstellung von neuen Arbeitskräften behindert; ein Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht, das den Verquickungen von Unternehmen und Banken Vorschub leistet und die Kontrolle und die Zurechenbarkeit von Verantwortung erschwert. In diesen Zusammenhang gehört auch das wirtschafts- und sozialpolitische Hauptproblem: die Arbeitslosigkeit. Wer in Deutschland ein Unternehmen gründet, also Arbeitsplätze schaffen will, wird durch eine Vielzahl von Auflagen verschreckt, so dass er, wenn er sie alle erfüllen will, kaum noch Zeit für sein eigentliches unternehmerisches Anliegen hat.

Wie sehr staatliches Wirken zugenommen hat, zeigt die Entwicklung des so genannten Staatsanteils: Der Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt ist von einem Drittel im Jahre 1960 auf heute etwa die Hälfte gewachsen. Seine Finanzierung drückt umso mehr, als das jährliche Wirtschaftswachstum inzwischen erheblich niedriger ist als in früheren Jahrzehnten.

Es geht allerdings nicht nur um ein Zuviel an Staat; das Leitbild eines schlankeren Staates ist zwar nicht falsch, aber doch nur die halbe Wahrheit. Wir haben zuviel und zuwenig Staat - nur jeweils an der falschen Stelle. Es kann deshalb auch nicht damit getan sein, nur den Staat zurückzufahren, er muss auch aktiver werden - nur eben jeweils an der richtigen Stelle.

3. Bildungsexplosion und Wertewandel

Während noch vor 40 Jahren fünf Prozent eines Jahrgangs Abitur machten, sind es heute weit über 30 Prozent, von denen der größte Teil auch studiert. Die Zunahme des allgemeinen Bildungsniveaus hat - entgegen einem verbreiteten Vorurteil - auch die Bereitschaft der Menschen zu politischer Mitwirkung gewaltig gesteigert. Soziologen sprechen geradezu von einer partizipatorischen Revolution.

Mit dem (dadurch mitbedingten) Wertewandel ist zugleich der Glaube an überkommene Autoritäten und Ideologien zurückgegangen. Die Einstellung der Menschen zur Politik wird immer mehr von kritisch-rationaler Prüfung bestimmt, so dass die Mängel der Politik umso stärker ins Auge stechen - und die Unfähigkeit der Wähler, daran durch eigene Aktivitäten etwas zu ändern. Die Menschen wollen nämlich zunehmend überholte Strukturen ändern. Sie sind immer weniger bereit, sich als Füllmaterial für demokratische Staffage instrumentalisieren zu lassen. Damit hängt es auch zusammen, dass die politischen Parteien (wie übrigens auch die Gewerkschaften und Kirchen) immer mehr an Attraktivität verlieren. Die Mitglieder laufen ihnen davon, besonders die jungen.

Leben wir aber in einer Zeit des Umbruchs, wird Handlungsfähigkeit in der Politik doppelt wichtig. Dann bekommt auch die Frage, ob die derzeitige Organisation und die Spielregeln der Politik heute noch "passen" und in welche Richtung sie fortentwickelt werden müssen, erhöhtes Gewicht, ebenso die weitere Frage, wie notwendige Änderungen politisch durchgesetzt werden können.

III. Die Rolle der Berufspolitiker

1. Ihre Hauptmotivation: Eigeninteresse

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die typische Motivation von Berufspolitikern. Hier darf man sich nicht von idealistischen Verklärungen blenden lassen, sondern muss eine realistische Perspektive einnehmen. Gewiss, für viele meiner staatsrechtlichen Kollegen mag es geradezu ein Horror sein, zur Kenntnis nehmen zu müssen, dass Amtsträger sich in der Praxis nicht primär am Gemeinwohl orientieren, wie die Verfassungen dies verlangen. Doch den Kopf in den Sand zu stecken und sich in Fiktionen zu ergehen hilft nicht. Will man die Problematik in den Griff bekommen und angemessene Therapien entwickeln, muss man vom real existierenden Parteienstaat ausgehen. Daraus folgt meine erste These:

Berufspolitiker denken nicht zuerst an das Gemeinwohl, wie das Grundgesetz und die Landesverfassungen dies von Amtsträgern verlangen. Sie denken auch (und im Kollisionsfall meist vorrangig) an sich selbst, an ihre Macht, ihren Status, an Posten und Geld.

Wie sehr Eigeninteressen die Politik dominieren, haben die Finanzierungsskandale um Helmut Kohl, Manfred Kanther und Co. gezeigt. Sie sind bei den Berufspolitikern auch anderer Parteien nicht weniger ausgeprägt, mögen auch Gesetzes- und Verfassungsbruch zum Glück nicht die Regel sind. Seit Adam Smith lernt jeder Ökonomiestudent im ersten Semester, dass hauptberuflichen Akteuren das eigene Hemd meist näher ist als der Gemeinwohlrock; auch das gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern ebenso für die Politik.

2. Ihre Stellung: an den Hebeln der Staatsmacht

Das ist menschlich und wäre auch gar nicht so schlimm, säße die "politische Klasse" nicht mitten im Staat an den Schalthebeln der Macht. Auf diese Weise kann sie ihre Eigeninteressen direkt in alle staatlichen Entscheidungen einfließen lassen, auch in Gesetze, Haushaltspläne und Verfassungen.

