Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Türkei zu Beginn der EU-Beitrittspartnerschaft | Südosteuropa -Türkei - Naher Osten | bpb.de

Südosteuropa -Türkei - Naher Osten Editorial Welche Zukunft hat der Friedensprozess im Nahen Osten? Der Stabilitätspakt für Südosteuropa Die "großen Fragen" in Südosteuropa Die Türkei zu Beginn der EU-Beitrittspartnerschaft

Die Türkei zu Beginn der EU-Beitrittspartnerschaft Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Wandel

Faruk Sen

/ 32 Minuten zu lesen

Seit dem EU-Gipfel in Helsinki im Dezember 1999 ist die Türkei Beitrittskandidat für die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union. Mittlerweile wurde mit der Türkei ebenso der Vertrag über die Beitrittspartnerschaft unterzeichnet

Einleitung

Seit dem EU-Gipfeltreffen in Helsinki am 11. Dezember 1999 ist eine Wiederbelebung in den Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union eingetreten. Auf diesem Gipfel wurde die Türkei als Beitrittskandidat für die EU benannt und somit das korrigiert, was ihr auf dem Luxemburger EU-Gipfel zwei Jahre zuvor im Dezember 1997 verwehrt worden war. Nunmehr hat sich die Türkei in die Pflicht nehmen lassen, tief greifende Reformen zu vollziehen - Reformen, welche die Annäherung und Angleichung an die EU-Normen betreffen, die zu erfüllenden Voraussetzungen für die Vollmitgliedschaft. Der Annäherungsprozess ist durch die Unterzeichnung der Beitrittspartnerschaft auf dem Gipfel in Nizza am 7. Dezember 2000 nunmehr in eine neue Phase getreten, in der die Türkei zügig und entschlossen das Reformwerk vollziehen muss.

Der Beschluss von Helsinki ist für die EU-Türkei-Beziehungen als Wendepunkt zu sehen, denn er hat dem seit 1963 assoziierten Mitglied der Gemeinschaft die konkrete Option für die Vollmitgliedschaft explizit in Aussicht gestellt. Die Türkei hatte bereits am 14. April 1987 einen Antrag auf Vollmitgliedschaft gestellt, der jedoch vom EG-Ministerrat am 5. Februar 1990 negativ beschieden wurde. Als Grund wurde genannt, die EG könne aufgrund der bevorstehenden Realisierung des Binnenmarktes zunächst keine weiteren Beitrittsverhandlungen aufnehmen . Für Unzufriedenheit auf türkischer Seite sorgte, dass die Zahlung der Finanzhilfen, die 1981 festgelegt worden waren, insbesondere durch das Veto Griechenlands nicht erfolgten. Der Annäherungsprozess wurde jedoch fortgesetzt. Die bereits 1990 anvisierte Zollunion wurde am 6. März 1995 vertraglich festgelegt und am 13. Dezember 1995 vom Europäischen Parlament bestätigt, so dass sie am 1. Januar 1996 in Kraft treten konnte .

Trotz dieser substantiellen Fortschritte wurde die Türkei aus dem Erweiterungsprozess quasi ausgeschlossen, denn ihr wurde die Benennung als Beitrittskandidat verwehrt. Die Ausgrenzung führte zu politischer Missstimmung zwischen der Türkei und der EU, die während und nach dem Luxemburger Gipfel sogar zu einer Krise führte. Die politische Führung der Türkei beschloss, aufgrund der Ungleichbehandlung den politischen Dialog mit der EU abzubrechen, und blieb bei dieser Entscheidung derart konsequent, dass sie sich auch nicht auf eine eigens für sie konstruierte Form der EU-Konferenz einließ, an der sie mit einem Sonderstatus teilnehmen sollte. Um die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU sowie die Zollunion zu vertiefen, ließ die EU-Kommission eine "Europäische Strategie für die Türkei" vorbereiten. Sie sah vor allem die Intensivierung der Beziehungen in verschiedenen Wirtschaftssektoren vor.

