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Der Zerfall der postkolonialen Staaten

Ulrich Menzel

/ 9 Minuten zu lesen

Der Zerfall vieler postkolonialer Staaten nimmt zu. Bislang ist dieses Phänomen in der entwicklungspolitischen Diskussion allerdings nur unzureichend beachtet worden.

Einleitung

Als die Portugiesen auf der Suche des Seewegs nach Indien sich im 15. Jahrhundert immer weiter an der afrikanischen Küste entlangtasteten, zeichneten sie auch die ersten Karten dieses den Europäern noch gänzlich unbekannten Kontinents. Eingetragen waren darauf aber nur die Küstenlinien, die Flussmündungen und die von ihnen gegründeten Niederlassungen, während das Hinterland auf den Karten weiß blieb. 500 Jahre später gaben die Kartographen des Spätkolonialismus vor, besser Bescheid zu wissen. Als man damals die noch weißen, weil im europäischen Verständnis "herrenlosen", Flecken unter den Kolonialmächten verteilte, wurden künstliche Grenzen auf der Landkarte gezogen und die so umrandeten Flächen entsprechend der jeweiligen Kolonialmacht eingefärbt. Auch nach der Entkolonialisierung blieben diese Kunstgebilde erhalten und wurden mit der Symbolik der postkolonialen Staaten ausstaffiert: Präsidentenpalast, Flagge und Hymne, Roter Teppich und Militärkapelle, schwarze Mercedes-Limousine und BMW-Motorradeskorte, Flughafenempfangsgebäude und dieses mit dem Präsidentenpalast verbindende Prachtstraße. Diese Symbole haben alle geblendet, im Norden wie im Süden, weil sie vortäuschten, dass es hinter dieser Fassade den postkolonialen Entwicklungsstaat und damit den Partner für die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) auch wirklich gegeben habe.

Und jetzt, 40 bis 50 Jahre nach der Entkolonialisierung, scheinen weite Teile der Welt wieder in einen Zustand zurückzufallen, der sich nicht wesentlich unterscheidet von dem, was die portugiesischen Entdecker vorfanden. Jedenfalls nehmen die weißen Flecken auf der Landkarte in den neuen postkolonialen Räumen jenseits der Küstenlinien und Prachtstraßen wieder zu, ist ein Verfall staatlicher Autorität, die Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols, ein Zerbröseln des postkolonialen Staates schlechthin zu konstatieren. Diese Beobachtung gilt nicht nur für große Teile Afrikas südlich der Sahara, sondern auch für die postsozialistischen Räume in Zentralasien, für die indonesische und philippinische Inselwelt und für die Andenregion in Südamerika.

Offenbar ist mit dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht nur das Konstrukt "Dritte Welt" seines normativen Sinns entleert worden, sondern sind auch dessen Teile, nämlich etliche Staaten der "Dritten Welt", zu einer substanzlosen Hülle verkommen. Nehmen wir nur die wachsende Zahl von Leerstellen in der internationalen Statistik: fehlender Ländereintrag, Daten nicht verfügbar, letzte verfügbare Angabe zehn Jahre alt, negative "Wachstumsraten" über lange Zeiträume. Auch die weißen Flecken in der Statistik nehmen zu, obwohl doch die Amtliche Statistik der zu Zahlen geronnene Ausweis staatlicher Aktivitäten ist, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung oder Zahlungsbilanzstatistik bilanzieren sollen, was sich innerhalb und zwischen politischen Grenzen abspielt. Gleichzeitig entwickelt sich aber der illegale Handel mit Drogen, Waffen, Giftmüll, Organen und Blutkonserven, der Menschenschmuggel und die neuen Formen der Sklaverei, die Fluchtgelder und andere Undercover-Aktivitäten - das "verborgene Gesicht der Weltwirtschaft". Was auch zunimmt, ist die Zahl der Kriege und Bürgerkriege, die kaum mehr auseinander zu halten sind. Das ganze Herz Afrikas von Angola über den Kongo, Ruanda und Burundi bis in den südlichen Sudan ist eine einzige Kriegszone, in der mindestens sieben "Staaten" und sieben Rebellenarmeen, unterstützt durch diverse Söldnerkontingente aus Belgien, Südafrika, Serbien und sogar Nordkorea, ihr Unwesen treiben. Hinzu kommen die wuchernden Slums, Favelas, Bidonvilles und Shanty-Towns der asiatischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Mega-Städte, deren "informeller Sektor" von keiner Statistik erfasst wird, ohne Stromzähler, Kanalisation, Polizeistreife, Wahllokal, Steuerbescheid und allgemeine Schulpflicht. Zu nimmt auch die Katastrophenhilfe weltweit, die humanitäre Intervention von peace keeping über peace making bis zu peace inforcement, wobei die Grenzen zwischen EZ, Konfliktprävention und Konfliktbearbeitung fließend geworden sind.

