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Welche Zukunft hat der Friedensprozess im Nahen Osten?

Avi Primor

/ 17 Minuten zu lesen

Der Friedensprozess im Nahen Osten ist keine Konstruktion von Staatsmännern. Vielmehr ist er das Ergebnis psychologischer Weiterentwicklungen in den Bevölkerungen der Region.

I. Abschnitt

Die Tragödie, von der unsere Region in den letzten Monaten heimgesucht wird, ist vielfach verheerend. Beide Bevölkerungsgruppen, aber ganz besonders die Palästinenser, haben Verluste zu beklagen - Tote, Verletzte, Verstümmelte. Die Lebensbedingungen, besonders auf palästinensischer Seite, verschlechtern sich tagtäglich. Vor allem schürt all dies den Hass zwischen den Menschen auf beiden Seiten und vertieft die Kluft, die sie trennt. Sieben Jahre lang haben Wohlwollende beider Seiten sich bemüht, Brücken über diesen Abgrund zu schlagen. Sie bemühten sich, das gegenseitige Misstrauen allmählich abzubauen, und offensichtlich bemühten sie sich vergeblich. Der Friedensprozess, für den dessen Väter mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden, scheint nicht nur ins Stocken geraten zu sein, sondern in den letzten Zügen zu liegen, wenn nicht sogar schon tot zu sein. Der erneute Aufstand der Palästinenser nennt sich diesmal die "El-Aksa-Intifada", nach der Moschee auf dem Tempelberg in Jerusalem. Ist also der Aufstand diesmal über den nationalen Rahmen hinaus ein religiöser Krieg? Seitens der Palästinenser zögert man übrigens nicht, ihn auch als einen "heiligen Krieg" zu bezeichnen. Wenn auch Kriege, die auf nationalem Ehrgeiz beruhen, schon schmerzhaft und äußerst schwierig beizulegen sind, so sind sie doch immer noch erheblich einfacher zu bewältigen als Religionskriege.

Und dennoch ist der Friedensprozess, den man 1993 in Oslo ins Leben gerufen hat, unumkehrbar. Der Friedensprozess im Nahen Osten, der 1977 mit Ägypten begonnen hat - Sadats Besuch in Jerusalem, das 1994 abgeschlossene Friedensabkommen mit Jordanien sowie die Bemühungen um Frieden mit Syrien, die immer noch keine Erfolge gezeitigt haben -, ist das Ergebnis einer langjährigen Entwicklung.

Es ist nicht so, dass irgendein Staatsmann willkürlich einen Friedensprozess initiiert hat. Präsident Sadat ist nicht 1977 eines Morgens aufgestanden, um sich zu sagen: "Ich hätte Lust, heute etwas anderes zu versuchen - statt Krieg vielleicht einen Friedensprozess." Weder er noch König Hussein, noch Jasser Arafat, noch Begin, Rabin oder Peres haben den Friedensprozess willkürlich eingeleitet. Bei diesen Persönlichkeiten handelt es sich um kluge Staatsmänner, die realistische Entwicklungen begriffen und daraus Konsequenzen gezogen haben.

Um die Veränderung in der jeweiligen Haltung zu verstehen, müssen wir zunächst die Ursache des Konflikts im Nahen Osten verstehen. Im Gegensatz zu dem, was die meisten Menschen denken, ist das palästinensische Problem nicht die Wurzel der Spannungen in der Region. Viele Leute sagen, dass es im Nahen Osten keinen Frieden geben kann, wenn es hier eine Bevölkerungsgruppe gibt, die im Elend und ohne Würde, unter Besatzung oder teilweiser Besatzung lebt und keine Souveränität ausüben kann. Das stimmt natürlich durchaus. Solange die Palästinenser keine Existenz in Würde finden, wird es im Nahen Osten keinen Frieden geben, auf jeden Fall keinen echten, dauerhaften Frieden. Die verheerenden Lebensumstände, die heute im Nahen Osten auf palästinensischer Seite Realität sind, können jedoch nicht als Auslöser der Auseinandersetzungen in der Region betrachtet werden.