Wie das funktioniert, möchte ich an zwei aktuellen Beispielen illustrieren: Nachdem die Öffentlichkeit Einblick in die finanziellen Schattensysteme der CDU bekommen hat, fragen sich viele, warum bestimmte Verstöße gegen das Parteienrecht eigentlich nicht unter Strafe stehen und warum es den Parteien erlaubt ist, einen Sammelposten "sonstige Einnahmen" in ihren Rechenschaftsberichten aufzuführen, ohne ihn konkret aufschlüsseln zu müssen. Dieser Posten war ja die Einfallschneise, auf der Geld aus schwarzen Kassen in das ordentlich Rechenwerk der CDU überführt und dadurch gewaschen wurde. Die Frage stellt sich umso dringender, als die seinerzeit von Bundespräsident Richard von Weizsäcker berufene Sachverständigenkommission (der auch ich angehörte) die in Frage stehenden Gegenmaßnahmen bereits vorgeschlagen hatte , ohne dass sie aber ins neue Parteiengesetz von 1994 aufgenommen worden wären.

Die Erklärung ist einfach: Hinter dem scheinbar gesichtslosen Gesetzgeber standen konkrete Personen. Das Gesetz trägt die Unterschrift des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl und des damaligen Bundesinnenministers Manfred Kanther, und beide wussten die genannten Vorkehrungen - aus nahe liegenden Gründen - zu verhindern.

Ein anderes Beispiel sind die Steuervergünstigungen für Zuwendungen an Parteien. Das Bundesverfassungsgericht wollte sie in seinem Grundsatzurteil von 1992 mit guten Gründen so begrenzt wissen, dass auch Bezieher von Durchschnittseinkommen den Rahmen ausschöpfen könnten . Deshalb hatte die Kommission in ihrem Bericht empfohlen, höchstens Zuwendungen von 2 000 DM (für Verheiratete 4 000 DM) im Jahr steuerlich zu begünstigen . Die Schatzmeister aber, die dem Gesetzgeber die Hand führten, verdreifachten den Betrag, obwohl klar ist, dass ein verheirateter Durchschnittsverdiener keine 12 000 Mark jährlich spenden kann, auch wenn man die steuerliche Entlastung berücksichtigt .

Die Verfassungsverletzung wurde in Kauf genommen, vor allem um die Sonderbeiträge von Abgeordneten nicht zu gefährden, die bei der Union und erst recht bei der SPD oft 1 000 Mark im Monat erreichen und bei den Grünen und bei der PDS noch viel höher sind. Solche von Abgeordneten und von Kommunalvertretern eingeforderten "Parteisteuern" (mittels derer jährlich etwa 70 Millionen DM von den Diäten abgeschöpft werden) sind ihrerseits verfassungsrechtlich hochproblematisch ; sie sind außerdem entlarvend, weil sie die ganze Misere der Rekrutierung unserer Politiker widerspiegeln. Dahinter steht nämlich die Auffassung, die Abgeordneten müssten ihrer Partei für ihre Aufstellung dankbar sein. Selbstbewusste Abgeordnete, die sich ihres Wertes bewusst sind und denen umgekehrt die Partei dafür dankbar sein müsste, dass sie sich zur Verfügung stellen, würden sich das nicht gefallen lassen - und werden deshalb nicht aufgestellt.

3. Umgestaltung des Systems

Diese Beispiele illustrieren meine zweite These:

Die politische Klasse bedient die Hebel der Staatsmacht, erlässt bindende Gesetze und Verfassungsänderungen und beschließt über Hunderte von Milliarden Steuergelder. Dabei lässt sie auch ihre eigenen Interessen einfließen. So entfaltet sie sich nicht nur innerhalb des vorgegebenen Systems, sondern formt das System auch nach ihren Bedürfnissen.

Das gilt nicht nur für die Parteien- und Politikerfinanzierung und das Wahlrecht, die unmittelbar die Eigeninteressen betreffen und bei denen es offensichtlich ist, dass die politische Klasse in eigener Sache entscheidet. Es gilt auch für andere Gesetze und Verfassungsnormen, bei denen der Zusammenhang mit den Eigeninteressen der politischen Klasse indirekter und deshalb sehr viel schwerer zu durchschauen ist.

Vor diesem Hintergrund wird übrigens auch das - scheinbar unerklärliche - Verhalten von Kohl, Kanther und Co. psychologisch nachvollziehbar: Da die politische Klasse die Gesetze selbst macht, betrachtet sie sie als ihre Geschöpfe und ist leicht versucht, mit ihnen nach Belieben umzugehen. Das mag bis zu einem gewissen Grad erklären, warum Kohl und Kanther die Schwere des von ihnen begangenen Unrechts nicht einzusehen vermögen und lediglich von der Nichtbeachtung formaler Regelungen sprechen.

