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Zeitenwende Der Wertewandel 30 Jahre später | Wertewandel | bpb.de

Wertewandel Editorial Das Zeitalter des "eigenen Lebens" Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten? Zeitenwende Der Wertewandel 30 Jahre später Wertewandel im internationalen Vergleich Ein deutscher Sonderweg? Wertewandel und bürgerschaftliches Engagement - Perspektiven für die politische Bildung

Zeitenwende Der Wertewandel 30 Jahre später

Elisabeth Noelle-Neumann Thomas Petersen Thomas Elisabeth / Petersen Noelle-Neumann

/ 18 Minuten zu lesen

Es ist rund 30 Jahre her, dass traditionelle bürgerliche Werte in der Bevölkerung rasch an Bedeutung verloren. Sie waren bis dahin 250 Jahre lang unangefochten geblieben.

Einleitung

"Wenn eine Seite nun besonders hervortritt", schrieb Goethe mit Blick auf den Charakter öffentlicher Diskussionen, "sich der Menge bemächtigt und in dem Grad sich entfaltet, dass die entgegengesetzte sich in die Ecke zurückziehen und für den Augenblick im Stillen verbergen muss, so nennt man jenes Übergewicht den Zeitgeist, der dann auch eine Zeitlang sein Wesen treibt." Man mag sich fragen, welche Zeitspanne Goethe wohl vor Augen hatte, als er von "einer Zeitlang" schrieb. Ob er vielleicht an einen Zeitraum von 30 bis 40 Jahren dachte?

Es ist rund 40 Jahre her, dass eine gesellschaftliche Entwicklung sichtbar wurde, die bereits ein Jahrzehnt vorher, in den frühen fünfziger Jahren, ihren Anfang genommen hatte und ein Jahrzehnt später, Ende der sechziger Jahre, zur Abkehr von teilweise seit Jahrhunderten unangefochtenen Wertvorstellungen führen sollte. Die ersten Anzeichen der neuen Zeit waren Veränderungen in scheinbar harmlosen Details des Alltagslebens. Die Wohnungen der Menschen wandelten sich. Die Möbel, die trotz aller Änderungen der Mode in einer Tradition standen, die mindestens bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückreichte, machten im Laufe der fünfziger Jahre rasch neuen, vom Bauhaus inspirierten Formen Platz, die einen Bruch mit dieser Tradition darstellten .

Am auffälligsten war vielleicht der Wandel in der Musik. Das Symbol dafür sind die Beatles, die bei den Jugendlichen so große Begeisterung und bei den älteren - nicht zuletzt wegen ihrer langen Haare - so großes Entsetzen auslösten. Heute lässt sich kaum noch nachempfinden, was an den vier englischen Musikern und ihren Frisuren so schlimm gewesen sein soll. Es hat den Anschein, als habe die Bevölkerung gespürt, dass sich hier nicht nur ein Wechsel der Mode, sondern ein Erdbeben ankündigte, das die gewohnten gesellschaftlichen Normen auf den Kopf stellen konnte. "Nirgends wird an den Weisen der Musik gerüttelt", schrieb Platon, "ohne dass die wichtigsten Gesetze des Staates mit erschüttert werden."

Rund 30 Jahre ist es her, dass in vielen westlichen Ländern, ganz besonders aber in Westdeutschland, ein tief greifender Wertewandel stattfand und ein neuer Zeitgeist Einzug hielt, der dann die folgenden Jahrzehnte bestimmen sollte. Erst heute, zu Beginn des neuen Jahrhunderts, mehren sich die Anzeichen, dass die drei Jahrzehnte währende Entwicklung ihren Höhepunkt überschritten haben könnte und ein neuer Zeitgeist entsteht, der keine Rückkehr zu den fünfziger Jahren bedeutet, der jedoch einige der alten Werte wieder höher schätzt.