II. Abschnitt

Im Jahr 1947 beschloss die Vollversammlung der Vereinten Nationen, das britische Mandat - d. h. die Kolonialherrschaft Englands über Palästina - zu beenden und das Land in zwei Teile aufzuteilen, wobei etwa die Hälfte des Landes den Juden Palästinas zum Aufbau ihres unabhängigen Staates angeboten werden sollte. Der andere Teil sollte den Arabern Palästinas als souveräner Staat offeriert werden. Also wurde den Juden Palästinas und den Arabern Palästinas - oder den Palästinensern, wie sie sich heute nennen - das gleiche Angebot unterbreitet. Im Übrigen sollten beide Staaten, der jüdische und der arabische Staat, im ehemals britischen Palästina nach Ausrufung ihrer jeweiligen Unabhängigkeit eng miteinander kooperieren, so z. B. im Rahmen einer Währungsunion und einer Zollvereinigung.

Wenn diese Teilung für sie auch den Verzicht auf einen Teil der historischen, biblischen Heimat bedeutete, so hatten die Juden Palästinas das UN-Angebot doch mit Begeisterung akzeptiert. Nicht so die Araber Palästinas, die sofort einen Krieg entfesselten, um, wie sie sagten, den entstehenden jüdischen Staat im Keim zu ersticken. Als ihnen dies nicht gelang, riefen sie ihre Brüder in den Nachbarstaaten zu Hilfe, die sofort ihre regulären Streitkräfte nach Palästina entsandten. Die Invasoren erklärten - genau wie die Palästinenser -, ihr Ziel sei es, den Staat Israel im Keim zu ersticken. Das war die Ursache des Konflikts im Nahen Osten. Aus diesem Krieg entstand dann auch das palästinensische Problem, unter dem wir alle, aber die Palästinenser ganz besonders, noch heute leiden. Infolge der arabischen Invasion im Jahr 1948 wurde der Staat Israel nicht zerstört; die Möglichkeit jedoch, einen Palästinenserstaat zu gründen, wurde zunichte gemacht: Drei der an dem Krieg 1948 beteiligten Länder eroberten und annektierten einen Teil des den Palästinensern zugesagten Landes. So blieben die Palästinenser ohne einen eigenen Staat und lebten größtenteils bis 1967 unter der Besatzung anderer arabischer Staaten.

Warum die Juden den Teilungsplan akzeptiert haben und die Araber nicht, kann man im Kontext der Umstände der damaligen Zeit verstehen. Das dringendste Erfordernis für die Juden war es, irgendeine Unabhängigkeit zu gewinnen. Dies nicht nur, weil ein unabhängiger jüdischer Staat das Ziel der Zionistischen Bewegung war und laut zionistischer Ideologie der einzige Weg, den Juden eine Existenz in Würde zu gewährleisten, sondern es war auch Nachkriegszeit, und man musste für die Flüchtlinge - für die Überlebenden des Holocaust - sofort eine Zuflucht schaffen. Die englischen Herrscher Palästinas weigerten sich, die Flüchtlinge ins Land hereinzulassen. Andere Länder der Welt waren auch nicht erheblich großzügiger. Also war ein unabhängiger Staat für die Juden vor allem eine Frage der sofortigen Souveränität und nicht unbedingt eine Frage seiner Flächenmaße.

Demgegenüber ging es den Arabern Palästinas damals nicht primär um eine separate palästinensische Identität. Sie waren eher arabische Patrioten im weitesten Sinne des Wortes. Wahrscheinlich die Fortschrittlichsten unter den Arabern des Nahen Ostens, waren die Palästinenser die Bannerträger der panarabischen Idee. Sie strebten ein unabhängiges arabisches Reich an, das sich über das gesamte arabische Territorium erstrecken sollte, und dieses Territorium sollte auch Palästina mit einschließen. Insofern war es für sie erforderlich, dass auf arabischem Boden keine fremde Identität entstand. Dieses fremde Wesen, das man - wie man ganz offen erklärte - im Keim ersticken wollte, war der Staat Israel. Erst nachdem die Vereitelung der Entstehung des Staates Israel gescheitert war, wurde die neue, bittere Realität der Palästinenser sichtbar. Es gab offensichtlich keine vereinigte arabische Nation, keinen vereinigten arabischen Staat, und es war auch keine entsprechende Entwicklung erkennbar. Im Gegenteil: Jeder Bruchteil des arabischen Volkes verkrustete sich in seiner separaten nationalen Existenz. Die Einzigen, die außerhalb dieses Prozesses geblieben sind, waren die Palästinenser. Sie waren weder Teil einer illusorischen arabischen Nation noch eine Nation mit einem Staat für sich. Das ist die Ursache des palästinensischen Problems, unter dem wir alle - aber vor allem die Palästinenser - bis heute noch leiden.