4. Parteiliche Ämterpatronage und ihre Auswirkungen

Die Eingriffe der Politik in das System haben weittragende Auswirkungen. Wir wissen aus der Wirtschaft, dass alles mit allem zusammenhängt, machen uns aber oft nicht klar, dass das auch für die Politik gilt. Nehmen wir als Beispiel den Einfluss der Parteien auf die Postenbesetzung auch in solchen Bereichen, in denen sie eigentlich nichts zu suchen haben. Es ist ein offenes Geheimnis: In öffentlichen Unternehmen, öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, in Schulen, Rechnungshöfen, Gerichten, im ganz normalen öffentlichen Dienst und in anderen vom Grundgesetz als parteifrei konzipierten Einrichtungen spielt das Parteibuch eine immer größere Rolle. Die politische Klasse trifft Personalentscheidungen häufig ganz unverblümt nach Proporz und machtpolitischem Kalkül, sei es zur Ausdehnung ihres Einflusses, sei es zur Unterbringung verdienter Genossen; je nachdem spricht man von "Herrschaftspatronage" oder von "Versorgungspatronage", Begriffe, in denen sich die beiden Hauptinteressen der politischen Klasse widerspiegeln: das Macht- und das Versorgungsinteresse. Dass Ämterpatronage massenhaft praktiziert wird, obwohl sie eindeutig verfassungswidrig ist, zeigt einmal mehr die unerhörte Intensität jener Interessen. Die gelegentlich geäußerte Hoffnung, das Bundesverfassungsgericht werde gegen die Patronagetendenzen wirksam Front machen, wird wohl Illusion bleiben. Die Richter sitzen im Glashaus, weil auch sie ihre Bestellung vielfach dem Parteienproporz verdanken.

Ämterpatronage zieht eine ganze Kette von misslichen Konsequenzen nach sich: Der karrierefördernde Effekt des Parteibuchs zwingt immer mehr karrierebewusste Bedienstete in die Parteien. Die Parteipolitisierung der Verwaltung fördert auf diese Weise im Gegenzug die Verbeamtung der Parteien und der Parlamente. In vielen Landesparlamenten kommt weit mehr als die Hälfte der Abgeordneten aus dem öffentlichen Dienst. Von daher das geflügelte Wort: Das Parlament ist mal voller und mal leerer, aber immer voller Lehrer.

Wie aber sollen verbeamtete Parteien und verbeamtete Parlamente noch fähig sein, den öffentlichen Dienst und die Verwaltung zu kontrollieren und grundlegend zu reformieren, was eigentlich ihre Aufgabe wäre? Wie sollen sie die nötige Distanz aufbringen, um die Reformen, die eigentlich nötig wären, auch nur zu konzipieren, von der Durchsetzung ganz zu schweigen? Und was für Auswirkungen die Verbeamtung der Politik auf ihr Verständnis von der Wirtschaft hat, lässt sich nur erahnen. Jedenfalls machen die Verquickungen eine wirksame Kontrolle praktisch unmöglich. Somit lautet meine dritte These:

Die zunehmende Parteipolitisierung des öffentlichen Dienstes (im weitesten Sinne) führt zur Verbeamtung der Parteien und der Parlamente, die dadurch ihre Distanz und weitgehend auch ihre Kontroll- und Reformfähigkeit gegenüber der Verwaltung verlieren.

Mit der Ämterpatronage hängen übrigens auch manche Rücktritte von Ministern, Ministerpräsidenten und anderen Spitzenpolitikern zusammen. Die Parteibuchwirtschaft hat ihnen statt kundiger Berater mittelmäßige Ja-Sager beschert. Ohne kompetente Beratung, die rechtzeitig vor Fehlverhalten warnt, schlittern Politiker dann umso eher in Affären. Die unselige Parteibuchwirtschaft schlägt auf ihre Urheber zurück.

IV. Beispiel: Bundesstaatlichkeit

Dass die politische Klasse die Strukturen und das politische Entscheidungsverfahren, also das ganze System, mitprägt, habe ich an anderer Stelle dargestellt . Darüber hinaus habe ich meine Thesen jüngst an zwei Themenbereichen erhärtet . Der eine Bereich betrifft den bundesdeutschen Föderalismus, der andere Fragen der direkten Demokratie. Die Deformation des Systems und die Auflösung zurechenbarer Veranwortung sind - von der Europäischen Union abgesehen - kaum irgendwo derart extrem wie in dem auf Bismarck zurückgehenden deutschen Exekutivföderalismus. Das stößt nur deshalb nicht auf dauernden Aufschrei und Protest der Öffentlichkeit, weil die komplizierten Mechanismen so schwer zu durchschauen sind.

1. Blockadeinstrument Bundesrat

Die Blockademacht des Bundesrats ist seit dem Scheitern der Steuerreform in der vergangenen Wahlperiode in die öffentliche Diskussion geraten. Im Bundesrat sollen eigentlich Länderinteressen in die Bundespolitik eingebracht werden. Doch wird er zunehmend parteipolitisch instrumentalisiert und hat dadurch eine neue, ihm von den Verfassungsvätern gar nicht zugedachte Rolle erhalten. Eine abweichende parteipolitische Mehrheit im Bundesrat, wie sie allmählich fast zur Regel geworden ist, ist aus machtpolitischen Gründen leicht versucht, mit ihrem Veto die Regierungsmehrheit im Bundestag zu blockieren. Und dies ist bei immer mehr Angelegenheiten möglich. Ursprünglich waren nur etwa zehn Prozent der Bundesgesetze "Zustimmungsgesetze", inzwischen sind es über 50 Prozent - und darunter regelmäßig die wichtigsten.