I. Die Entdeckung des Wertewandels

Die Entdeckung des Wertewandels Anfang der siebziger Jahre war für viele ein Schock. Der erste Bericht der Autorin über diesen Vorgang auf dem Jahreskongress der Arbeitgeberverbände im Sommer 1975 stieß auf Entrüstung, Empörung, schieren Unglauben. Es war das erste Mal, dass man mit der Hilfe der Demoskopie einen solchen Vorgang - den Wandel der Werte in der Gesellschaft - wie unter einer Lupe betrachten konnte. Die Demoskopie arbeitete damals in Deutschland seit 25 Jahren. 1947 hatte das Allensbacher Institut die ersten repräsentativen Umfragen durchgeführt und von Anfang an auch nach Wertvorstellungen, Zielen, Wünschen gefragt. In den ersten 20 Jahren, zwischen 1947 und 1967, wurden wichtige, interessante Trends beobachtet, etwa die zunehmende Verankerung der Demokratie. Aber es wurde auch klar, dass sich Veränderungen in aller Regel nur Schritt für Schritt vollzogen. Die Umfrageergebnisse zeigten, dass man sich vom Stereotyp der schwankenden Masse verabschieden musste, das vielleicht in der Französischen Revolution geboren war, vielleicht aber auch schon früher, in der römischen Republik.

Es war Zufall - und auch keine Auftragsforschung-, dass im Jahr 1967 eine neue Frageform ausprobiert wurde. Anstatt direkt danach zu fragen, welche Werte die Bevölkerung für besonders wichtig hielt, wurde dieser Sachverhalt jetzt in eine indirekte Fragestellung "übersetzt", wurden abstrakte oder gar akademische Formulierungen vermieden, wurde eine Fragestellung gewählt, die der Lebenswirklichkeit der Befragten näher kam als eine allgemeine Frage nach den für wichtig gehaltenen Werten. Die Frage lautete: "Jetzt eine Frage zur Erziehung. Wir haben eine Liste zusammengestellt mit den verschiedenen Forderungen, was man Kindern für ihr späteres Leben mit auf den Weg geben soll, was Kinder im Elternhaus lernen sollen. Was davon halten Sie für besonders wichtig?" Auf der Liste standen 15 Erziehungsziele wie Höflichkeit und gutes Benehmen, Sauberkeit, Sparsamkeit, die Arbeit ordentlich und gewissenhaft tun. Fünf Jahre später, 1972, wurde die Frage unverändert wiederholt. Die Ergebnisse unterschieden sich deutlich von denen des Jahres 1967. Es zeigte sich das, was Helmut Klages später den "Wertwandlungsschub" genannt hat: Binnen weniger Jahre war die Zustimmung zu dem, was 250 Jahre lang als bürgerliche Tugenden gepflegt worden war, deutlich abgesunken. Der Abbau hatte sich in allen sozialen Schichten vollzogen und immer am radikalsten bei den Jungen, den unter 30-Jährigen. Dass Kinder im Elternhaus Höflichkeit und gutes Benehmen lernen sollten, meinten von den unter 30-Jährigen 1967 81 Prozent, 1972 50 Prozent. Man solle die Kinder dazu erziehen, ihre Arbeit ordentlich und gewissenhaft zu tun, meinten die Jungen 1967 zu 71 Prozent, fünf Jahre später zu 52 Prozent. Auch andere Trendfragen zeigten eine bemerkenswerte Einstellungsänderung der Bevölkerung zu einer Vielzahl von Themen: in der Politik, im Verhältnis zur Kirche, in den Normen, ganz besonders den Sexualnormen. Noch 1967 fanden es nur 24 Prozent der jungen Frauen in Ordnung, mit einem Mann zusammenzuleben, ohne verheiratet zu sein. Nur wenige Jahre später waren es 76 Prozent, die sagten, das sei ganz in Ordnung. Dieser Vorgang ist von verschiedenen Autoren mit gutem Grund als "stille Revolution" bezeichnet worden - es war eine gesellschaftliche Revolution. Es war weit mehr als die Ablösung einiger traditioneller Erziehungsziele durch neue. Es änderten sich nicht nur einige Werte, sondern der gesamte Zeitgeist: Zum ersten Mal wurden eine bestimmte Art von Bewusstsein und Regeln der Lebensführung in Frage gestellt, die seit den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts unangefochten schienen. Damals, ab 1720, erschienen in Deutschland die "Moralischen Wochenschriften", Zeitschriften, die das Ziel verfolgten, eine neue, gute Gesinnung zu verbreiten. "Es reicht nicht, ein guter Christ zu sein", heißt es in der ersten Ausgabe des Hamburger "Patrioten" von 1724, "man muss auch ein nützliches Glied der Gesellschaft sein." Jedes Heft des "Patrioten" war einer Tugend oder der Anprangerung einer Untugend gewidmet: dem Neid, der Verschwendungssucht, dem Müßiggang, der Putzsucht. Hunderte ähnlicher Zeitschriften griffen diese Stichworte auf und trugen dazu bei, einen Kanon zu schaffen, der danach alle Revolutionen und Moden überlebte und erst 250 Jahre später plötzlich an Bedeutung verlor.