Israels Nachbarstaaten und die Palästinenser konnten ihr Missgeschick nicht fassen. Es reichte, sich die Landkarte anzuschauen und die demographischen Daten nachzuprüfen, um verblüfft eingestehen zu müssen, dass sie nicht in der Lage gewesen waren, den winzigen Staat Israel, dessen Bevölkerung damals lediglich 600 000 Einwohner zählte, zu besiegen. Damals konnte man in der arabischen Welt öfter den Begriff "Dolchstoß" hören. Die Schlussfolgerung war klar: Man würde es noch einmal versuchen, mehrfach - sollte es nötig sein.

III. Abschnitt

Solange die arabische Welt davon überzeugt war, dass sie den Staat Israel irgendwann von der nahöstlichen Landkarte herunterfegen würde, bestand keinerlei Möglichkeit, einen Friedensprozess zu initiieren. Waffenstillstände verschiedener Art - Pausen in den Kriegsrunden, um den nächsten Schlag vorzubereiten -, das konnten wir mit den Nachbarn aushandeln, aber keinen endgültigen Frieden, der eine Akzeptanz der Fortdauer des israelischen Staates im Nahen Osten bedeuten sollte. Erst nachdem unsere Nachbarn zur Schlussfolgerung gekommen waren, dass sie sich damit abfinden mussten, mit dem Staat Israel in ihrer Mitte zu leben - und es war Präsident Sadat aus Ägypten, der hier den Anfang gemacht hat -, wurde ein Friedensprozess möglich. Es war also eine Entwicklung über viele Jahre hinweg, die dazu führte, dass sowohl die Bevölkerung als auch die Behörden der arabischen Welt die Unumgänglichkeit einer Koexistenz mit Israel verstanden haben. Und dies musste zu einem Friedensprozess führen - denn von dem Moment an, als die Araber verstanden hatten, dass sie Israel nicht vernichten können, gab es die Alternative einer Verständigung zwischen den Völkern. Man wollte von nun an alle dem jeweiligen Staat zur Verfügung stehenden Mittel der Entwicklung des eigenen Landes widmen und nicht mehr dem unnützen Krieg.

Auch auf israelischer Seite hat eine psychologische Weiterentwicklung stattgefunden. Wie bereits erwähnt, verzichteten die meisten Israelis bei der Staatsgründung auf Teile des als historische Heimat betrachteten Landes, darunter auf Teile des biblischen Kernlandes des jüdischen Volkes, und sie gingen davon aus, dass dieser Verzicht für immer sei. 1967, im Laufe des Sechstagekrieges, eroberte die israelische Armee auch diejenigen Teile des Landes, welche die Bibel als Sitz und Heimat der jüdischen Königreiche darstellt. Nun hatten wir das gesamte historische jüdische Gebiet in unserer Gewalt. Nun, dachten wir, werden wir natürlich nie mehr darauf verzichten. Der Anstoß zur Eroberung dieses Landes war nicht von uns ausgegangen, aber da wir dieses Land nunmehr in unserem Besitz hatten, wollten wir natürlich nie wieder darauf verzichten.

Diese pastorale, historische Vision hatte leider einen Haken. Im biblischen Kernland der alten jüdischen Königreiche lebte 1967 eine andere Bevölkerung. "Was sollen wir tun?" fragten wir uns damals, und wir glaubten, keine Wahl zu haben: Wenn das unser Land ist, dort aber eine andere Bevölkerung lebt, dann müssen wir eben über diese andere Bevölkerung herrschen. Eine derartige Absurdität sagt heute kein Mensch mehr bei uns. Nicht einmal die Rechtsextremisten würden heute behaupten, über eine andere Bevölkerung herrschen zu können oder zu sollen. Wir brauchten viele Jahre der Versuchung, um zu dieser Schlussfolgerung zu kommen, aber wir haben uns verwandelt. Selbst der berühmteste Bannerträger der "Tauben" in der Arbeitspartei, Shimon Peres, der heute mit Arafat den Friedensnobelpreis teilt, war in den siebziger Jahren als Verteidigungsminister derjenige gewesen, der die Siedlungsbewegung im Westjordanland initiiert und die Siedler am meisten unterstützt hatte. Seine persönliche Entwicklung ist typisch für den Großteil der israelischen Bevölkerung.