Dieses alles deutet auf einen Rückschritt im zivilisatorischen Prozess hin, der mit der Sublimierung von Gewalt und der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols einhergeht. Ein staatliches Gewaltmonopol kann aber nur existieren, wenn es einen funktionierenden Staat gibt, dessen Organe im Zweifelsfalle auch in der Lage sind, dieses durchzusetzen.

Hier stellt sich die Frage: Was ist denn überhaupt der Staat, namentlich in der "Dritten Welt", jenseits der kategorialen Ableitungsversuche, die in den siebziger Jahren ein eigenes Genre der entwicklungspolitischen Literatur produziert haben? Der Staat als Institution besteht aus Menschen, also aus einer Bürokratie, die vielfältige Verwaltungsaufgaben wahrnehmen, ganz so wie der Markt auch aus Menschen besteht, nämlich aus Händlern und deren Kunden. Damit wird eine wichtige Aufgabe des Staates deutlich. Damit Märkte funktionieren können, muss es Rechtssicherheit und Schutz des Eigentums geben. Also besteht der Staat nicht nur aus Verwaltungs- und Finanzbeamten, aus Richtern, Polizisten und anderen Vertretern des öffentlichen Dienstes, sondern auch aus einem Regelwerk, mit dessen Hilfe öffentliche Güter wie innerer Frieden, Rechtssicherheit, Infrastruktur, ein funktionierendes Geldwesen oder ein Bildungs- und Gesundheitswesen zur Verfügung gestellt werden.

Im Laufe eines langen historischen Prozesses wur-de so aus dem Verwaltungs- und Steuerstaat, der die Ressourcen aufzubringen hatte, um seinen vielfältigen Aufgaben gerecht werden zu können, der Entwicklungsstaat, der gezielte Wirtschaftsförderung betrieb, wurde der Nationalstaat, der dafür sorgte, dass die Kongruenz von Territorium, Bevölkerung und Staat durch eine kollektive Identität gefestigt wurde, wurde der durch Verfassung, Gewaltenteilung und allgemeines Wahlrecht legitimierte Rechtsstaat und schließlich auch der Sozialstaat, der nicht nur Wirtschaftsförderung, sondern auch Umverteilung zugunsten sozial Schwacher betrieb und zur Stabilität und Identität des Rechtsstaats beitrug. All dies setzte die frühzeitige Trennung von öffentlicher und privater Sphäre voraus, also die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft, und die Etablierung eines öffentlichen Dienstes im wahrsten Sinne des Wortes, der einem an Regeln orientierten Gemeinwohl verpflichtet war.

Wenn wir diese idealtypische Entwicklung des Staates mit dem heutigen postkolonialen Staat vergleichen, muss die Frage gestellt werden: Gab es diesen Staat mit allen seinen Leistungen dort jemals? Nur bei einer positiven Antwort kann überhaupt von Staatszerfall gesprochen werden. Oder gab es nur die Karikatur des westlichen Staates in der Hülle dessen, was die Kolonialverwaltung zurückgelassen hatte? Allerdings - manche Teile der nichtwestlichen Welt, so etwa Japan, China, Siam (Thailand), Persien oder das Osmanische Reich, konnten der Kolonisierung entgehen bzw. mussten allenfalls einen halbkolonialen Status erdulden. Es handelte sich dabei um Gesellschaften mit einer langen staatlichen Tradition, die in der Regel älter war als jene im Westen und sich bis heute erhalten hat. Andere Hochkulturen wurden zwar kolonisiert (z. B. Korea oder Vietnam), konnten ihre Tradition aber trotz Kolonialismus bewahren und besaßen insofern nach der Unabhängigkeit Anknüpfungspunkte für einen Neuanfang. Wieder andere Hochkulturen wie z. B. die altamerikanischen sind im Zuge der Kolonisierung zerstört worden. Hier gab es später auch keine Anknüpfungspunkte. Und wieder andere waren vor der Kolonisierung mehr oder weniger staatenlose Gesellschaften und machten erst durch den Kolonialismus Erfahrungen mit moderner Staatlichkeit in Form einer Kolonialverwaltung. Deshalb lässt sich argumentieren, dass die erfolgreichen Entwicklungsstaaten, insbesondere die asiatischen Schwellenländer, eher solche sind, die auf eine lange eigene bürokratische Tradition zurückblicken, während die Räume des postkolonialen Staatszerfalls eher diejenigen sind, in denen die alten Hochkulturen ausgerottet wurden bzw. eine staatliche Tradition kaum oder gar nicht vorhanden ist.