Dieser Wertewandel war in einer Vielzahl westlicher Länder zu beobachten, in Westdeutschland stärker als in jedem anderen Land. Es entstand eine Generationskluft, wie sie nirgendwo sonst beobachtet werden konnte. Eltern und Kinder entfernten sich voneinander. Es gibt oft Konflikte zwischen der jüngeren und der älteren Generation, etwa in Fragen der Ästhetik oder im Musikgeschmack. Aber in den zentralen Werten, auf die sie ihr Leben bauen, stimmen Kinder und Eltern in den meisten Fällen überein. Wie von Anthropologen immer wieder dargelegt wird, ist es gerade das Charakteristische des Menschen, dass er "unfertig" geboren wird, mit keiner Instinktausrüstung, die ihm sagt, was er tun muss, um lebensfähig zu sein. Deswegen ist es wichtig für die Stabilität der Gesellschaft, dass die Werte von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden. Dieser Prozess war in Westdeutschland offensichtlich gestört. Das zeigten deutlich die Ergebnisse einer Allensbacher Testfrage, die seit Anfang der achtziger Jahre in internationalen Umfragen, unter anderem in ganz Europa und den USA, angewandt wurde. Sie lautete: "In welchen dieser fünf Werte stimmen Sie mit Ihren Eltern überein?" Dazu wurde eine Liste überreicht, auf der die folgenden fünf Werte aufgezählt waren: Einstellungen zur Religion, Einstellungen zur Politik, Moral, Umgang mit anderen Menschen, Einstellung zur Sexualität. Als diese Frage erstmals 1981 in Deutschland gestellt wurde, sagten 23 Prozent der unter 30-Jährigen, sie stimmten in keinem der genannten Bereiche mit ihren Eltern überein. In den darauf folgenden Jahren stieg der Anteil derer, die diese Antwort gaben, noch weiter an. In den USA gaben dagegen weniger als 10 Prozent diese Antwort .

II. Adorno und die Ursachen des Wertewandels

Der Wertewandel, zumindest seine besonders starke Ausprägung in Deutschland, lässt sich kaum verstehen, ohne eine politische Dimension zu berücksichtigen - die Rolle Theodor Adornos. Es war die feste Überzeugung Adornos - die er in der "Frankfurter Schule" philosophisch verankerte und mit deren Geist die 68er Studentengeneration inspiriert wurde -, dass die Weitergabe von Wertvorstellungen von den Eltern an die Kinder in Deutschland unterbrochen werden müsste. Nur so, meinte er, ließe sich eine Wiederholung der Greuel der nationalsozialistischen Zeit verhindern. Denn was sich im Dritten Reich zutrug, sah er begründet, verwurzelt im "autoritären Erziehungsstil" im deutschen Elternhaus, der Kindern das Rückgrat breche und sie zu willenlosem Gehorsam zwinge. Aus dieser Grundüberzeugung heraus glaubte Adorno, dass sich die Kinder-Generation von der Eltern-Generation absetzen, dass sie von ihr - auch durch Schule und Medien angehalten - abgetrennt werden müsste, weil dadurch, und nur dadurch, die Übertragung von Werten von Eltern auf ihre Kinder gelockert werden könnte. Auch die groben Provokationen, die sich vom Ende der sechziger Jahre an einbürgerten, dienten diesem Ziel . Es ging um die Schaffung einer neuen, besseren Gesellschaft, und viel verband sich dabei mit den Überzeugungen und der Strategie der Marxisten, die aufgebrochen waren, einen neuen Menschen und eine neue Gesellschaft zu schaffen. Die Faszination von Utopie, Gerechtigkeitsversprechen, Gleichheit ergriff Menschen und besonders Intellektuelle in der ganzen Welt. Die "Frankfurter Schule" ging zwar mit dem Marxismus ein Bündnis ein, aber die Wurzeln waren die Überzeugungen von Horkheimer und Adorno über die Ursachen des Sieges der Nationalsozialisten in Deutschland.