Unsere Nachbarn - und vor allem die Palästinenser - sind also allmählich zu der Schlussfolgerung gekommen, dass sie sich mit einem Staat Israel abfinden müssen. Und genauso sind wir schrittweise zu der Schlussfolgerung gekommen, dass wir nicht über eine andere Bevölkerung herrschen können und auf Teile des Landes, das die Bibel als unser historisches Kern- und Vaterland beschreibt, verzichten müssen. Erst nachdem wir alle zu der Einsicht gelangt waren, dass wir durch Krieg nichts gewinnen, dass wir durch Krieg nur viel verlieren können, haben wir daraus die Konsequenzen gezogen und den Friedensprozess als unvermeidlich angesehen.

Weil die Probleme mit den Palästinensern im Gegensatz zu denen, die wir mit Ägypten und Jordanien hatten, derartig kompliziert, heikel und brisant sind - weil wir vielfach miteinander verflochten sind -, haben wir 1993 mit den Palästinensern in Oslo vereinbart, gemeinsam einen allmählichen Friedensprozess ins Leben zu rufen. Wir dachten, dass wir, im Gegensatz zu den Verhandlungen mit den Ägyptern und Jordaniern, nicht alle Probleme auf einmal auf den Verhandlungstisch bringen können. Sollten wir das tun, so würden wir von Anfang an alles zunichte machen. Wir dachten, durch die Lösung der weniger komplizierten Probleme - wie z. B. die Frage der Selbstverwaltung im Gazastreifen und in der Stadt Jericho als erster Schritt, und mit weiteren solchen Schritten - allmählich das Misstrauen (um eine Untertreibung zu benutzen) zwischen Israelis und Palästinensern abbauen zu können. So, dachten wir, würden wir es uns in einer späteren Phase leisten können, auch die heikelsten und brisantesten Probleme anzugehen, z. B. die Frage der Siedlungen, Jerusalems oder endgültiger Grenzen. Dies ist uns leider misslungen. Fast seit Anfang des Friedensprozesses mit den Palästinensern haben wir unter Terroranschlägen gelitten, die Hass und Misstrauen natürlich nicht abbauen können - ganz im Gegenteil.

IV. Abschnitt

Ohne die gesamte Geschichte der verschiedenen Phasen des Friedensprozesses zu wiederholen, muss man heute feststellen, dass der Teil der israelischen Bevölkerung, der leidenschaftlich für den Friedensprozess plädiert und aus seiner Überzeugung heraus zu erheblichen Zugeständnissen bereit ist, verwirrt ist und nicht weiß, wie er die Entwicklung der Lage einschätzen soll. Natürlich haben wir seit Anfang des Friedensprozesses Fehler und gelegentlich auch Schlimmeres begangen. Dennoch gab es Zeiten, in denen der Friedensprozess die besten Aussichten hatte. So zum Beispiel Anfang 1996, als Shimon Peres Ministerpräsident war. Damals durften die Palästinenser davon ausgehen, noch nie einen derartig entgegenkommenden Gesprächspartner gehabt zu haben und niemals wieder einen solchen zu bekommen. Doch ausgerechnet in jener Zeit hatten wir unter einer Welle von Terroranschlägen gelitten, wie wahrscheinlich noch nie zuvor. Und das hat Benjamin Nethanjahu an die Macht gebracht.

Im Juni vergangenen Jahres trafen sich Regierungschef Ehud Barak und der Palästinenserführer Jasser Arafat in Camp David. Barak unterbreitete dem palästinensischen Vorsitzenden weit- gehende bzw. unerwartete Zugeständnisse. Barak war sogar bereit, israelische Tabus zu brechen. Er erklärte sich z. B. dazu bereit, auf Teile der Stadt Jerusalem zu verzichten, die Stadt also wieder in zwei Teile aufzuteilen, was bis dahin von allen Israelis, auch von den gemäßigtsten, als Sakrileg betrachtet wurde. Es mag sein, dass diese Zugeständnisse für die Palästinenser unbefriedigend waren; es mag sein, wie man oft behauptet, dass zwischen Arafat und Barak keine Sympathie herrscht. Tatsache bleibt jedoch, dass den Palästinensern neue Möglichkeiten zur Erreichung ihrer Ziele unterbreitet wurden, aber statt einer konstruktiven Erwiderung haben wir heute einen neuen Aufstand.

Wenn auch die Israelis die Frustration der Palästinenser verstehen können, weil diese sieben Jahre nach dem Beginn des Friedensprozesses noch immer würdelos im Elend leben, noch immer keinen palästinensischen Staat haben - so können sie doch nicht verstehen, dass die Frustration, diese Wut und dieser Hass offenbar ausgerechnet stets dann ausbrechen, wenn die Chancen für die Palästinenser bei uns am besten stehen. Dies war auch insofern umso erstaunlicher, da die Palästinenser doch wussten, dass die Alternative zum Gesprächspartner Barak wieder eine härtere Regierung sein würde - genau wie 1996.

Die Intifada ist eine furchtbare Tragödie, vor allem eine Tragödie für die Palästinenser. Jugendliche, die aus tiefster Überzeugung heraus die israelischen Soldaten angreifen, müssen leider damit rechnen, dass die angegriffenen Soldaten mit den Mitteln zurückschlagen, die ihnen zur Verfügung stehen. Die Soldaten verfügen über Waffen, auch über schwere Waffen, wenn auch die Israelis die Hauptmacht ihrer Streitkräfte vorerst bei weitem nicht eingesetzt haben. Die Jugendlichen haben meistens keine Waffen. Ob die Soldaten wirklich immer nur dann schießen, wenn ihr Leben in Gefahr ist, ob sie nicht gelegentlich zu weit gehen, das weiß ich nicht. Eines weiß ich - der eigentliche Verbrecher ist der Krieg. Wenn Krieg herrscht, dann verlieren die Menschen auf beiden Seiten sehr oft viel mehr als nur ihre Zurückhaltung - sie werden brutalisiert. Aus dem Krieg entstehen Tragödien. Die Frage ist, wie beendet man den Krieg? Wie kommt man zurück an den Verhandlungstisch?

Eines ist klar: Die Palästinenser werden ihr Ziel, einen lebensfähigen Palästinenserstaat, nicht durch Gewaltanwendung erreichen. Gewalt schafft für sie immer nur mehr Tragödien und Leid, ohne sie einen Schritt näher ans Ziel zu bringen. Und die meisten Israelis wissen wiederum, dass sie den natürlichen Wunsch der Palästinenser, in Würde und Unabhängigkeit zu leben, durch Gewalt nicht verhindern können.

V. Abschnitt

Die Wahlen in Israel vom 6. Februar dieses Jahres können den Eindruck erwecken, als würden sie die Unumkehrbarkeit des Friedensprozesses widerlegen. Der neue Ministerpräsident, der mit der größten Mehrheit in der Geschichte des Staates Israel gewählt worden ist, ist nicht nur als militärischer Hardliner bekannt, sondern auch als politischer Gegner eines jeden Friedensprozesses im Nahen Osten seit dem Besuch des ägyptischen Präsidenten Sadat im Jahr 1977. Sollte dieses Wahlergebnis den angeblichen Widerstand der israelischen Bevölkerung gegen jeglichen Friedensprozess zum Ausdruck gebracht haben? Das könnte man der Wahl entnehmen, hätten die Meinungsumfragen, die den Wahlsieg Sharons ziemlich genau vorhersagten, nicht auch zur gleichen Zeit den klaren Willen der Mehrheit der israelischen Bevölkerung zum Friedensprozess mit den Palästinensern zum Ausdruck gebracht wie auch ihre Bereitschaft zu Zugeständnissen. Das ist jedoch nicht unbedingt ein Widerspruch.

Die Israelis hatten nicht die ausdrückliche Absicht, Sharon zu wählen. Was sie wirklich im Sinne hatten, war die Abwahl Baraks, der sie enttäuscht hat. Barak hatte vieles versprochen, und was immer er versprochen hat, war durchaus nicht vage. Er hatte klare Termine für einen endgültigen Frieden mit Syrien gesetzt, Termine für das Ende der Auseinandersetzungen mit den Palästinensern und innenpolitisch sogar beharrlich eine umfassende "zivile Revolution", d. h. die Trennung von Staat und Religion, versprochen. Obwohl sich bald herausstellte, dass die vielen Versprechungen und Absichten des neuen Ministerpräsidenten unerfüllt bleiben würden und die Termine, die er gesetzt hatte, nicht zu realisieren waren, blieb Ehud Barak bei seinen Versprechungen. Die Enttäuschung war daher so tief, wie die an ihn gestellten Erwartungen hoch waren. Eine verbitterte Bevölkerung wollte den Mann, der sie enttäuscht hatte, abwählen, aber nicht unbedingt seine Friedensstrategie.