Kennzeichnend für diese Entwicklung ist ein für den deutschen Föderalismus typischer Mechanismus von Verhandlungen zulasten Dritter: Der Bund erhielt im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Gesetzgebungskompetenzen, was sein Gewicht erhöhte, die Ministerpräsidenten stimmten der dafür erforderlichen Grundgesetzänderung im Bundesrat zwar zu, aber nur unter der Voraussetzung, dass der Bundesrat ein Vetorecht bei der entsprechenden Bundesgesetzgebung erhielt, und gewannen dadurch Profilierungsmöglichkeiten auf der Bundesebene. Und all das ging auf Kosten der Landesparlamente.

2. Lähmung der Bundesländer

Zu ähnlichen Blockaden kommt es in den Bundesländern. Diese haben ihre Kompetenzen in dem wichtigsten ihnen verbliebenen Länderbereich, der Schul- und Hochschulpolitik, praktisch an die Kultusministerkonferenz abgetreten. Da diese nur einstimmig entscheidet, kann das kleinste der sechzehn Bundesländer alles blockieren. Verkrustung und Innovationsmangel sind die Folgen. Welche Konsequenzen dies für die Schulpolitik zeitigt, hat eine internationale Vergleichsuntersuchung in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften von 1997 gezeigt . Die Leistungen deutscher Schüler sind vergleichsweise niederschmetternd, und die Reaktion der Kultusministerkonferenz war typisch. Statt öffentlich Alarm zu schlagen, hat sie versucht, die Ergebnisse unter der Decke zu halten. Vor diesem Hintergrund ist auch der jüngst von Bundeskanzler Gerhard Schröder beklagte Mangel an Computerspezialisten zu sehen.

Auch sonst wird in fast tausend interföderalen Gremien beinahe alles zwischen den Ländern sowie zwischen Bund und Ländern koordiniert und abgestimmt - mit ähnlich lähmenden Folgen. Da in diesen Gremien fast durchweg Vertreter der Regierungen sitzen und Absprachen treffen, degenerieren die Landesparlamente häufig zu bloßen Vollstreckern der Entscheidungen irgendwelcher Minister- und Beamtenzirkel.

An sich hätte man vermutet, dass sich die Landesparlamente gegen die Zentralisierung und die damit verbundene schrittweise Austrocknung ihrer eigenen Kompetenzen zur Wehr setzen. Dabei wird aber übersehen, dass die Landesparlamentarier sich durch Aufblähung ihrer Bezahlung und Versorgung schadlos gehalten haben. Zudem schaltet die Zentralisierung den Leistungswettbewerb zwischen den Ländern aus, und dies entspricht den Eigeninteressen der politischen Klasse durchaus. Denn dann können sie für politische Fehlleistungen nicht mehr verantwortlich gemacht werden.

3. Idee und Wirklichkeit

Es herrschen "credit claiming" und "scapegoating", Begriffe, die ich aus der englischen Fachterminologie übernommen habe und die soviel bedeuten wie: Erfolge rechnet sich jeder zu, und für Misserfolge sind immer die anderen verantwortlich. Mangels wirklicher öffentlicher Zurechenbarkeit von politischen Leistungen und von politischem Versagen werden Bürger und Wähler vollends orientierungslos.

Die Gesamtbilanz ist erschreckend. Damit komme ich zu meiner vierten These:

Im Bundesstaat soll durch Aufteilung der Kompetenzen auf Bund und Länder eigentlich mehr politische Handlungsfähigkeit und mehr Bürgernähe erreicht werden. Doch die Idee verkehrt sich in der Realität ins Gegenteil: Der bundesrepublikanische Föderalismus entmachtet Parlamente und Bürger und führt zu immer größerer Bürgerferne. Auch die Handlungsfähigkeit der Politik wird vermindert, gelegentlich bis hin zur Lähmung.

Am Beispiel des Föderalismus wird deutlich: Grundlegende Reformen wären eigentlich besonders dringend. Da Bund und Länder sich im Zuge der anstehenden Neuregelung des Länderfinanzausgleichs ohnehin einigen müssen - das ergibt sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 1999 -, sollte man gleich weiter gehende Reformen ins Auge fassen, und diese nicht mehr von vornherein als "praktisch unmöglich" verwerfen. Das gilt umso mehr, als die großen innenpolitischen Probleme und die globalen Herausforderungen Strukturreformen eigentlich unerlässlich machen. Die Leistungsfähigkeit bundesdeutscher Politik wird immer mehr zum zentralen Standortfaktor.

V. Von der Durchsetzbarkeit von Systemreformen

1. Das Problem

Wie bereits erwähnt, hängen die Fehlentwicklungen mit den Eigeninteressen der politischen Akteure zusammen, und diese dürften sich auch allen Reformversuchen energisch widersetzen. Dazu zwei Beispiele:

In Schleswig-Holstein werden die Mitglieder der Landesregierung übermäßig versorgt. Eine Ministerin, ein Minister oder eine Ministerpräsidentin kann schon nach fünf Jahren Amtszeit eine Pension von 55 Prozent ihrer Aktivenbezüge erhalten, und zwar sofort mit dem Ausscheiden - unabhängig vom (möglicherweise sehr jungen) Lebensalter. Diese Regelung ist ungleich günstiger als die für Bundesminister, die nach fünfjähriger Amtszeit "lediglich" einen Anspruch auf 31,5 Prozent ihrer Aktivenbezüge erlangen, der frühestens mit Vollendung des 55. Lebensjahres beginnt. Solange in Schleswig-Holstein eine vierjährige Wahlperiode bestand, versuchte die Landesregierung ihre Versorgungsprivilegien mit dem Argument zu rechtfertigen, der Erwerb des Versorgungsanspruchs setze damit eine zweimalige Wahl voraus. Mit der (im September 1998 beschlossenen) Einführung der fünfjährigen Wahlperiode in Schleswig-Holstein verliert dieses Argument aber seine Grundlage. Bemerkenswert ist, dass auch die Opposition im Wahlkampf nicht an den Privilegien gerührt hat, sondern - im Falle ihres Wahlsiegs - offenbar selbst in ihren Genuss kommen wollte.

Das zweite Beispiel betrifft das Wahlrecht in Nordrhein-Westfalen. Dort plädieren sowohl die CDU als auch die Grünen für ein bürgernäheres Wahlrecht, das es den Wählern erlaubt, auf kommunaler und auf Landesebene ihre Stimmen auf bestimmte Kandidaten zu häufeln (kumulieren) und auch Namen anderer Kandidaten dazuzuschreiben (panaschieren) und dadurch ihre Abgeordneten wirklich selbst auszuwählen. Beide Parteien haben rechnerisch die Mehrheit im nordrhein-westfälischen Landtag und könnten die Reform deshalb gemeinsam beschließen. Aber die SPD ist dagegen, weil dadurch der beherrschende Einfluss der Partei zurückgedrängt würde, und den Grünen ist die machtorientierte Koalitionsraison wichtiger als die Realisierung ihrer Programmpunkte. Bezeichnenderweise macht aber auch die CDU keine Anstalten, das Thema im Wahlkampf wirklich groß herauszustellen. Die halbherzige Befürwortung durch die einen reicht nicht aus, die Blockade durch die anderen zu überwinden. Deshalb hatte eine Wahlrechtsreform in Nordrhein-Westfalen bisher keine Chance, obwohl sie den Bürgereinfluss erheblich ausweiten könnte, also genau in die Richtung ginge, die derzeit in abstracto von fast allen befürwortet wird.

2. Direkte Demokratie als Instrument für Strukturreformen

Vor diesem Hintergrund komme ich zu meiner fünften These:

Letztlich gibt es nur ein wirksames Gegenmittel, um die Demokratie als Regierung durch und für das Volk wiederherzustellen: die Aktivierung des Common Sense der mündig gewordenen Bürger selbst und die Schaffung der dazu erforderlichen Institutionen.

Diese Gegebenheiten scheinen mir der tiefere Grund zu sein für den schnell wachsenden Zuspruch, den Elemente direkter Demokratie in der Bundesrepublik seit einiger Zeit finden. So werden die Bürgermeister und Oberbürgermeister inzwischen in allen (und die Landräte in fast allen) Bundesländern direkt vom Volk gewählt. So sind Bürger- und Volksbegehren und die entsprechenden Entscheide, mit denen die Bürger die politischen Sachentscheidungen an sich ziehen und selbst treffen können, inzwischen in allen Bundesländern, in allen Gemeinden und in fast allen Landkreisen eröffnet. Meist geschah dies allerdings nur mit halbem Herzen. Aus Furcht vor dem Volk hat die etablierte Politik die direktdemokratischen Institutionen vielfach mit kaum überwindbaren Hürden versehen und dadurch das mit der einen Hand Gewährte mit der anderen Hand wieder genommen .

Als Vorwand dienen überkommene obrigkeitsstaatliche Vorurteile, die in Deutschland so weit verbreitet sind, dass sich ihnen kaum einer entziehen kann. Auch der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat sich kürzlich in einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wieder gegen direktdemokratische Elemente ausgesprochen . Das schmerzt besonders, weil von Weizsäcker im Jahre 1992 wie kaum ein anderer aktiver Politiker die Auswüchse des bundesdeutschen Parteienstaats gegeißelt hat . Dass ausgerechnet er das einzig wirksame Gegengewicht nicht erkennt, zeigt, wie stark der Einfluss überkommener Vorstellungen auf unser Denken ist. Dabei lässt sich das in direktdemokratischen Verfahren steckende Reformpotential an von Weizsäckers eigenen Reformvorschlägen belegen.

Richard von Weizsäcker tritt für eine Begrenzung der Amtszeit von hohen Amtsträgern ein. In den Vereinigten Staaten sind derartige "term limits" auch für Abgeordnete seit kurzem ein wichtiges Thema. Doch die Parlamentarier tun sich schwer, ihre eigene Amtszeit zu beschneiden. Wenn trotzdem inzwischen in vielen amerikanischen Staaten term limits nicht nur für Gouverneure, sondern auch für Abgeordnete bestehen, so standen bezeichnenderweise just diejenigen Staaten an der Spitze der Reformbewegung, in denen die Bürger die Möglichkeit besitzen, Gesetze und Verfassungsänderungen auch am Parlament vorbei durch Volksbegehren und Volksentscheid zu erlassen .