Nur wenn man weiß, wie schwer es ist, Menschen und Gesellschaften zu verändern, kann man ermessen, wie außerordentlich die Leistung Adornos und der "Frankfurter Schule" waren. Es bildete sich nicht nur eine ganz ungewöhnlich starke Generationskluft in Westdeutschland, es gelang sogar, die Eltern davon zu überzeugen, dass sie in den wichtigen Fragen der Lebensorientierung ihre Kinder nicht beeinflussen dürften. Das zeigten die Ergebnisse einer Allensbacher Umfrage aus dem Jahr 1986, in der Eltern die Frage gestellt wurde: "Es gibt ja einige Dinge, die versucht man seinen Kindern mit auf den Weg zu geben. Da versucht man sie zu beeinflussen, und bei anderen Dingen lässt man den Kindern ihren Willen. Wenn Sie diese Karten einmal ansehen (14 Karten mit verschiedenen Angaben wurden übergeben): In was davon wollen Sie Ihre Kinder beeinflussen?"

64 Prozent der Eltern sagten, sie wollten ihren Kindern beibringen, wie sie ihre Sachen in Ordnung halten, 75 Prozent wollten ihre Kinder in ihrem Verhalten, ihrem Benehmen beeinflussen. Ganz oben auf der Prioritätenliste standen auch der Umgang mit anderen Menschen, Tischmanieren, der Umgang mit Geld. Die Dinge, bei denen die Eltern ihre Kinder am wenigsten beeinflussen wollten, waren die, die grundsätzliche Wertorientierungen betrafen: die Einstellung zum Glauben, zur Religion (33 Prozent), die Wahl der Freunde (31 Prozent), die Wahl der Lektüre (23 Prozent), welche Vorbilder man sich sucht (23 Prozent), Freizeitbeschäftigungen (20 Prozent) und politische Ansichten (19 Prozent).

III. Keine Tendenzwende in den achtziger Jahren

In der zweiten Hälfte der siebziger und in den achtziger Jahren konnte man den Eindruck bekommen, der Wertewandel sei beendet. Es hatte den Anschein, als sei nach dem schockhaften Wertewandel 1967 bis 1972 der Prozess zum Stillstand gekommen und werde sich vielleicht bald wieder umkehren. 1976 fand in München ein Kongress zum Thema "Tendenzwende" statt. Die Wissenschaftler hatten viele Anhaltspunkte dafür gefunden, dass die Umkehr eingesetzt habe. Darüber wurde diskutiert. Doch die Annahme, der Wertewandel sei nur ein kurzfristiges Phänomen, war falsch. Dennoch konnte man damals leicht den Eindruck von einer Tendenzwende bekommen. Eine viel beachtete Tatsache war, dass Helmut Kohl bei der Bundestagswahl 1976 mit dem Wahlslogan "Freiheit statt Sozialismus" um Bruchteile eines Prozents an die absolute Mehrheit herankam. Es lag nahe anzunehmen, dieser unerwartete Wahlerfolg der CDU/CSU könne das Kennzeichen einer Rückkehr der Bevölkerung zu bürgerlich-konservativen Werten sein. Aber in den entscheidenden Punkten des Wertewandels zeigte sich keine Umkehr und auch keine Neuorientierung. Zwar war die Dynamik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre vorbei - das, was Helmut Klages den "Wertwandelsschub" genannt hat, war beendet -, aber der Wertewandel selbst hatte noch lange nicht seinen Höhepunkt erreicht. Die Entwicklung ging weiter in die Richtung, die in den sechziger Jahren eingeschlagen worden war. Das deutlichste Indiz dafür war, dass sich die Generationskluft nicht verringerte, sondern - im Gegenteil - weiterhin vergrößerte. Der Anteil derer, die auf die oben beschriebene Frage "In welchen Punkten stimmen Sie mit Ihren Eltern überein?" antworteten: "In keinem Punkt stimme ich mit meinen Eltern überein", stieg bei den unter 30-Jährigen im Laufe der achtziger Jahre auf rund 30 Prozent und verharrte auf diesem Niveau bis Ende der neunziger Jahre. Solange die junge Generation sich in ihren Wertvorstellungen deutlich von der Generation der Eltern unterscheidet, ist die Dynamik eines Wertewandels nicht gebrochen.