Der neue Ministerpräsident kennt diese Analyse der Meinungen seitens der israelischen Bevölkerung und deren Stimmung ganz genau. Er muss sie wahrnehmen, um nicht - wie sein Vorgänger - in die Tiefen der Enttäuschung zu geraten. Er muss sie umso mehr zur Kenntnis nehmen, da er weiß, dass er mit seinen ihm politisch-ideologisch nahe stehenden Partnern allein keine lebensfähige und glaubwürdige Koalition bilden kann, mit der er auch zu regieren in der Lage sein wird. Zwei Tage vor den Wahlen veröffentlichte Sharons Parteigenosse, der ehemalige Ministerpräsident Benjamin Nethanjahu, einen Artikel in einer Zeitung, in dem er prophezeite, dass Sharon die Wahlen gewinnen werde - was alle ja auch wussten -, aber auch, dass er nicht länger als höchstens vier Monate im Amt bleiben werde. Dann, sagte Nethanjahu voraus, werde seine zerbrechliche Koalition zerfallen und vorgezogene Wahlen - diesmal auch Parlamentswahlen - würden unvermeidlich sein. Natürlich ging Nethanjahu davon aus, dass unter solchen Umständen er der nächste Regierungschef sein wird. Diese Analyse kennt Sharon auch, und infolgedessen hat er sich so sehr bemüht, mit der Arbeitspartei eine große Koalition zu bilden. In der Tat ist er also auf die Partnerschaft mit der Arbeitspartei angewiesen, und das weiß natürlich auch die Arbeitspartei.

In dieser großen Koalition hat also die Arbeitspartei die Macht und Mittel, die Politik zu beeinflussen, und dennoch ist sie nicht die Hauptmacht der Koalition. Gegenüber dem Likud mit allen seinen Partnern aus dem rechten Lager ist sie lediglich eine Minderheit - wenn auch eine große Minderheit -, ganz abgesehen davon, dass der Regierungschef nicht aus ihrem Lager kommt.

Diese Gegensätze innerhalb der Koalition könnten a priori zu einer Stagnation in der israelischen Politik führen. In der unberechenbaren, sich rasch verändernden und höchst gefährlichen Situation des Nahen Ostens ist aber eine solche Stagnation nicht möglich. Aus den Gegensätzen heraus wird die Strategie eines Friedensprozesses entstehen, mit der sowohl Sharon als auch Peres - der Spitzenvertreter der Arbeitspartei in der Koalition - sich abfinden müssen.

Einerseits wird es keine Fortsetzung der Barak-Friedensstrategie geben. Barak war zu den größten Zugeständnissen bereit. Die amerikanischen Vermittler Clinton und Albright behaupteten, dass die Konzessionen, die er dem Palästinenserführer Arafat unterbreitet hat und die für die Israelis auf jeden Fall verblüffend und unerwartet waren, Barak als unerbittlichen und mutigen Friedensstifter ausgewiesen haben. Dadurch, dass Arafat Baraks Angebote wie auch den späteren Plan Clintons nicht einmal als Ansatzpunkt für weitere Verhandlungen aufnahm, sondern dass anstatt weiterer Verhandlungen die El-Aksa-Intifada ausbrach, haben die Palästinenser die Barak-Strategie - zumindest vorübergehend - zunichte gemacht. Wenn man dennoch den Friedensprozess unter solchen Umständen fortsetzen will, dann nur unter den Bedingungen, die nach den 1993 in Oslo erzielten Vereinbarungen geherrscht haben. Man wird nämlich den alten, allmählichen Friedensprozess wieder beleben müssen, mit der Absicht, schrittweise kleine Fortschritte zu erzielen, die schwierigsten und heikelsten Probleme vorübergehend auszuklammern und auf bessere Zeiten zu hoffen.