Ein zweites Beispiel: Richard von Weizsäcker kritisierte noch 1992, in Nordrhein-Westfalen sei es nicht gelungen, die Direktwahl der Bürgermeister und Landräte einzuführen, und nannte dies einen "klassischen Fall der Machtbehauptung von Parteizentralen" . Doch inzwischen haben wir die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch in anderen Bundesländern - das war die einzige große Strukturreform der neunziger Jahre in der Bundesrepublik überhaupt. Wie konnte diese Reform gegen den Widerstand der politischen Klasse gelingen? Ausgangspunkt der Reform war ein Referendum in Hessen im Jahre 1991, bei dem sich 82 Prozent der Abstimmenden für die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten ausgesprochen hatten. Vor diesem Hintergrund bedurfte es dann in anderen Ländern nur noch des glaubwürdigen Einleitens eines Volksbegehrens, um die Regierungsparteien in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und im Saarland reformwillig zu stimmen . Folglich lautet meine sechste These:

Die einzige Strukturreform der neunziger Jahre in der Bundesrepublik, die Reform der Kommunalverfassungen, ist nur durch Volksbegehren und Volksentscheide (oder durch glaubwürdiges Drohen damit) möglich geworden. Auf diese Weise wurde vor allem die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten eingeführt.

Hier zeigt sich etwas ganz Zentrales. Direktdemokratische Elemente brauchen das Repräsentationsprinzip durchaus nicht zu gefährden, sondern können es im Gegenteil fruchtbar ergänzen, den politischen Wettbewerb stärken und Reformen, die von der Mehrheit gewünscht werden - auch gegen die Besitzstandsinteressen der politischen Klasse -, durchsetzen helfen.

Dagegen hat die soeben (etwa von Guido Westerwelle und von Bundespräsident Rau selbst) wieder ins Gespräch gebrachte Direktwahl des Bundespräsidenten vorläufig nicht die geringste Chance. Die politische Klasse wird die Wahl mit Sicherheit nicht freiwillig aus der Hand geben.

VI. Reform der Landesverfassungen als Initialzündung

1. Direktwahl des Ministerpräsidenten und Reform des Landtagswahlrechts

Ganz anders sind die Durchsetzungschancen für eine entsprechende Reform auf Landesebene. Die Direktwahl des Ministerpräsidenten eines Bundeslandes ließe sich am Parlament (und damit an der politischen Klasse) vorbei durch Volksbegehren und Volksentscheid durchsetzen - vermutlich mit ähnlichem Abstimmungsergebnis wie 1991 in Hessen . Denn in den meisten Ländern können wir Bürger mit Volksbegehren und Volksentscheid nicht nur einfache Gesetze erlassen, sondern auch die Verfassungen ändern. Eine solche Reform könnte geradezu als Initialzündung wirken und den Reformdruck und die Reformbereitschaft auch in anderen Ländern und im Bund schlagartig erhöhen.

Würde der Ministerpräsident in einem deutschen Bundesland direkt gewählt (wie die Bürgermeister und Landräte in den Städten und Kreisen) und hätten die Bürger die Möglichkeit, auch bei den Landtagswahlen ihre Stimmen auf bestimmte Personen zu häufeln und auch andere Personen dazuzuschreiben (wie bei den süddeutschen Kommunalwahlen), würde nicht nur die Gewaltenteilung und die Verantwortlichkeit der Amtsträger wiederhergestellt; auch das freie Mandat würde automatisch wieder Effektivität erlangen.

2. Wiederherstellung des freien Mandats

Am Beispiel des freien Mandats erweist sich die Bedeutung systemischer Überlegungen geradezu exemplarisch: Es ist bekannt, dass das freie Mandat, obwohl es in den Verfassungen gewährleistet ist, bei uns in der Praxis verkümmert und damit auch die Parlamentstätigkeit für selbstbewusste Menschen unattraktiv wird. Wer das verändern will, darf sich nicht auf Appelle an den Mut und das Gewissen von Abgeordneten beschränken. Er muss die systemischen Strukturen ins Auge fassen, die die Fraktionsdisziplin in der Praxis immer wieder erzwingen und diejenigen, die nachhaltig gegen den Stachel löcken, ins parteipolitische Abseits stellen. Will man wirkliche Veränderungen durchsetzen, muss man sich dort umsehen, wo das freie Mandat noch Wirklichkeit ist, etwa in deutschen Gemeinden, in den Bundes- und Staatenparlamenten der Vereinigten Staaten und in der Schweiz auf allen Ebenen. Dort finden sich die Strukturen, die ich für die Bundesländer vorschlage: Direktwahlen der Exekutivspitze und stärker personalisierte Parlamentswahl.

Ein direkt gewählter Ministerpräsident könnte Reformen in Gang bringen, die bisher als unrealisierbar gelten. Er könnte mit einem Programm für eine durchgreifende Einschränkung der Verwaltung Wahlen gewinnen und hätte dann die Legitimation, die Reform auch gegen die massiven Widerstände der öffentlichen Bediensteten und ihrer Gewerkschaften durchzuführen - ähnlich wie der erste direkt gewählte Oberbürgermeister von Offenbach, Gerhard Grandke, sich die Legitimation für seine durchgreifende Sanierung der städtischen Finanzen aus der Wahl durch die Bürger geholt hat. Direkt gewählte Ministerpräsidenten könnten also das bewirken, wozu verbeamtete Parteien und Parlamente - mangels Distanz zur Verwaltung und zum öffentlichen Dienst - bisher nicht in der Lage waren. Direktgewählte wären ihren Wählern wirklich verantwortlich.