Das koloniale Erbe, der Ost-West-Konflikt und die Propaganda des Tiers Mondisme haben aber 30 bis 40 Jahre lang diese Unterschiede verdeckt. Die Hinterlassenschaften der Kolonialherren, ob Eisenbahnen, Hafenanlagen, Missionsschulen oder Missionsspitäler, konnten eine Weile von der Substanz weiterleben, bis alles verbraucht, ausgeschlachtet, verfallen war. Hinzu kamen die privaten Investitionen des Auslands in Bergbau und Plantagen, soweit diese nicht "nationalisiert" und "verstaatlicht" worden sind oder aufgegeben wurden. Hinzu kam auch eine politische Rente als Folge des Ost-West-Konflikts. Der Westen wie der Osten wirkten in ihren jeweiligen Klientelstaaten stabilisierend durch Finanz-, Entwicklungs- und Militärhilfe, durch die Entsendung von Entwicklungsexperten, Regierungsberatern, Militärberatern und im Zweifelsfalle durch die Fremdenlegion oder kubanische Söldner. So wurde eine Zeitlang das staatliche Gewaltmonopol garantiert, ein Minimum an öffentlichen Gütern bereitgestellt und für die Grundfinanzierung des postkolonialen Staates gesorgt.

Dies hat sich seit den frühen neunziger Jahren grundlegend geändert. Das koloniale Erbe ist verbraucht, die Rente aus den ehemals sozialistischen Ländern eingestellt, die Rente aus dem Westen drastisch reduziert. Damit ist die externe Stütze des postkolonialen Staates weggebrochen, lässt dessen Fähigkeit nach, seinen öffentlichen Aufgaben nachzukommen, weil es in den 40 Jahren seit der Entkolonialisierung nicht gelungen ist, den Verwaltungs-, den Steuer-, den Entwicklungsstaat, den Rechtsstaat oder gar den Sozialstaat aufzubauen, eine Trennung von öffentlicher und privater Sphäre herzustellen. Die unsägliche Geschichte der vielen großen und kleinen Parasiten, der Mobutos, Bokassas, Duvaliers, Marcos, Suhartos und ihrer riesigen zusammengerafften Vermögen, die auf Nummernkonten im Ausland deponiert sind, unterstreicht das nur zu deutlich.

In Wirklichkeit hat es sich in vielen Ländern der "Dritten Welt" weder um Marktwirtschaften noch um Planwirtschaften gehandelt, sondern um Rentenökonomien. Die wesentlichen Einkommen entstehen dort nicht aus Arbeit (Lohn) bzw. unternehmerischen Aktivitäten (Profit), sondern aus der politischen Kontrolle über einkommensträchtige Ressourcen. Die Konzession zur Ausbeutung von Naturreichtümern wie Öl, Erze, Diamanten, Tropenwald oder Fischgründe durch ausländische Konzerne wird mit einer Rentenzahlung an die politisch Herrschenden abgegolten. Auch durch die willkürliche Besteuerung des Außenhandels, das Ausflaggen von maroden Tankern oder durch Giftmüllimporte lässt sich eine Rente erzielen. Desgleichen aus der Entwicklungshilfe, gleichviel ob es sich um Kredite, Projekthilfe oder Schenkungen handelt. Überall lässt sich etwas abzweigen oder ausschlachten, lassen sich "Transaktionskosten" durch bürokratische Hürden erfinden, die durch Bestechung zu überwinden sind. Dieses verlangt allerdings entsprechende Aquirierungsagenturen in Form von Botschaften und Vertretungen bei internationalen Organisationen.