Mit der Benennung der Türkei als EU-Beitrittskandidat auf dem Gipfel in Helsinki am 10./11. Dezember 1999 brach in der Türkei eine EU-Euphorie aus. Sowohl die politischen Akteure und die Medien als auch große Teile der Gesellschaft wurden hiervon erfasst. Die Anerkennung als Beitrittskandidat sei ein "historisches Ereignis", wie sich Ministerpräsident Ecevit äußerte . Es begann eine lebhafte Diskussion darüber, wann die angestrebte Vollmitgliedschaft erreicht werden könnte und welche Reformen vollzogen werden müssten, um die Türkei an die EU-Standards heranzuführen. Kurz nach der Verkündung des Beschlusses äußerte Ministerpräsident Ecevit die sehr optimistische Erwartung, dass die Türkei bereits im Jahr 2004 Mitglied werden könnte. Realistischer war die Prognose des Senders CNN Türk, der davon ausging, dass die Türkei spätestens 2015 Mitglied der EU sein könnte.

In der Türkei herrscht - obwohl die Diskussion um die Mitgliedschaft inzwischen nüchterner geführt wird - ein breiter Konsens darüber, dass die Vollmitgliedschaft zielstrebig anvisiert werden soll. Die Befürwortung der Mitgliedschaft hat sogar politische Kräfte erfasst, die sich zuvor dagegen ausgesprochen hatten oder bei denen man dies nicht vermutet hätte. Zu nennen sind hierunter islamisch orientierte Kräfte wie die Tugend-Partei (Fazilet) oder auch ethnopolitisch orientierte Kurden, die hoffen, durch die Liberalisierung des politischen Systems sich offener politisch einbringen zu können. Auch ein sehr großer Teil der Bevölkerung ist der möglichen Mitgliedschaft gegenüber positiv eingestellt. Man ist sich auch dessen bewusst, dass hierzu zahlreiche Reformen vollzogen werden müssen. Neueren Umfragen zufolge unterstützen 69 Prozent der Bürger eine EU-Mitgliedschaft, nur 10 Prozent stehen ihr ablehnend gegenüber . Die Beitrittsperspektive hat generell die Reformbereitschaft der Regierung gestärkt. Ein Beispiel hierfür sind zwei UN-Abkommen, welche die Türkei am 15. August 2000 in New York unterzeichnete. Es handelt sich um das Abkommen über bürgerliche und politische Rechte und das Abkommen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Durch sie werden bürgerliche Grundrechte, Schutzmaßnahmen gegen Übergriffe und Folter, Gewissens- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf Arbeit, die Gründung von Gewerkschaften, Rechte im Bereich der sozialen Sicherheit, Bildung und Kultur von den Unterzeichnern garantiert .

Gipfeltreffen in Nizza und Beitrittspartnerschaft

Die Heranführung der Türkei an die EU befindet sich seit kurzem in einer neuen und nunmehr entscheidenden Phase. Während des letzten EU-Gipfels in Nizza wurde der Vertrag über die Beitrittspartnerschaft mit der Türkei unterzeichnet. In ihm sind alle Punkte aufgeführt, die die Türkei in den kommenden Jahren zur Heranführung an die EU-Normen zu erfüllen hat. Sie umfassen sowohl die wirtschaftlichen als auch politischen EU-Kriterien von Kopenhagen. Im Vorfeld des Gipfeltreffens sorgten allerdings einzelne Punkte des am 8. November 2000 vorgelegten Entwurfs der EU-Kommission für die Beitrittspartnerschaft für Missstimmung auf türkischer Seite, da sie Themen betrafen, die im Helsinki-Gipfeldokument anders verhandelt worden waren. Dies gilt insbesondere für die griechisch-türkischen Problembereiche sowie den Zypern-Konflikt. Auf Betreiben Griechenlands war die Lösung dieser Probleme als kurzfristiges Ziel im Rahmen der politischen Aufgaben der Kopenhagener Kriterien in den Entwurf aufgenommen worden. Diese Punkte wurden neu verhandelt, und es wurden Formulierungen gefunden, die von beiden Seiten als akzeptabel angesehen wurden. So konnte verhindert werden, dass es beim Gipfeltreffen zu einem Eklat kam, denn eine einseitige Aufbürdung der Last der Problemlösung in den genannten Bereichen wäre für die Türkei unakzeptabel gewesen. In dem Entwurf der Kommission waren insgesamt 112 Punkte aufgelistet, welche die Durchführung politischer, wirtschaftlicher und institutioneller Reformen umfassten . Der türkische Außenminister Ismail Cem artikulierte nach Unterzeichnung des Vertrages seine Einschätzung mit der Formulierung, dieser sei zwar hinter den türkischen Erwartungen geblieben, aber man sei insoweit damit zufrieden, dass Fehler vermieden werden seien .