Auch die Ämterpatronage würde eingedämmt. Denn sie wird ja meist doch bekannt und könnte dem Regierungschef bei der nächsten Direktwahl schaden. Solange der Ministerpräsident dagegen vom Parlament gewählt wird, gefährdet er umgekehrt seine Wiederwahl, wenn er Patronagewünschen der Fraktionen nicht nachkommt. Direktgewählte wären auch eher bereit, aus dem Länderverbund im Interesse ihrer Bürger auszuscheren. Sie würden sich auch im Bundesrat weniger leicht parteipolitisch gleichschalten und zu einer machtpolitisch bedingten Blockade hinreißen lassen.

Eine solche grundlegende Verfassungsreform in einem Bundesland würde dem Gedanken des Föderalismus gerecht, Experimente zu ermöglichen und Raum für Innovationen zu lassen. Sie könnte - gleich einem Dominoeffekt - die Reformgestimmtheit in anderen Bundesländern und im Bund schlagartig erhöhen; plötzlich würde realisierbar, was heute noch utopisch erscheint.

Damit komme ich zu meiner siebten These:

Der Reform der Kommunalverfassungen sollte jetzt eine Reform der Landesverfassungen folgen, deren Kernelemente die Direktwahl der Ministerpräsidenten und die Verbesserung des Landtagswahlrechts sind. Auch dies könnte durch Volksbegehren und Volksentscheid durchgesetzt werden und wie ein demokratischer Urknall eine Reform-Lawine ins Rollen bringen.

Eine grundlegende Reform der Landesverfassungen wäre auch Voraussetzung dafür, dass den Ländern wieder mehr Kompetenzen vom Bund zurückgegeben werden. Denn es gab seinerzeit gute Gründe dafür, die Gesetzgebung immer mehr auf den Bund zu verlagern. Eine Verfassungsreform könnte dagegen die damals eingeschränkte Handlungsfähigkeit und Bürgernähe herstellen.

VII. Neubewertung direktdemokratischer Verfahren

1. Senkung der Staatsquote

Wir sollten auch nicht vergessen, dass die Schweiz und bestimmte amerikanische Staaten eine deutlich niedrigere Staatsquote haben als die Bundesrepublik. Auch hier ist der Zusammenhang mit den direktdemokratischen Institutionen eigentlich fast unübersehbar. Wenn staatliche Finanz- und Abgabenentscheidungen unter dem potentiellen Vorbehalt der Zustimmung des Volkes stehen, haben nur solche Maßnahmen eine Chance, von deren Notwendigkeit die Bürger wirklich überzeugt werden können. Das fördert nicht nur die Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit staatlichen Handelns, sondern könnte auch die Prioritäten zurechtrücken. Bei uns haben inzwischen fast alle politischen Kräfte die Senkung der Staatsquote in ihre Programme aufgenommen. Um das zu realisieren, reichen Appelle aber nicht aus. Ohne institutionelle Aktivierung des Common Sense der Bürger wird eine deutliche Senkung der Staatsquote ein Wunschtraum bleiben.

2. Aufwertung des Demokratieprinzips

Es ist höchste Zeit, derartige direktdemokratische Verfahren neu zu bewerten. Die angeblich schlechten Weimarer Erfahrungen sind längst widerlegt. Von den beiden Legitimationsprinzipien unseres Staates hat bisher zwar - jedenfalls auf Bundesebene - das Repräsentationsprinzip immer völlig dominiert, die Orientierung an inhaltlichen Werten erschien wichtiger als das andere, scheinbar nur formale Grundprinzip - die Bürgernähe. Doch wenn jetzt diejenige Partei, die stets ihre besondere Wertorientierung propagiert - und dies auch im "C" ihres Namens zum Ausdruck bringt -, eben diese Werte für alle unübersehbar schwer verletzt hat, dürfte dies zu einer relativen Delegitimierung des Repräsentationsprinzips führen. Kern der Repräsentation ist die Gemeinwohlorientierung der Amtsträger. Doch höchste Amtsträger haben das Gegenteil getan. Damit verliert die bisher übliche ausschließliche Herausstellung des Repräsentationsprinzips ihre Schlüssigkeit. Dann gilt es, nach wirksamen Kontrollmechanismen Ausschau zu halten, und diese liegen eben in einer Aktivierung des Common Sense der Bürger. Das bedeutet nicht nur direktdemokratische Sachentscheidungen, sondern auch unmittelbare Wahlen. Das Erfolgsmodell der neuen Kommunalverfassungen kann uns hier vieles lehren.

Führt die Parteienfinanzierungskrise zu der längst fälligen Aufwertung des Demokratieprinzips, so könnte aus der Not sogar eine Tugend werden. Dann wachsen auch die Chancen für die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene. Dies ist in der Koalititonsvereinbarung der rot-grünen Bundesregierung bereits vorgesehen. Voraussetzung ist aber eine Grundgesetzänderung. Die Reform kann deshalb nicht ohne Zustimmung der Union verwirklicht werden. Immerhin könnte die Krise die Union veranlassen, sich einen Ruck zu geben und ihren bisherigen Widerstand aufzugeben.