Auch die deutsche Einheit brachte keine grundsätzliche Änderung in der gesellschaftlichen Entwicklung. Als im Frühjahr 1990 die ersten Umfragen in der damaligen DDR stattfanden, zeigte sich, dass in Ostdeutschland kein Wertewandel stattgefunden hatte. Die Einstellung der ostdeutschen Bevölkerung zur Familie, zur Arbeit, zur Kindererziehung ähnelte auffallend den Antworten der westdeutschen Bevölkerung aus den fünfziger Jahren. Eine Generationskluft war nicht erkennbar. Allerdings hielt eine große Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung, nachdem die erste Euphorie über die neu gewonnene Freiheit und die deutsche Einheit abgeklungen war, an der jahrzehntelang durch das SED-Regime vermittelten Ansicht fest, der oberste gesellschaftliche Wert sei nicht die Freiheit, sondern die Gleichheit. Das zeigt deutlich das Ergebnis einer Schlüsselfrage, die das Institut für Demoskopie Allensbach seit 1973 in regelmäßigen Abständen immer wieder der westdeutschen, ab 1990 dann der gesamtdeutschen Bevölkerung vorlegte. Bei dieser Frage wird ein Bildblatt vorgelegt, das zwei Personen im Schattenriss zeigt. Vor jeder Figur steht, wie in einem Comic, eine Sprechblase. Die eine Figur sagt: "Ich finde Freiheit und möglichst große Gleichheit eigentlich beide gleich wichtig. Aber wenn ich mich für eines davon entscheiden müsste, wäre mir die persönliche Freiheit am wichtigsten, dass also jeder in Freiheit leben und sich ungehindert entfalten kann." Die andere Person sagt: "Sicher sind Freiheit und möglichst große Gleichheit gleich wichtig, aber wenn ich mich für eines davon entscheiden müsste, fände ich eine möglichst große Gleichheit am wichtigsten, dass also niemand benachteiligt ist und die sozialen Unterschiede nicht so groß sind." Die Frage zu diesem Bildblatt lautet: "Hier unterhalten sich zwei, was letzten Endes wohl wichtiger ist, Freiheit oder möglichst große Gleichheit. Welcher von beiden sagt eher das, was auch Sie denken?"

In Westdeutschland überwog von Anfang an - trotz des Wertewandels, der ja auch eine stärkere Betonung des Gleichheitsideals einschloss - der Anteil derer, die sich bei dieser Frage im Zweifel für die Freiheit entschieden. Regelmäßig rund 60 Prozent wählten diese Antwort, nur knapp ein Drittel fand die Gleichheit wichtiger als die Freiheit. Auch in Ostdeutschland entschied sich im März 1990, unmittelbar nach der Wende in der DDR, eine knappe relative Mehrheit von 46 gegenüber 43 Prozent für die Freiheit, aber bereits 1992 war die Zahl derjenigen, welche die Gleichheit der Freiheit vorzogen, auf 53 Prozent gestiegen und der Anteil derjenigen, die sich für die Freiheit entschieden, auf 35 Prozent gesunken .

In den darauf folgenden Jahren konnte man beobachten, dass das ostdeutsche Meinungsklima das westdeutsche ebenso stark beeinflusste wie umgekehrt, und zwar in einer Weise, die dazu führte, dass in beiden Landesteilen die Tendenz zum Wertewandel verstärkt wurde. In den alten Bundesländern gewann die Ansicht an Boden, im Zweifel sei doch die Gleichheit der Freiheit vorzuziehen. Binnen sieben Jahren, von 1990 bis 1997, ging der Anteil derjenigen, die sich bei der genannten Dialogfrage für die Freiheit entschieden, von 63 auf 45 Prozent zurück.

In den neuen Bundeländern holte die Bevölkerung in wenigen Jahren den Wertewandel des Westens nach. So nahm beispielsweise rasch die Zahl der Menschen mit einer hedonistischen Lebenseinstellung zu. Das zeigte sich an den Ergebnissen der Frage "Zwei Männer/Frauen unterhalten sich über das Leben. Der/die eine sagt: ,Ich betrachte mein Leben als eine Aufgabe, für die ich da bin und für die ich alle Kräfte einsetze. Ich möchte in meinem Leben etwas leisten, auch wenn das oft schwer und mühsam ist.' Der/die zweite sagt: ,Ich möchte mein Leben genießen und mich nicht mehr abmühen als nötig. Man lebt schließlich nur einmal, und die Hauptsache ist doch, dass man etwas von seinem Leben hat.' - Was meinen Sie, welche(r) von diesen beiden Männern/Frauen macht es richtig?" In der Zeit von 1990 bis 1996 stieg in Ostdeutschland der Anteil derer, die der zweiten Aussage zustimmten und meinten, es sei vor allem wichtig, das Leben zu genießen, von 21 auf 48 Prozent. Schließlich ließ sich in Ostdeutschland auch eine wachsende Generationskluft beobachten, die allerdings nicht das gleiche Ausmaß erreichte wie in Westdeutschland: Die Zahl derer, die sagten, sie hätten nichts mit ihren Eltern gemeinsam, wuchs von 10 Prozent im Jahr 1990 auf rund 15 Prozent in den Jahren ab 1995. Mitte der neunziger Jahre hatte die ostdeutsche Bevölkerung den Wertewandel weitgehend nachgeholt.

IV. Ein neuer Zeitgeist kündigt sich an

In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre häuften sich die Indizien dafür, dass der Wertewandel, der in den sechziger Jahren begonnen und sich seitdem ununterbrochen - wenn auch mit unterschiedlicher Intensität - fortgesetzt hatte, seinen Höhepunkt überschritten haben könnte. Zuerst zeigte sich der Trendwechsel an den Ergebnissen zu der Testfrage, die in den siebziger Jahren zur Entdeckung des Wertewandels geführt hatte: Welche Tugenden sollte man seinen Kinder vermitteln? Über mehr als 20 Jahre hinweg sank von Umfrage zu Umfrage der Anteil derjenigen, die sagten, man müsse seine Kinder zu Höflichkeit und gutem Benehmen erziehen, zu Arbeitseifer oder zu Sparsamkeit. Doch Mitte der neunziger Jahre war der Tiefpunkt dieser Entwicklung überschritten. Von nun an gewannen die traditionellen Werte der Höflichkeit, der Arbeitsethik und der Sparsamkeit rasch wieder an Bedeutung. Auch der Anteil derjenigen, die sagten, man müsse seinen Kindern beibringen, sich anzupassen, sich in eine Ordnung einzufügen, nahm wieder etwas zu (Schaubild 1).

Besonders auffällig an dieser neuen Entwicklung ist die Veränderung der Einstellung zur Arbeit. Dies wird illustriert durch die Frage "Welche Stunden sind Ihnen ganz allgemein am liebsten: die Stunden während der Arbeit oder die Stunden, während Sie nicht arbeiten, oder mögen Sie beide gern?" Nur sehr wenige sagen bei dieser Frage, dass sie die Stunden während der Arbeit lieber mögen als ihre Freizeit. Aber in den sechziger Jahren sagte die Mehrheit der berufstätigen Bevölkerung: "Ich mag beide gern." Dann, mit dem Wertewandel, stieg scheinbar unaufhörlich die Zahl derjenigen, die antworteten: "Mir sind die Stunden lieber, in denen ich nicht arbeite." Der Höhepunkt dieser Entwicklung war 1994 erreicht. Damals sagten 64 Prozent, ihnen seien die Stunden in der Freizeit lieber als die Arbeitsstunden, und nur noch 29 Prozent gaben die Antwort, sie hätten auch ihre Arbeitsstunden gern oder sogar lieber als die Stunden, in denen sie nicht arbeiteten. Seitdem hat bei dieser Frage eine dramatische Trendwende stattgefunden. Im Jahr 2000 sagten erstmals seit den frühen siebziger Jahren wieder mehr Befragte, sie hätten Arbeit und Freizeit gern, als sich ausschließlich für die Freizeit zu entscheiden (Schaubild 2).

Der deutlichste Hinweis darauf, dass der seit 30 Jahren andauernde Wertewandel an sein Ende gekommen sein könnte, ist die Tatsache, dass Ende der neunziger Jahre die westdeutsche Generationskluft nahezu in sich zusammengebrochen ist. Es ist oben darauf hingewiesen worden, dass die Generationskluft einer der wichtigsten Indikatoren für die Fortsetzung des Wertewandels war: Solange die nachwachsende Generation andere Ansichten in Wertefragen vertritt als die Elterngeneration, solange wird sich das Wertesystem der Gesellschaft verändern, denn die Jungen werden ihre Ansichten allmählich durchsetzen. Der Wertewandel ist erst dann zu Ende, wenn sich die Jüngeren in ihren Ansichten nicht mehr wesentlich von den Älteren unterscheiden.

Binnen eines Jahres, von 1997 auf 1998 stürzte nun der Anteil der unter 30-Jährigen, die sagten, in keinem der Bereiche Moralvorstellungen, Einstellung zu anderen Menschen, Einstellung zur Religion, zur Sexualität, Einstellungen in der Politik stimmten sie mit ihren Eltern überein, von 31 auf 18 Prozent. Seitdem ist er auf diesem Niveau geblieben, das im internationalen Vergleich immer noch vergleichsweise hoch ist, aber die deutsche Sondersituation - die außerordentlich starke Generationskluft der achtziger und frühen neunziger Jahre - existiert nicht mehr (Schaubild 3). Und nicht nur bei der abstrakten Frage nach den Werten, die man mit den Eltern teilt, verringert sich der Abstand der Generationen. Derselbe Trend ist auch bei anderen Fragen zu beobachten, beispielsweise bei der Frage nach den Erziehungszielen. In den Ansichten, man solle die Kinder zu Höflichkeit und gutem Benehmen erziehen und man solle ihnen beibringen, ihre Arbeit gründlich und ordentlich zu tun, unterscheiden sich die unter 30-Jährigen und die älteren Deutschen so wenig wie seit den sechziger Jahren nicht mehr (Schaubild 4).

Diese Renaissance traditioneller Werte bedeutet allerdings nicht, dass der ganze Wertewandel, wie er sich seit den späten sechziger Jahren entwickelt hat, umgekehrt wird. Der Zeitgeist der kommenden Jahrzehnte knüpft an manche zwischenzeitlich vernachlässigte Tradition an, er bedeutet aber keine Rückkehr in die fünfziger Jahre. Manche Trends des Wertewandels setzen sich bisher ungebrochen fort, beispielsweise der Trend, mehr und mehr Gewicht darauf zu legen, dass die Kinder zur Durchsetzungsfähigkeit, zum Wissensdurst und zum technischen Verständnis erzogen werden (Schaubild 5). Hier zeigt sich eine gewisse Härte, die ehrgeizige Seite des neuen Zeitgeistes, die gut zu der Tendenz passt, der Arbeit wieder mehr Bedeutung zuzumessen.

Ungebrochen ist aber auch der Trend zum Lebensgenuss. Noch immer sagt eine deutliche Mehrheit der westdeutschen unter 30-Jährigen, für sie sei das Leben weniger als Aufgabe zu betrachten, die Hauptsache sei, das Leben zu genießen (Schaubild 6). Auf die Frage "Worin sehen Sie vor allem den Sinn des Lebens?" antworten nach wie vor fast zwei Drittel der Bevölkerung: "Dass ich glücklich bin und viele Freunde habe", und gleich darauf, an zweiter Stelle, folgt auch hier die Antwort: "Der Sinn des Lebens besteht darin, das Leben zu genießen" (Schaubild 7). Diese Ergebnisse zeigen, dass eine positive Einstellung zur Arbeit und zum Lebensgenuss keine Widersprüche sein müssen. Die kommenden Jahrzehnte könnten durch die Kombination beider, nur scheinbar widersprüchlicher Werte geprägt sein. Die demonstrative Ablehnung von Leistung scheinen die meisten nicht mehr für nötig zu halten.

Vielleicht zeichnen sich hier die Konturen dessen ab, was in letzter Zeit häufig mit dem Begriff "Spaßgesellschaft" umschrieben worden ist. Es ist, als sei eine Verkrampfung von den Deutschen abgefallen. Der Mainzer Publizistikwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger hat darauf hingewiesen, dass bereits über dem Bundestagswahlkampf 1998 ein in Deutschland bisher unbekannter "eigentümlicher Unernst" gelegen habe . Die Probleme des Landes wurden durchaus intensiv diskutiert, aber es entstand nie der Eindruck, den es bei früheren Wahlen gegeben hatte, nämlich dass die Entscheidung existenziell sei, dass die ganze Zukunft des Landes vom Wahlergebnis abhänge. Wie immer das Ergebnis aussehen würde, es würde schon weitergehen, die Probleme würden schon gelöst werden.

Auf die Frage, was sich während seiner Amtszeit am meisten verändert habe, antwortete der langjährige amerikanische Botschafter in Deutschland, John Kornblum: "Die Deutschen sind lockerer geworden." Und der Münchner Germanist und ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) Wolfgang Frühwald schrieb: "Wenn Literatur tatsächlich, wie behauptet wird, das kollektive Gedächtnis der Menschheit spiegelt, so erfahren wir beim Vergleich zwischen der Literatur der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit der am Ende des Jahrhunderts eine überraschende Tatsache. Damals, in den achtziger Jahren, war die Literatur angefüllt mit Endzeitvisionen, mit apokalyptischen Szenarien ohne Zahl. Jetzt, am Ende des Jahrhunderts, lesen, sehen und hören wir Rettungsgeschichten." Das ist vielleicht der Grundton des kommenden Zeitgeistes: Die Verbissenheit ist verschwunden, neue Werte bestehen neben alten, der Weltuntergang findet nicht statt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Johann Wolfgang von Goethe, Werke, Briefe und Gespräche, Gedenkausgabe, hrsg. von Ernst Beutler, Bd. 14: Schriften zur Literatur, Zürich-Stuttgart 1964, S. 705.

  2. Vgl. Der Einzug des Bauhauses in die Wohnzimmer, in: Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1993-1997, Bd. 10, Demoskopische Entdeckungen, München-Allensbach 1997, S. 382-387.

  3. Platon, Der Staat, 4. Buch, 425 A-D.

  4. Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt/M. 1984, S. 123. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag des Autors in diesem Heft.

  5. Ronald Inglehart, The Silent Revolution in Europe, in: American Political Science Review, 4 (1971), S. 991-1017; Elisabeth Noelle-Neumann, Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich 1978, S. 53.

  6. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher, Die verletzte Nation. Über den Versuch der Deutschen, ihren Charakter zu ändern, Stuttgart 1987, S. 101.

  7. Es ist experimentell nachweisbar, dass Menschen, die groben Provokationen ihres Anstandsgefühls und Schönheitsempfindens ausgesetzt sind, leichter neue Überzeugungen annehmen.

  8. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, Zwei Generationen später. Nach der DDR-Zeit Schwierigkeiten mit der Demokratie, in: Wolfgang Jäger/Hans-Otto Mühleisen/Hans-Joachim Veen (Hrsg.), Republik und Dritte Welt. Festschrift für Dieter Oberndörfer zum 65. Geburtstag, Paderborn u. a. 1994, S. 293-312.

  9. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Jan van Deth in diesem Heft.

  10. Hans Mathias Kepplinger, Die Kontrahenten in der Fernsehberichterstattung. Analyse einer Legende, in: Elisabeth Noelle-Neumann/Hans Mathias Kepplinger/Wolfgang Donsbach, Kampa. Meinungsklima und Medienwirkung im Bundestagswahlkampf 1998, Freiburg i. Br. 1999, S. 108-140, dort S. 136.

  11. Wolfgang Frühwald, Wir bestehen buchstäblich aus Sternenstaub. An der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Erfahrungsbeschleunigung auf unüberschaubaren Wissensstrecken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Dezember 1999, Bilder und Zeiten, S. I.; vgl. auch Elisabeth Noelle-Neumann, Das Jahrhundert der Arche Noah. Die Bevölkerung wittert eine bessere Zukunft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Januar 2000, S. 5.

Prof. Dr. phil, Dr. oec. h. c.; geb. 1916; Gründerin (1947) und Leiterin des Instituts für Demoskopie Allensbach; seit 1964 Professorin für Publizistik an der Universität Mainz.

Anschrift: Institut für Demoskopie Allensbach, 78472 Allensbach.
E-Mail: enoelle-neumann@ifd-allensbach.de

Veröffentlichungen u. a.: Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich 1978; Die Schweigespirale. Theorie der Öffentlichen Meinung, 6. Aufl., München 2001.

Dr. phil., geb. 1968; seit 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demoskopie Allensbach.

Anschrift: Institut für Demoskopie Allensbach, 78472 Allensbach.
E-Mail: tpetersen@ifd-allensbach.de

Veröffentlichung u. a.: (zus. mit Elisabeth Noelle-Neumann) Alle, nicht jeder. Einführung in die Methoden der Demoskopie, 3. Aufl., Berlin u. a. 2000.