Die Rente kann aber nicht völlig von den politisch Herrschenden vereinnahmt werden. Zumindest ein Teil muss zur Herrschaftssicherung "investiert" werden. Deshalb sind die Ausgaben für Militär, Polizei, Geheimdienst und damit Waffenkäufe unumgänglich, müssen viele Direktoren-, Minister- und Generalsposten geschaffen, muss die Bürokratie auf allen Ebenen immer weiter aufgebläht werden, ohne dass diese die Aufgaben des öffentlichen Dienstes auch wahrzunehmen hat. Wichtig ist nur die Loyalitätssicherung. Die vielen Putsche und Gegenputsche sind so als Kämpfe rivalisierender und oft ethnisch gegliederter Teile der politischen Klasse um die Kontrolle der Renteneinkommen zu interpretieren. Ein klassischer Fall dürfte der Kongo sein. Die Rentenlogik setzt allerdings die Waffenlieferanten, die ausländischen Bergbaukonzerne und die sicheren Schweizer Nummernkonten voraus.

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde deshalb die bereits angelegte Militarisierung vieler Gesellschaften weiter angeheizt, weil dessen stabilisierende Funktion entfiel, weil die politische Rente sich gleichermaßen reduzierte wie die Rente, die aus der Ausbeutung der Natur zu ziehen ist als Folge des fortschreitenden Verfalls des kolonialen Erbes. Verschärfte Verteilungskämpfe um die Rente sind die Folge. Der daraus resultierende Krieg und Bürgerkrieg forciert aber nicht nur das Elend, sondern eröffnet auch ganz neue Renteneinkommen. Je mehr Schreckensbilder über die Medien in die Wohnzimmer des Westens transportiert werden, desto mehr wächst die Spendenbereitschaft, wächst das humanitäre Engagement der westlichen Regierungen, wachsen aber auch die Möglichkeiten, aus dem Elend eine Rente zu ziehen. Dies geschieht entweder direkt und unverblümt mit der Kalaschnikow am Hafen oder Flugplatz, wo ein Teil der Hilfsgüter abgezweigt wird, oder indirekt über Schutzgeldforderungen, Offerierung von Begleitschutz u. a., damit zumindest ein Teil der Hilfe überhaupt die Bedürftigen erreicht. Die so entstehenden "Gewaltmärkte", ein Begriff von Georg Elwert, sind also durchaus einem rationalen Kalkül entsprungen. Wenn ein Land völlig ausgeplündert ist, wenn der Krieg das wirtschaftliche Leben zum Erliegen bringt, dann ist das Elend die letzte Ressource, die sich noch ausbeuten lässt. Bürgerkrieg, Flüchtlingselend und Genozid sind also nicht unbedingt der Ausdruck eines zügellosen Atavismus, der aus ethnischen Spannungen, Stammeskämpfen oder Rassenhass resultiert, sondern kann durchaus einer ökonomischen Logik entsprungen sein. Damit diese funktionieren kann, bedarf es entsprechender "Investitionen" in die Instrumente der Gewalt, in die Waffen, Fahrzeuge, Handys, muss ein Teil der Beute an so genannte Technicals, Kindersoldaten oder ausländische Söldner verteilt werden, wenn diese nicht auf eigene Faust marodieren. Wenn Korruption und Patronage zu den Systemmerkmalen einer Gesellschaft gehören und wenn deren zivile Formen nicht mehr ertragreich genug sind, dann bröckelt der zivilisatorische Firnis, mit dem die Repräsentanten des postkolonialen Staats so lange zu verdecken wussten, dass es sich hierbei nicht um einen Entwicklungsstaat, sondern um eine Anstalt zur Maximierung von Renten handelte. Damit verschwindet auch der Partner der EZ, die diesen Partner so viele Jahre alimentiert hat, tritt der Warlord an seine Stelle, da auch die Katastrophenhilfe einen Partner braucht, soll sie überhaupt zum Einsatz kommen.

Dr. phil., geb. 1947; Professor für Internationale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre am Institut für Sozialwissenschaften der TU Braunschweig.

Anschrift: TU Braunschweig, Institut für Sozialwissenschaften, Wendenring 1, 38114 Braunschweig.
E-Mail: Ulrich.Menzel@tu-bs.de

Veröffentlichungen u. a.: Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorie, 4. Aufl., Frankfurt/M. 1997; Globalisierung versus Fragmentierung, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1999; (Hrsg.) Vom Ewigen Frieden und vom Wohlstand der Nationen, Frankfurt/M. 2000; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften.