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Die westliche Wertekultur auf dem Prüfstand

Horst W. Opaschowski

/ 17 Minuten zu lesen

Bisher rangierten in der westlichen Welt Waren vor Werten. Der Terroranschlag in New York wurde deshalb auch als ein Angriff auf den westlichen "Lebensstil" empfunden.

Einleitung

"Ob wir es wollen oder nicht, wir sind tonangebend in unserer Lebensweise.Aber der von uns entwickelte Stil ist vom Energieaufwand und den knappenRessourcen derart teuer, dass es zweifelhaft ist, ob unser Globus sich sehr viel mehr Menschen mit einem ähnlichen Lebensstil leisten kann."Tibor Scitovsky, amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler",The Joyless Economy" (1976).

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  • "Hat der Westen das Gefühl vermittelt, er wolle eine im Wesentlichen materialistische Kultur durchsetzen, die vom größten Teil der Menschheit als aggressiv empfunden wird, weil sie ihr nur zusehen oder beiwohnen kann, ohne Zugang dazu zu haben?"

Jacques Chirac, französischer Staatspräsident.Rede vor der UNESCO am 15. Oktober 2001 in Paris.

I. Krisenhafte Übergangsphase:Aufwachsen in Zeiten eines gestörten Gleichgewichts

Was wird die Zukunft bringen? Werden die nachwachsenden Generationen nur Spielball der Geschichte oder die Akteure der Zukunft sein? Und was wird aus der Welt unserer Werte? Die Menschheit steht an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte: Keine Gesellschaft ist mehr allein in der Lage, ihre Zukunft zu sichern. Nur eine weltweite Partnerschaft kann verhindern, dass die Kluft zwischen Arm und Reich noch größer wird. Insbesondere die westlichen Industrieländer müssen ihren Lebensstil überdenken und neue Maßstäbe für Lebensqualität entwickeln.

Schon vor drei Jahrzehnten hat der Club of Rome in seinem Bericht über die Grenzen des Wachstums den westlichen Industrieländern eine ebenso folgenreiche wie krisenhafte Übergangsphase vorausgesagt: Zum ersten Mal sei es lebensnotwendig, nach dem Preis unbeschränkten materiellen Wachstums zu fragen. Die Übergangsphase werde in jedem Fall schmerzhaft sein. Um den Zustand eines stabilisierten Gleichgewichts nicht zu gefährden, müssten sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit den globalen Trends und ihren Wechselwirkungen ernsthaft auseinandersetzen. Gemeint waren die beschleunigte Industrialisierung; das rapide Bevölkerungswachstum; die weltweite Unterernährung; die Ausbeutung der Rohstoffreserven und die Zerstörung des Lebensraums.

Nur eine weltweite Partnerschaft könnte diese Probleme im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts lösen helfen. Den Autoren des Club-of-Rome-Berichts schwebte als wünschenswertes Ziel ein dynamischer Gleichgewichtszustand vor.

Jetzt - nach der Jahrtausendwende - müssen erneut die Weichen zur Stabilisierung des Gleichgewichts gestellt werden, zumal die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien den tiefgreifendsten Wandel seit der Industrialisierung vor über hundert Jahren in der Wirtschafts- und Arbeitswelt verursachen. Nach dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Lester C. Thurow leben wir derzeit in einer Periode des Übergangs. Dabei machen wir die aus der Evolutionsbiologie bekannte Erfahrung eines gestörten Gleichgewichts durch - vergleichbar der Periode zu Zeiten der Dinosaurier. Über 130 Millionen Jahre lang beherrschten die Dinosaurier das Gesicht der Erde. Jede neue Dinosauriergeneration war noch größer, noch kräftiger und noch dominanter als die vorhergehende. Und in einer Übergangsperiode, "die nicht länger als zehntausend Jahre währte, stirbt auf einmal jeder Dinosaurier aus" . Am Ende dieser Entwicklungsphase entsteht dann etwas ganz anderes - das Säugetier. In der Evolution vollzieht sich ein Quantensprung.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befinden wir uns - historisch gesehen - erneut in einer Phase des gestörten Gleichgewichts mit Strukturveränderungen globalen Ausmaßes:

- Die erste globale Strukturveränderung ergibt sich durch das Ende des Kommunismus. Fast zwei Milliarden Menschen, ein Drittel der Menschheit, schließen sich der westlichen kapitalistischen Welt an.