Die nötigen Strukturreformen rasch anzupacken dürfte auch im Interesse der etablierten politischen Klasse selbst liegen. Denn die Chance von möglichen neuen Herausfordererparteien, die solche Reformen glaubhaft zu ihrem Programm machen und dadurch den Etablierten Wähler und Mandate wegschnappen, war wahrscheinlich noch nie so groß wie heute.

Fünfzig Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes und der meisten Landesverfassungen ist es an der Zeit, sie auf den Prüfstand zu stellen. Unsere Verfassungen waren eine gute Basis für den Aufbau der Bundesrepublik in den ersten Jahrzehnten. Doch inzwischen hat sich eine politische Klasse gebildet, die die Kontrollmechanismen unserer Verfassung weitgehend außer Kraft setzt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Roman Herzog, Aufbruch ins 21. Jahrhundert. Rede im Hotel Adlon in Berlin am 26. 4. 1997, in: Bulletin der Bundesregierung, Bonn 1997, S. 354.

  2. Hans-Olaf Henkel, in: Manfred Bissinger (Hrsg.), Stimmen gegen den Stillstand. Roman Herzogs "Berliner Rede" und 33 Antworten, Hamburg 1997, S. 89.

  3. Vgl. einerseits Heribert Prantl, in: Süddeutsche Zeitung vom 11. 7. 1997, S. 4; Der Rambo von Bonn, in: Der Spiegel vom 21. 7. 1997; Otto B. Roegele, in: Rheinischer Merkur vom 25. 7. 1997, S. 1. Andererseits: Wirtschaftwoche vom 26. 6. 1997, S. 16 ff.; Robert Leicht, in: Die Zeit vom 18. 7. 1997, S. 4; Klaus von Dohnanyi, in: Der Spiegel vom 21. 7. 1997, S. 24.

  4. In dem Begriff "politische Klasse", der Gegenstand einer neuen politikwissenschaftlichen Forschungsrichtung ist, kommen die partei- und föderalismusübergreifenden Eigeninteressen ihrer Mitglieder zum Ausdruck.

  5. Vgl. Bundespräsidialamt (Hrsg.), Empfehlungen der Kommission unabhängiger Sachverständiger zur Parteienfinanzierung, Baden-Baden 1994, S. 121 f.

  6. Vgl. Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 9. 4. 1992, Amtliche Sammlung, Band 85, S. 316.

  7. Vgl. Bundespräsidialamt (Anm. 5), S. 121.

  8. Dazu und zu sonstigen Mängeln des neuen Parteiengesetzes von 1994 ausführlich Hans Herbert von Arnim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, München 1996², S. 98 ff.

  9. Vgl. ebd., S. 312 ff.

  10. Vgl. Hans Herbert von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern. Die politische Klasse - selbstbezogen und abgehoben, München 1997, Taschenbuchausgabe München 1999.

  11. Vgl. ders., Vom schönen Schein der Demokratie. Politik ohne Verantwortung - am Volk vorbei, München 2000.

  12. The Third International Mathematics and Science Study (TIMSS), vgl. Jürgen Baumert u. a., TIMSS - Mathematisch-naturwissenschaftlicher Unterricht im internationalen Vergleich. Deskriptive Befunde, Leverkusen 1997; dies., TIMSS/III. Schülerleistungen in Mathematik und den Naturwissenschaften am Ende der Sekundarstufe II im internationalen Vergleich. Zusammenfassung deskriptiver Ergebnisse, 1999².

  13. Vgl. H. H. von Arnim (Anm. 11), S. 167 ff.

  14. Vgl. Richard von Weizsäcker, Macht, Recht, Ehre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. 1. 2000, S. 3.

  15. Ders. im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger, Frankfurt/M. 1992, S. 135 ff.

  16. Vgl. James Coyne/John Fund, Cleaning House. America's Campaign for Term Limits, Washington, D. C. 1992; John Armor, Why Term Limits?, Ottawa, Ill. 1994.

  17. R. von Weizsäcker (Anm. 15), S. 153.

  18. Dazu ausführlich H.H. von Arnim (Anm. 11), S. 258 ff.

  19. Zur Direktwahl der Ministerpräsidenten vgl. Hans Herbert von Arnim, Staat ohne Diener, München 1993, S. 320 ff.; Frankfurter Intervention, Recht und Politik, 1995, S. 16 ff. Siehe auch schon Theodor Eschenburg, Verfassungs- und Verwaltungsaufbau des Südweststaates, Stuttgart 1952, S. 60 ff.; Georg-Berndt Oschatz, Perspektiven des Parteienstaates - Volksparteien in der Krise?, Kiel 1990, S. 20; Hans-Horst Giesing, Kritische Fragen zum Föderalismus, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für "gute" und bürgernahe Politik?, Berlin 1999, S. 75 ff. - Ablehnend dagegen: Hans Hugo Klein, Direktwahl des Ministerpräsidenten, Festschrift für Martin Kriele, hrsg. von Burkhardt Ziemske, München 1997, S. 573 ff.

Dipl.-Volkswirt, Dr. jur., Dr. jur. habil., geb. 1939; Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer.

Anschrift: Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Freiherr-vom-Stein-Str. 2, 67346 Speyer.

Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für "gute" und bürgernahe Politik?, Berlin 1999; Vom schönen Schein der Demokratie, München 2000.