Das aber entspricht den Meinungen und Vorstellungen des Ministerpräsidenten Sharon nicht. Letztlich bedeuten auch kleine Schritte irgendwelche Zugeständnisse bzw. die Räumung von - wenn auch nur wenigen - Siedlungen. Gleichwohl hat Sharon in der Vergangenheit bewiesen, dass er sich einer Realität anpassen kann, sei sie ihm auch noch so unangenehm. Sharon war es, der die von Begin bestimmte Friedenspolitik gegenüber Ägypten in die Tat umgesetzt hat - dadurch, dass er die Siedlungen in den besetzten ägyptischen Gebieten geräumt hat.

VI. Abschnitt

Sollten aber die Palästinenser eine solche Politik der kleinen Schritte hinnehmen, sollten sie die Lage beruhigen und mühsam und allmählich um kleine Fortschritte verhandeln wollen, dann könnte man tatsächlich auf bessere Zeiten hoffen und auf jeden Fall die Kriegsgefahr, die heute über dem Nahen Osten schwebt, beseitigen. Sind die Palästinenser dazu fähig? Ein Mann wie Shimon Peres wird in der Sharon-Koalition alles tun, um nicht nur seinen Regierungschef, sondern auch die Palästinenser zur Annahme einer solchen Verhandlungsstrategie zu bewegen. Und dennoch - obwohl die Palästinenser ganz genau wissen, was die Alternative zu diesem unbefriedigenden Friedensprozess sein könnte - ist es überaus fraglich, ob sie den allmählichen Friedensprozess hinnehmen wollen, und vor allem, ob sie ihn hinnehmen können. Psychologisch ist es immer schwer, auf große Gewinne wahrscheinlich noch jahrelang verzichten zu müssen, nachdem man sie schon beinahe in der Hand gehalten hat. Die Hauptfrage besteht aber nicht darin, inwieweit die palästinensischen Spitzenpolitiker die neue Realität wahrnehmen und sich Vernunft leisten können. Bei Ausbruch der neuen Intifada, bzw. schon vorher, ist es klar geworden, dass die Palästinenserführung in den Reihen ihrer Bevölkerung an Ansehen und Autorität verliert. Jetzt, nach Monaten von Tragödien und nach der gravierenden Verschlechterung der Lebensbedingungen der Palästinenser, sieht es mehr denn je so aus, als hätten im palästinensischen Lager die Emotionen bei weitem die Oberhand gewonnen. Wohin soll das uns führen?

Der Druck kommt nicht nur aus dem Lager der Palästinenser. Auch in den Nachbarstaaten laufen die Emotionen auf hohen Touren. Fundamentalisten, besonders in dem chaotischen Staat Libanon, können das nahöstliche Pulverfass anzünden, und das werden sie auch anstreben.

Weder ein bescheidener, allmählicher Friedensprozess noch ein allgemeiner Krieg im Nahen Osten werden die Lösung des nahöstlichen Konflikts sein. Ein allmählicher Friedensprozess wird die endgültigen Regelungen nur aufschieben - und ein Krieg wird uns allen zahllose weitere Tragödien und Zerstörungen verursachen, doch grundsätzlich wird er die Lage nicht ändern. Mit Blut und Tränen werden wir hinterher abermals vor der gleichen Situation, vor den gleichen Problemen stehen wie heute. Es mag sein, dass die Bevölkerungen des Nahen Ostens zu ihrem Unglück noch mehr leiden müssen, um die Realität wahrzunehmen. Am Ende werden doch alle verstehen müssen, dass sie keine Alternative zum Friedensprozess haben, dass im alten britischen Palästina zwei unabhängige, durch enge Kooperation miteinander verbundene Staaten existieren werden.

geb. 1935 in Tel Aviv; seit 1960 im diplomatischen Dienst; 1993-1999 Botschafter des Staates Israel in der Bundesrepublik Deutschland; seit 1999 Vizepräsident der Universität Tel Aviv; Berater des ehemaligen Ministers für Regionale Zusammenarbeit, Shimon Peres; Berater des seinerzeitigen Ministerpräsidenten Ehud Barak in europäischen Angelegenheiten.

Anschrift: University of Tel Aviv, Tel Aviv 69978.

Veröffentlichungen u. a.: ". . . mit Ausnahme Deutschlands", Berlin 1997; Europa, Israel und der Nahe Osten, Düsseldorf 1998; Le Triangle des Passions, Paris 2000.