- Die zweite globale Strukturveränderung betrifft den Übergang von natürlichen zu intelligenten Industrien. Nicht mehr Naturschätze und natürliche Rohstoffe sind jetzt gefragt, sondern künstliche, auf menschlicher Intelligenz basierende Industrien, die keinen festen Standard mehr haben, sondern überall in der Welt angesiedelt sein können.

- Der dritte globale Strukturwandel entsteht durch die demographische Revolution: Die Weltbevölkerung wächst, wandert und altert. In den ärmsten Ländern der Welt kommt es zu einer Bevölkerungsexplosion und gleichzeitig zu riesigen Migrationen aus armen in reiche Länder wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Gleichzeitig werden die Älteren in der westlichen Welt dominieren: Es kommt zur Verlagerung der Kaufkraft von den Jungen auf die Alten.

- Der vierte globale Strukturwandel wird durch den Übergang von Nationalökonomien zur Globalökonomie ausgelöst und dabei durch neue Kommunikationstechnologien beschleunigt und gefestigt.

- Schließlich kommt es zu einem fünften globalen Strukturwandel: Mit der Globalisierung lösen sich auch dominierende Wirtschaftsmächte auf. Aus festen Regelwerken im Umgang miteinander werden jetzt frei flottierende Spielregeln ohne Schiedsrichter, weshalb es ständig zu Konflikten, Auseinandersetzungen oder Handelsstreitigkeiten kommen kann. Aus westlicher Sicht sind z. B. von der in China verwendeten Software "96 Prozent durch Piraterie erworben" - und das ohne juristische Folgen.

Die junge Generation wächst derzeit in dieser Periode gestörten Gleichgewichts auf, in der alles in Fluss zu sein scheint. Neues und Altes passen kaum mehr zueinander. Das Ungleichgewicht wird geradezu zur Normalität. Es regieren weitgehend Ungewissheit, Unübersichtlichkeit und Unsicherheit. Technologien und Ideologien wandeln und wechseln sich ab - so lange, bis sich die junge Generation als neue Generation von Gründern versteht und bereit und in der Lage ist, trotz der krisenhaften Veränderungen Neues auszuprobieren und Verantwortung zu übernehmen. Mit ihrem Handeln beginnt dann ein neues Spiel mit neuen Regeln.

II. Die Kinder von McDonald's und Coca-Cola: Waren wichtiger als Werte

Zu Beginn des neuen Jahrtausends wächst eine junge Generation im Zwiespalt zwischen alten Werten und neuen Märkten auf: Waren rangieren vor Werten. Was die junge Generation derzeit am meisten fasziniert, sind Coca-Cola (38 Prozent) und Levis (34 Prozent), Formel-1-Rennen (33 Prozent) und McDonald's (33 Prozent), Nike (33 Prozent) und MTV (29 Prozent). Kirche/Religion, Greenpeace und Amnesty International, Bibel und Rotes Kreuz sind deutlich nachgeordnet. Die westliche Wertekultur ist eine dominante Warenkultur geworden (siehe Schaubild 1) - mit weltweiter Ausstrahlung: Allein MTV strahlt täglich in 140 Ländern und 17 Sprachen ihre Sendungen aus. In einer solchen "Rund-um-die-Uhr-und-alles-ist-möglich"-Gesellschaft lösen sich die Grenzen von In oder Out, Neu oder Alt, Progressiv oder Konservativ, Links oder Rechts zusehends auf. Die Bürger, die Wähler und die Konsumenten sind kaum mehr berechenbar, dafür aber spontan, flexibel und mobil. Stamm-Kunden und Stamm-Wähler sterben aus. Stimmungs- und Wechsel-Wähler breiten sich aus. Konsumiert und gewählt wird ganz nach persönlichem Befinden oder gesellschaftlicher Stimmungslage.

Die Folgen können sein: Tendenzielle Flucht der jungen Generation aus Verpflichtungen und Verbindungen, dramatischer Einbruch bei Wahlbeteiligungen und politischen Engagements. Den Vereinen und Parteien laufen die Jungmitglieder und Jungwähler davon. Die politischen Parteien und einzelne Wirtschaftsbranchen "müssen" damit leben lernen: Heute FDP und morgen MTV. Nichts ist unmöglich.

Die Werte der westlichen Welt stehen auch und gerade vor dem aktuellen politischen Hintergrund auf dem Prüfstand. Die Terroranschläge in den USA haben weitreichende Folgen. Die Leichtigkeit, mit der das World Trade Center als Symbol von Wirtschaft und Wohlstand zerstört und Tausende von Menschen getötet wurden, hat das menschliche Urvertrauen in die Sicherheit nachhaltig erschüttert. Die Sicherung von Leib, Leben und materiellen Werten ist plötzlich wieder infrage gestellt. Die terroristischen Anschläge waren gegen die gesamte westliche Welt gerichtet. Sie waren ein Angriff auf "unseren Lebensstil" (George Bush), und "unsere eigenen Werte" (Gerhard Schröder). Die Terroranschläge haben nicht nur die größten Bauwerke Amerikas zerstört, sondern auch das brüchige Fundament unserer westlichen Wertewelt sichtbar werden lassen.

Die Forderung nach Wir-Gefühl und Gemeinsamkeit lässt die Frage berechtigt erscheinen: Was verbindet "uns" überhaupt, was hält "uns" noch zusammen? Die Amerikaner konnten in ihrem Leid in der gemeinsamen Hymne und der gemeinsamen Flagge patriotischen Halt finden. Doch was schweißt uns eigentlich noch zusammen? Wie sieht unser sozialer Kitt aus? Auf was können wir stolz sein? Und welche gemeinsamen Werte halten wir für verteidigenswert? Jetzt spüren wir plötzlich, dass die vielfach gepriesene offene Gesellschaft in besonderer Weise verwundbar ist, weil ihr das stabile Fundament und die Beständigkeit fehlen. In unserer Wertephilosophie der westlichen Welt ist doch alles möglich und auch jederzeit einklagbar. In der Werbung heißt es folgerichtig "Glück ist käuflich". Die Forderung "Schafft die Spaßgesellschaft ab!" blieb weitgehend ungehört (siehe Schaubild 2).

Sieben Tage nach dem Terroranschlag in den USA warb die Lufthansa in ganzseitigen Anzeigen in der Tagespresse um verloren gegangenes Vertrauen mit dem Appell: "Lasst uns alle zusammenrücken. In diesen Zeiten ist die Verbundenheit durch gemeinsame Ziele und Werte so wichtig wie nie." Verbundenheit setzt erst einmal Verständigung voraus über das, was uns verbindet. Genau dies ist aber unser ungelöstes Problem. Die Individualisierung unseres Lebensstils geht mit einer Atomisierung unseres Wertehimmels einher. Stolz verkündet die moderne Jugendforschung in Deutschland heute: "Der allgemein verbindliche alte Wertehimmel ist passé", die offene Gesellschaft ist eine "Sowohl-als-auch"-Gesellschaft. Für den zwischenmenschlichen Umgang braucht man keine "Gebrauchsanweisung" mehr. Jeder mixt sich seinen persönlichen "Wertecocktail" selber. Wenn alle alles wollen dürfen, wie soll man da noch ernsthaft über eine "europäische Wertegemeinschaft" (Gerhard Schröder) diskutieren können?

Wenn wir uns nicht ändern, dann kann durchaus der von Samuel P. Huntington vorausgesagte Kampf der Kulturen in naher Zukunft Wirklichkeit werden. Was die islamische Welt am westlichen Lebensstil so kritisiert, ist nicht primär der materielle Wohlstand, sondern das Wohlleben ohne Wertebasis. In unserer so genannten "Multioptionsgesellschaft" regieren doch Austauschbarkeit, Beliebigkeit, Rastlosigkeit, Maßlosigkeit und zunehmend auch Bindungslosigkeit. Soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und soziale Verantwortlichkeit drohen auf der Strecke zu bleiben.

III. "So leben wie im Westen!"Die globale Verwestlichung und ihre sozialen Folgen

Mit der Verwestlichung des Lebensstils auch über die Industrieländer hinaus ist ein weltweiter Werteexport verbunden: So leben wollen "wie im Westen" verbindet sich mit einer deutlichen Wertschätzung westlicher Lebensstile und Lebensziele. Die Formel von der "einen Welt" oder gar "McWorld" schließt Visionen von materiellem Wohlstand und sozialer Wohlfahrt ein. Indem immer mehr westliche Werte in Entwicklungsländer eindringen, wird den Bewohnern auch bewusst, wie ungleich der Lebensstandard und die Lebenschancen in der Welt verteilt sind.

Der amerikanische Sozialwissenschaftler Daniel Bell machte sich schon vor einem Vierteljahrhundert Gedanken über die "Zukunft der westlichen Welt" , die an den Rand einer Existenzkrise geraten könne, weil sich die Widersprüche zwischen Kapitalismus, Hedonismus und sozialer Gerechtigkeit, zwischen Wirtschaft, Politik und Kultur verstärkten. Die Wirtschaft werde zunehmend vom Effizienzprinzip, die Politik vom Gleichheitsprinzip und die Kultur vom Selbstverwirklichungsprinzip beherrscht. Das führe unweigerlich zu Spannungen und sozialen Konflikten:

- Im Effizienzprinzip gehe es um Wirtschaftlichkeit, möglichst niedrige Kosten, größten Ertrag, Maximierung und Optimierung.

- Im Gleichheitsprinzip sei die Idee des Bürgerrechts, die Gleichheit der bürgerlichen Rechte, die Gleichheit vor dem Gesetz sowie die Chancengleichheit enthalten.

- Das Selbstverwirklichungsprinzip ziele auf außerordentliche Freiheiten und Selbsterfüllung. Im Mittelpunkt stehe das Selbst, das die Welt wie ein "Warenlager" benutze, plündere und kaum Verbote kenne.

So komme es zwangsläufig zu strukturellen Spannungen in der Gesellschaft zwischen der Wirtschaft, die weitgehend bürokratisch und hierarchisch geordnet sei; der Politik, die an Gleichheit und Partizipation glaube, und der Kultur, die sich mit der Erfüllung und Überhöhung des Selbst bzw. der ganzen Person befasse.

Latente soziale Konflikte könnten Entfremdung, Entpersönlichung sowie Autoritätsverluste sein. Die Grundprämisse der westlichen Kultur sei nicht mehr die Gemeinschaft oder Gruppe, sondern der Mensch als kleinste soziale Einheit der Gesellschaft. Das westliche Ideal sei der autonome Mensch, der über sich selbst bestimme. Die westliche Welt gehe einem hedonistischen Zeitalter entgegen, in dem Wohlstand und materielles Wohlergehen, Glückstherapien und sterile Späße immer wichtiger würden. Damit aber könnte die motivierende und bindende Kraft der Sozialordnung und des Sozialverhaltens verloren gehen. Was würde dann die Gesellschaft noch zusammenhalten?

Bell hat vor einem Vierteljahrhundert die Grundzüge der heute viel kritisierten Spaßgesellschaft beschrieben: Die Ausbreitung der Vulgarität drohe die ernste Kultur auszulöschen, die kulturelle Gesprächswelt verfalle und die Suche und Sucht nach Neuem und Sensationellem dominiere. Verhinderbar sei eine solche Entwicklung nur, wenn es wieder ein soziales Bindemittel der Gesellschaft gibt wie z. B. die soziale Verpflichtung gegenüber nachkommenden Generationen, aber auch die Einigung über einen Begriff von Gerechtigkeit, der allen Menschen das Gefühl vermittle, in der Gesellschaft geborgen zu sein: "Das wäre eine Art Gesellschaftsvertrag."

Von einem solchen Gesellschaftsvertrag, der Generationengerechtigkeit als soziale Verantwortung und Verpflichtung gegenüber nachkommenden Generationen ernst nimmt, sind wir weit entfernt. Seit den siebziger Jahren breitet sich in den westlichen Industrieländern eine kinderlose Konsumkultur aus, von der selbst die Grünen als "Partei der kinderlosen 68-er" (Kurt Edler/GAL Hamburg 2001) zeitweilig profitierten. Ein wachsender Anteil von Menschen wird in Zukunft im hohen Alter einer kinder- und enkellosen Generation angehören.

Das bisherige Hauptproblem der westlichen Welt war ihre globale Ausstrahlungskraft via TV, Internet und Tourismus. Die vielfach kritisierte Überlegenheit oder gar Überheblichkeit des Westens war dabei mehr die Folge einer indirekten Wirkung:

- Die Attraktivität des westlichen Lebensstils ("American way of life") nimmt weltweit zu. Immer mehr Menschen möchten so leben "wie im Westen". Das aber wird von Fundamentalisten in islamischen Ländern als Gefahr mit geradezu zersetzender Wirkung angesehen.

- Hinzu kommt ein sich ausbreitendes Gefühl von Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit und Erniedrigung. Die Kluft zwischen Arm und Reich in der Welt wird eher größer, und der ärmere Bevölkerungsteil in der Welt sieht seine Hoffnung schwinden, auch einmal so wohlhabend zu werden.

Es ist der westliche, der so genannte kalifornische Lebensstil, der sich über Medienkanäle bis in die letzten Winkel der Erde ausbreitet. Mickey Mouse, McDonald's und MTV erreichen fast weltweite Omnipräsenz. Die ganze Welt kann zu einem Einheitsmarkt mit Einheitswaren und Einheitspreisen werden. Der amerikanische Sozialwissenschaftler George Ritzer geht davon aus, dass z. B. die so genannte McDonaldisierung weltweit expandiert und immer mehr Gesellschaftsbereiche auf der ganzen Welt beherrscht. Wie bei Walt Disney oder Coca Cola identifizieren sich zunehmend mehr Menschen damit. Es ist dabei weniger das Produkt, das die Menschen fasziniert, als vielmehr die Idee, die Philosophie, die mit dem Produktkauf verbunden ist: der Fast-food-Gedanke und das Häppchen-Denken, das auf fast alle Bereiche des täglichen Lebens übertragen wird: Medien, Sport, Kultur, soziale Beziehungen. Die Folge ist eine Welt ohne Überraschungen, weil alles einheitlich normiert, standardisiert und in Serie produziert wird.

Es bewahrheitet sich eine allgemein menschliche Erkenntnis von Goethe, der am 6. Juni 1825 in einem Brief an Karl Friedrich Zelter vermerkt hatte: "Alles ist jetzt ultra: Reichtum und Schnelligkeit ist das, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt." Fast alle wollen den (bisher nur westlichen) Standard an Zeit und Geld heute (und nicht erst morgen) erreichen und erleben.

IV. Die Zukunft der westlichen Welt:Zwischen Niedergang und Erneuerung

Vaclav Havel, Schriftsteller und Präsident der Tschechischen Republik, beschrieb unlängst den "Westen" als eine euro-atlantische bzw. euro-amerikanische Region mit einer gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Geschichte. Jahrhundertelang habe der Westen großartige Leistungen vollbracht und in einem unverhältnismäßig hohen Grade die heutige Form unserer globalen Ordnung bestimmt. Aber er habe auch zur "Unterdrückung anderer Religionen und zur Fetischisierung eines grenzenlosen wirtschaftlichen Wachstums geführt, ohne auf die Folgen zu achten" . Damit verbunden sei eine Bewertung gewesen, die dem Westen eine heraushebende und den übrigen Ländern in der Welt eine herabsetzende Bedeutung anheftete: Die Zeit der vermeintlichen Herrschaft des Westens über den gesamten Globus sei aber jetzt vorbei. Eine neue Ära beginne, in der das Bemühen um die globale Balance (und nicht um eine westliche Weltordnung) im Mittelpunkt stünde. Nichtwestlichen Ländern dürften nicht länger westliche Werte aufgezwungen werden.

Nichts anderes meint der Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington, wenn er eine neue Ära der Weltpolitik fordert. Der Westen steht nach Huntington an einem Scheideweg: Er hat entweder eine jahrzehnte- oder jahrhundertelange Phase des Niedergangs vor sich oder er macht eine Periode der Erneuerung durch. Das Wiedererstarken des Islam und die wirtschaftliche Dynamik Asiens werden zunächst für eine Konfliktphase sorgen, die eine lange Periode des Friedens und des Wohlstands beenden könnte:

Einerseits zeigen sich Verfalls- und Niedergangsfaktoren der westlichen Kultur, wenn z. B. die Spar- und Investitionsrate sinkt, mehr Geld in den Konsum statt in die Bildung fließt, egozentrische Zwecke im Vordergrund stehen und der Unwille wächst, überhaupt noch etwas für die Gesellschaft zu tun, was zwangsläufig einen Bevölkerungsrückgang zur Folge hat.

Andererseits kann der Westen die inneren Verfallsprozesse aufhalten oder sogar umkehren, wenn er über wirtschaftliche und demographische Veränderungen hinaus auch zu einer moralischen Erneuerung bereit ist.

Dazu gehören z. B.

- die gesellschaftliche Aufwertung von Ehe, Familie und Kindern als Grundbaustein der Gesellschaft und als Gegengewicht zur wachsenden Zahl Alleinlebender und Alleinerziehender;

- die wirksame Bekämpfung von Kriminalität, Drogenkonsum und Gewalt;

- die systematische Förderung sozialer Engagements und freiwilliger Mitgliedschaften in Vereinen und gesellschaftlichen Organisationen;

- die grundlegende Neubewertung von Arbeit, Leistung und Berufsethik, wobei auch unbezahlte Arbeiten für die Gemeinschaft in die soziale Anerkennung mit einbezogen werden müssten;

- die vorrangige Förderung von Bildung und Kultur bei gleichzeitig geringerer Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen, Geboten und Betätigungen. Eine weitere Erosion des Christentums könnte andernfalls "eine Gefahr für das Wohlbefinden der westlichen Kultur" werden.

Moralische Erneuerung heißt, sich über eine gemeinsame kulturelle Identität zu verständigen und nach gemeinsamen kulturellen Wurzeln zu suchen. Moralische Erneuerung kann auch Renaissance der alten Werte bedeuten (siehe Schaubilder 3 und 4). Damit verbunden ist eine Besinnung auf Kernwerte, die für das soziale Zusammenleben der Menschen wichtig sind. Für die Zukunft unverzichtbar ist also eine Verständigung über gemeinsame Werte, um den drohenden Vertrauensverlust im privaten und öffentlichen Leben wieder auszugleichen.

V. Vertrauensverlust:Sehnsucht nach gelebtem Vertrauen

In der westlichen Welt waren bisher die sozialen Sicherungssysteme so gut ausgebaut, dass niemand befürchten musste, in seinem Überleben gefährdet zu sein. Andererseits haben heute immer mehr Menschen das Gefühl, in einer Hochgefahrenzivilisation zu leben - von Tschernobyl und Treibhauseffekt über Gen- und Biotechnologien bis hin zum weltweiten Terrorismus. So breitet sich das subjektive Empfinden aus: Nichts ist mehr sicher. Die Folge ist ein Vertrauensverlust auf breiter Ebene - gegenüber Politikern und Parteien, Managern und Wirtschaft, Berufskollegen und Nachbarn. Gleichzeitig wächst die Sehnsucht nach Ehrlichkeit, Beständigkeit, Treue - kurz: nach gegenseitigem Vertrauen.

Die von Trendforschern (Matthias Horx, Peter Wippermann u. a.) seit Jahren propagierte "Ich-AG" bzw. "Selbst-GmbH" bricht jetzt in sich zusammen, weil das Fundament - der Lebenssinn - außer Acht gelassen wurde. Da helfen auch Consultingdienste oder Ratgeberliteratur nicht. Das beste Mittel gegen Vertrauensschwund sind nicht bezahlte Dienstleister, sondern die Verwirklichung von Freundschaft, Liebe, Freundlichkeit, wie dies Jugendliche als Hoffnung an die Zukunft formulieren. Andere sprechen vom "Durst nach Begegnungsvertrauen" , der immer größer werde. Begegnungsvertrauen ist gelebtes Vertrauen.

Im Übrigen sollten wir nicht übersehen, dass der allgemeine Vertrauensverlust auch wirtschaftliche Folgen hat. Wenn die Menschen verunsichert sind, schwindet das Konsumentenvertrauen, und es kommt zum Angstsparen. Die privaten Haushalte tragen zu etwa zwei Dritteln das Bruttoinlandsprodukt. Sinkt das Stimmungsbarometer der Konsumenten, sinkt der Verbrauch, fallen die Kurse und droht längerfristig eine Rezession.

VI. Renaissance der alten Werte:Unterwegs zu einer neuen Wertesynthese

Kommt bald die Biedermeier-Kultur wieder? Als Reaktion auf politische Krisenzeiten entsteht ein "Wunschbild von Ruhe und Geborgenheit, beinahe eine neue Bürgerlichkeit mit Zügen einer Biedermeier-Kultur" . Der Mensch will wieder mit der Welt ins Reine kommen, geht auf die Suche nach dem inneren Frieden. Das kann auch ein Rückzug in die Familie und die eigenen vier Wände sein. Die einen besinnen sich auf sich und die beständigen Werte, die anderen entdecken das "traute Heim" oder die "neue Häuslichkeit" wieder. Mal heißt es "Back to the simple life" und mal " Cocooning" - in Anlehnung an den Kokon, der Schutzhülle, mit der sich die Raupe des Seidenspinner-Schmetterlings von der Außenwelt abschirmt.

Kehren bürgerliche Tugenden wie Fleiß und Leistung, Anstand und Ehrlichkeit, Pflichtgefühl und Verantwortungsbereitschaft zurück? Erstmals in den siebziger Jahren hatte der amerikanische Soziologe Daniel Bell die westliche Welt vor einem " collapse of the older value system" gewarnt. Und die deutsche Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann konnte die Schlagzeile der New York Post vom 2. Oktober 1975 "Ethos is slipping" nur bestätigen: Die Leistungsbereiten seien "zu einer klaren Minderheit zusammengeschrumpft" und die "Auswirkungen auf den deutschen Export" seien unabsehbar.

Diese pessimistischen Einschätzungen wurden seinerzeit vom Verfasser kritisiert mit der Begründung, ihnen liege ein veraltetes Leistungsverständnis zugrunde, das dem "Zeitgeist der Nachkriegszeit in den fünfziger Jahren" entspreche und unberücksichtigt ließe, dass man sich in einer Übergangsgesellschaft befinde, die "in der Übergangsphase zu einem neuen, erweiterten Leistungsbegriff" führe, den auch die jüngere Generation voll bejahe. Der These vom angeblichen Werteverfall wurde mit den Worten begegnet: "Die große Leistungsverweigerung findet nicht statt!" Und als Zukunftsperspektive zeichne sich eher eine neue Wertesynthese ab.

Während der Sozialforscher Burkhard Strümpel weiterhin eine "ökonomische Abrüstung" befürchtete, konnte nach Meinung des Autors "von einer Erosion der Leistungsmotivation keine Rede" sein.

Die Wirklichkeit hat inzwischen die Wertewandeldiskussion eingeholt. Der deutsche Export hat nicht gelitten - ganz im Gegenteil: Deutschland feiert sich weiterhin als Exportweltmeister, und statt des befürchteten Werteverfalls wird jetzt die vom Verfasser Anfang der achtziger Jahre prognostizierte Wertesynthese bestätigt. Die Zukunft gehöre einem Persönlichkeitstypus, der gleichermaßen traditionelle und moderne Werte schätze und eine Wertesynthese verkörpere: Menschen, die sich zwischen Altem und Neuem souverän zu bewegen wissen, werden in der Forschung nun aktive Realisten genannt. Sie repräsentieren ein spannungsreiches Persönlichkeitsprofil, können also diszipliniert und gleichzeitig kommunikativ, durchsetzungsfähig und kooperativ, fleißig und sensibel, aktiv und kreativ sein. Die Forderung nach einer Rückkehr zu den alten Werten wird entbehrlich, weil die neuen aktiven Realisten Tradition und Moderne verinnerlicht haben und danach leben.

VII. Vom Zeitalter der Individualisierung zum Zeitalter des gemeinsamen Lebens

Auch Elisabeth Noelle-Neumann kam unlängst zu dem Ergebnis, dass der Wertewandel der Achtundsechziger seinen "Höhepunkt überschritten" hat und traditionelle Werte wieder an Bedeutung gewinnen. Ein neuer Zeitgeist kündige sich an: "Der Wertewandel ist erst dann zu Ende, wenn sich die Jüngeren in ihren Ansichten nicht mehr wesentlich von den Älteren unterscheiden." Die Generationskluft löst sich tendenziell auf, weil Jüngere und Ältere gleichermaßen ein ausbalanciertes Lebenskonzept anstreben, in dem beides - Leistung und Lebensgenuss - eine Antwort darauf gibt, wofür es sich zu leben lohnt. Hier deuten sich Chancen für eine Sinndeutung des Lebens mit neuen moralischen Bezügen an. Gerhard Schmidtchen spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer moralischen Generation, die insbesondere persönliche Ehrlichkeit und Offenheit für wertvoll hält.

Auch bei den Verfechtern des unaufhaltsamen Trends zur Individualisierung kommen inzwischen erhebliche Zweifel auf. Die These vom autarken Ich wird als pure Ideologie entlarvt. Zur Rettung des Begriffs formuliert der Soziologe Ulrich Beck neuerdings den normativen Anspruch der "Ko-Individualisierung" und meint damit eine Individualisierung mit- oder gegeneinander mit teilweise nervigen Grenzen: Denn "die Individualisierung (der) des Einen ist oft genug die Grenze der Individualisierung des (der) Anderen" . Das Zeitalter der Individualisierung geht also zu Ende. Die Sehnsucht wird größer, auch einmal Nicht-Ich zu sein und nicht immer nur Ich-Imagepflege betreiben zu müssen. Das Zeitalter der Individualisierung, das keine vorgegebenen Normen, Werte und Leitbilder mehr kannte und anerkannte, überlebt sich. Jetzt heißt es Abschied vom Zeitalter individueller Bastelexistenzen zu nehmen und einem Zeitalter des gemeinsamen Lebens zum Durchbruch zu verhelfen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Dennis Meadow u. a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Reinbek 1973.

  2. Lester C. Thurow, Die Zukunft des Kapitalismus, Düsseldorf - München 1996.

  3. Ebd., S. 169.

  4. Horst W. Opaschowski, Schafft die Spaßgesellschaft ab! (dpa-Meldung vom 10. April 2001).

  5. Lufthansa-Anzeige vom 18. September 2001.

  6. Vgl. 13. Shell Jugendstudie, Jugend 2000, Opladen 2000.

  7. Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, München-Wien 19976.

  8. Vgl. Daniel Bell, Die Zukunft der westlichen Welt ("The Cultural Contradictions of Capitalism", 1976), Frankfurt/M. 1996.

  9. Ebd., S. 320.

  10. Vgl. George Ritzer, Die McDonalidisierung der Gesellschaft ("The McDonaldisation of Society", 1993), Frankfurt/M. 1995, S. 169.

  11. Vaclav Havel, Den "Westen" neu bestimmen, in: Die Welt vom 8. Oktober 2001, S. 8.

  12. S. P. Huntington (Anm. 7), S. 502.

  13. Vgl. Uwe Laucken, Zwischenmenschliches Vertrauen, Oldenburg 2001.

  14. Vgl. Horst W. Opaschowski, Jugend im Zeitalter der Eventkultur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 12/2000, S. 23.

  15. U. Laucken (Anm. 13), S. 255.

  16. Horst W. Opaschowski, Freizeitökonomie, Opladen 1995², S. 122.

  17. Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft (The Coming of Post-Industrial Society, 1973), Frankfurt/M. 1996.

  18. Elisabeth Noelle-Neumann, Werden wir alle Proletarier?, Zürich-Osnabrück 1978, S. 50 ff.

  19. Horst W. Opaschowski, Arbeit. Freizeit. Lebenssinn?, Opladen 1983, S. 34 f., vgl. auch: ders., S. 184 f.: "Es ist eine Wertesynthese als Problemlösung für die Zukunft anzustreben."

  20. Vgl. Bertelsmann Stiftung/IWG (Hrsg.), Unternehmensführung vor neuen gesellschaftlichen Herausforderungen, Gütersloh 1985, S. 82 ff.

  21. "Wir möchten besonders darauf hinweisen, dass wir bei unseren Forschungen einen Trend zur Wertesynthese - das heißt zu einer Vereinigung gegensätzlich erscheinender Werte - entdeckten." Helmut Klages, Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/2001, S. 10.

  22. Vgl. ebd.

  23. Elisabeth Noelle-Neumann/Thomas Petersen, Zeitenwende, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/2001, S. 20.

  24. Vgl. Gerhard Schmidtchen, Wie weit ist der Weg nach Deutschland? Sozialpsychologie der Jugend in der postsozialistischen Welt, Opladen 1997.

  25. Ulrich Beck, Das Zeitalter des "eigenen Lebens", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/2001, S. 3.

Prof. Dr. phil.; geb. 1941; Zukunftswissenschaftler und Politikberater; Institutsdirektor im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg; Leiter des B_.A_.T Freizeit-Forschungsinstituts in Hamburg.

Anschrift: Universität Hamburg, FB Erziehungswissenschaft, Binderstraße 34, 20146 Hamburg; B_.A_.T Freizeit-Forschungsinstitut, Postfach 30 06 60, 20347 Hamburg.

Veröffentlichungen u. a.: Deutschland 2010. Wie wir morgen arbeiten und leben, Hamburg 2001²; Tourismus. Eine systematische Einführung, Opladen 2001³; Wir werden es erleben. Zehn Zukunftstrends für das Leben von morgen, Darmstadt 2001.