Im Vorfeld des EU-Gipfeltreffens in Nizza herrschte bei den politischen Akteuren in der Türkei die Sorge, dass im Rahmen der Beitrittspartnerschaft Reformen gefordert werden könnten, die den Interessen der Türkei Schaden zufügen. Kundgetan wurde dies u. a. auch durch den türkischen Generalstab, der während des Gipfeltreffens eine Erklärung veröffentlichte, in der auf die Gefahr einer Ermunterung separatistischer Kräfte wie der PKK durch entsprechende Formulierungen im Vertrag über die Beitrittspartnerschaft hingewiesen wurde. Ministerpräsident Ecevit versuchte in seinen Statements auf die auch für die EU wichtige geostrategische Lage der Türkei und ihre Beziehungen zu den Ländern Zentralasiens, des Kaukasus und des Nahen Ostens hinzuweisen. Die wenige Tage vor dem Gipfel von Nizza von den EU-Außenministern ausgehandelte Beitrittspartnerschaft hat nun einen Fahrplan für die Annäherung der Türkei an die EU festgelegt, bei dem die aus türkischer Sicht nicht erfüllbaren Vorleistungen ausgeklammert blieben. Dies wurde von den türkischen Medien als Erfolg diplomatischer Bemühungen hervorgehoben . So wurden die Streitfragen zwischen den beiden NATO-Mitgliedern Türkei und Griechenland in Nizza nicht angesprochen. Auch die Wortwahl der EU bezüglich der Minderheiten in der Türkei stieß auf allgemeine Zufriedenheit bei der türkischen Regierung. In der Türkei leben - als Erbe des Osmanischen Reiches - Angehörige und Nachfahren von 47 ethnischen bzw. religiös-konfessionellen Gruppen . Für erneute Verwirrung sorgten allerdings die Beschlüsse des Gipfels in Nizza, denn im Erweiterungsfahrplan der EU bis zum Jahre 2010 bleibt die Türkei ungenannt. Die Türkei erwartet, dass dies während der Ratspräsidentschaft Schwedens korrigiert wird. Der stellvertretende Ministerpräsident Mesut Yilmaz, zuständiger Minister für EU-Fragen, hat die diesbezügliche Erwartung bereits der schwedischen Außenministerin Anna Lindh übermittelt .

Fortsetzung des Annäherungsprozesses

Mit Beginn der Beitrittspartnerschaft auf der Grundlage des unterzeichneten Vertrages ist eine Intensivierung der Bemühungen um die Annäherung an die EU-Normen zu erwarten. Hierbei kommt sowohl den wirtschaftlichen als auch den politischen Kriterien eine große Bedeutung zu. Die Türkei hat in beiden Bereichen große Schritte zu vollziehen. Die Rahmenbedingungen für eine Intensivierung des Reformprogramms sind nunmehr gegeben. Bereits im vergangenen Jahr wurde als institutioneller Schritt die Gründung des EU-Generalsekretariats vollzogen, das von dem erfahrenen Diplomaten Volkan Vural geleitet wird. Neben seiner langjährigen Botschaftertätigkeit in Moskau war er zwischen 1995 und 1998 türkischer Botschafter in Bonn. Das Sekretariat bildet eine Koordinierungsinstanz zur Heranführung an die EU. Es soll in der Türkei den Reformbedarf im rechtlichen, wirtschaftlichen, politischen und administrativen Bereich anzeigen und auf die entsprechenden Änderungen hinwirken.

Derzeit ist die türkische Regierung darum bemüht, einen Konsens beim nationalen Programm zur Heranführung zu finden. In vielen Punkten ist dies bereits geschehen, auch in einigen umstrittenen. Hinsichtlich anderer Muttersprachen als des Türkischen hat man sich auf die Kompromissformel verständigen können, dass ihr öffentlicher Gebrauch gestattet wird. Die explizite Benennung des Kurdischen wurde zwar vermieden, aber hierbei ist zu bedenken, dass es in der Türkei auch zahlreiche andere Minderheitensprachen gibt. In der Frage der Todesstrafe ist man sich über die Abschaffung einig, strittig ist bislang der Zeitpunkt. Die Regierung hat sich, auch auf Empfehlung des EU-Kommissars Verheugen, keine Frist für die Vorlage des nationalen Programms zur Heranführung an die EU gesetzt, denn der Prozess der Konsensfindung bei den politischen Entscheidungsträgern ist bislang noch nicht abgeschlossen.

Die Haltung der Parteien zur EU - Mitgliedschaft

Das Ziel der Vollmitgliedschaft wird von allen Parteien unterstützt, die derzeit an der Koalitionsregierung beteiligt sind. Die Einhelligkeit hierbei wird jedoch in dem Punkte getrübt, wo es um einzelne konkret umzusetzende Reformen geht. Grundsätzlich streben sowohl die Partei der Demokratischen Linken (Demokratik Sol Parti - DSP) unter Ministerpräsident Bülent Ecevit, als auch die Mutterlandspartei (Anavatan Partisi - Anap) unter Mesut Yilmaz und die Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi - MHP) unter Devlet Bahçeli die Vollmitgliedschaft an. Unterschiede und Uneinhelligkeiten bestehen jedoch bei einigen Reformen, die zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien vollzogen werden müssen. Überlagert wird das Ziel bei allen Regierungsparteien - in unterschiedlicher Intensität - von der Sorge, dass bei einer Mitgliedschaft der Türkei die nationale Souveränität verloren gehen könnte.

Die Koalitionspartei, die die Frage der EU-Mitgliedschaft und die hierbei zu vollziehenden Reformen am offensivsten angeht, ist die Mutterlandspartei Anap. In der Anap ist es nicht allein Mesut Yilmaz, der Vorsitzende und stellvertretende Ministerpräsident, der bei Parteiveranstaltungen landesweit für die Mitgliedschaft wirbt und auf den Reformbedarf hinweist. Er war es, der vor einiger Zeit das politische Diktum aussprach, der Weg in die EU führe über die südostanatolische Stadt Diyarbakir. Hiermit wollte er zum Ausdruck bringen, dass für die Vollmitgliedschaft Reformen - vor allem bezogen auf den Südosten des Landes - essentiell sind. Es ist auch kein Zufall, dass er im August vergangenen Jahres zum ständigen Minister für EU-Fragen ernannt wurde.

Bei der Hauptregierungspartei, der DSP unter Ministerpräsident Bülent Ecevit, sind zwei Richtungen festzustellen, die miteinander ringen. Zum einen befürwortet die Partei eindeutig die Vollmitgliedschaft, zum anderen ringt sie mit sich, welche der Reformen zur Annäherung vollzogen werden können, ohne die Souveränität des Staates zu gefährden. Auch in der Frage der Liberalisierung ist sie - beispielsweise, was die Verwendung anderer Muttersprachen anbelangt - nach wie vor von Konservatismus geprägt. Beispiele für die zwei Pole innerhalb der Partei sind der Außenminister Ismail Cem sowie der Staatsminister Sükrü Sina Gürel. Während Ismail Cem eine liberale Position vertritt, versucht Letzterer, vermeintlichen Fehlern vorzubeugen.

Unter den Koalitionären ist die MHP die Partei, die hinsichtlich der Heranführung an die EU-Normen die größten Bedenken hat. Bei einigen Mitgliedern artikuliert sich dies sogar in Form von Ablehnung, falls die EU auf die Umsetzung bestimmter Reformen drängen sollte. Auch im Falle der MHP ist die Frage der Politik gegenüber Minderheiten diejenige, die für die größten Widerstände sorgt. So verfasste der stellvertretende Vorsitzende Bülent Yahnici einen offenen Brief, in dem er mutmaßt, die EU habe sich das Anliegen der PKK zu Eigen gemacht, die Türkei zu spalten . Ein Punkt, in dem sie von beiden Koalitionspartnern abweicht, ist die Frage der Todesstrafe. Grundsätzlich ist auch die MHP bereit, die Todesstrafe abzuschaffen, nur melden sich immer wieder Parteimitglieder, die auf die Vollstreckung der Todesstrafe bei Abdullah Öcalan, dem verurteilten PKK-Chef, nicht verzichten wollen. Erst danach solle die Todesstrafe beseitigt werden. Dieses absurde Dilemma, in das die MHP geraten ist, ist vor dem Hintergrund ihres politischen Aufstiegs zu sehen. Ihr überraschender Erfolg bei den letzten Parlamentswahlen erklärt sich vor dem Hintergrund der gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der PKK, der ihr den Stimmenzuwachs verschaffte, da sie ein härteres und konsequenteres Vorgehen propagierte. Nun steckt sie in der Situation, der eigenen Basis und Wählerschaft diesen Reformschritt vermitteln zu müssen und dabei gleichzeitig zu wissen, dass es der EU nicht glaubwürdig vermittelt werden kann, die Todesstrafe vor ihrer Abschaffung noch ein letztes Mal anzuwenden. Hierbei ist zudem zu bedenken, dass die Todesstrafe zwar gesetzlich noch möglich ist, faktisch aber seit 1983 nicht mehr vollstreckt wird.

Der neue Staatspräsident - Garant für die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit

Hoffnung auf die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit macht der neue Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer. Er löste im Mai 2000 den altgedienten Staatsmann Süleyman Demirel ab . Sezers Benennung als Kandidat für das Amt des Staatspräsidenten kam überraschend, denn für dieses Amt war er nie im Gespräch gewesen, da er auch nie aktiv in der Politik tätig war. Bis zu seiner Wahl war er Vorsitzender des Verfassungsgerichtes, und in diesem Amt fiel er als Verfechter einer konsequenten Rechtsstaatlichkeit auf. Er erhielt im Parlament 330 von 533 Stimmen insgesamt . Noch überraschender als die Wahl in das Amt selber war für viele sein politisches Auftreten. Hierunter ist nicht allein sein nach außen dokumentierter bewusster Verzicht auf Privilegien im Amt zu verstehen. Dies verschaffte ihm jedoch in der Bevölkerung große Sympathie. Politisch bedeutsamer war sein Auftreten gegenüber den politischen Entscheidungsträgern, die ihn für das Amt ausgewählt hatten. Bereits im August kam es zu einer ersten Krise zwischen der Regierung und dem neuen Staatspräsidenten, als sich Sezer weigerte, einen Regierungsbeschluss mit Gesetzeskraft zu unterzeichnen, damit dieser Gültigkeit erlangen konnte. Die Initiative betraf die Entlassung von Beamten aus dem Staatsdienst im Falle separatistischer oder islamistischer Betätigung. Bereits unter den vorherigen Regierungen wurden hierzu Gesetzesentwürfe vorbereitet, für die sich im Parlament jedoch keine Mehrheit finden ließ. Vor demselben Problem stand auch die jetzige Regierung. Dies bewog sie dazu, anstelle eines Gesetzes auf einen "Beschluss mit Gesetzeskraft" auszuweichen, der nicht dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt werden muss. Jedoch musste er vom Staatspräsidenten unterzeichnet werden; dieser weigerte sich jedoch und schickte den Beschluss an die Regierung zurück. Hieraus entwickelte sich in der Staatsführung eine Krise, da die Regierung den Beschluss unverändert ein zweites Mal vorlegte und Sezer ihn im September erneut zurückwies .

Seine Haltung in dieser Frage bekräftigte Sezer bei einer Rede anlässlich der Eröffnung des Parlaments nach der Sommerpause am 1. Oktober 2000. Er argumentierte, dass die Ausweitung der Verabschiedung von Beschlüssen anstelle ordentlicher Gesetze im Widerspruch zur Verfassung stünde, da sie zu einer Schwächung der Legislative gegenüber der Exekutive führe. Mit seiner Haltung wollte er nicht den Ministerrat in seiner Arbeit behindern, sondern für die Einhaltung der Verfassungsprinzipien und der Rechtsstaatlichkeit Sorge tragen. Auch dies musste von der Regierung als erneute Kritik aufgefasst werden . Durch seine konsequente Haltung, die auch den Konflikt mit der Regierung nicht scheut, hat Sezer unter Beweis stellen können, dass er in diesem Amt seinen Beitrag dazu leisten wird, dass sich die Verfassungsmäßigkeit der Staatsführung und die Rechtsstaatlichkeit als Prinzip durchsetzen. Bemerkenswert ist auch seine Einstellung, dass die Reform der Verfassung und die Einführung universal gültiger Rechtsnormen nicht vorrangig mit Blick auf die EU, sondern mit Blick auf die Verbesserung der Situation der eigenen Nation vollzogen werden sollten.

Zu einer zweiten Krise zwischen dem Staatspräsidenten und der Regierung kam es im Dezember, als sich Sezer weigerte, das Amnestie-Gesetz zu unterzeichnen, da es dem Gleichheitsgrundsatz der Verfassung nicht entspreche . Im zweiten Anlauf der Regierung signierte er den Gesetzesentwurf am 21. Dezember 2000, da er dies laut entsprechender Verfassungsbestimmung tun musste.

Die wirtschaftliche Situation

Eine weitere zu erfüllende Voraussetzung auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft in der EU ist die Etablierung einer stabilen, an marktwirtschaftlichen Prinzipien orientierten Wirtschaft. Die türkische Wirtschaft zeigt insgesamt ein dynamisches Profil, d. h., in einer Längsschnittbetrachtung ist erkennbar, dass sie sich in den vergangenen Jahren insgesamt positiv entwickelt hat und kontinuierliche Wachstumsraten vorweisen kann. Dennoch wird dieses insgesamt positive Bild von strukturellen Problemen, Misswirtschaft und zu erwartenden wie auch unerwarteten Krisen getrübt.

Zu einem strukturellen Problem hat sich in den vergangenen Jahrzehnten der staatliche Sektor entwickelt. Der Etatismus der dreißiger Jahre, der die ausgebliebene und auf privatwirtschaftlicher Basis unzureichend erfolgende Industrialisierung durch staatliche Initiative vorantreiben sollte, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr zu einer Belastung für den Staatshaushalt entwickelt, da diese Betriebe in vielen Fällen nicht nach marktwirtschaftlichen Kriterien funktionierten. Um diese Betriebe dennoch am Leben zu erhalten, musste und muss der Staat diese teilweise noch immer subventionieren. Um dem Staatshaushalt zu einer Gesundung zu verhelfen, wird seit der Özal-Ära in den achtziger Jahren mit mäßigem Erfolg eine Politik der Privatisierung betrieben. In vielen Fällen konnte die Überführung der Unternehmen in privatwirtschaftliche Hände erfolgreich und für den Fiskus Gewinn bringend erfolgen. Von den 1985 auf die Privatisierungsliste gesetzten 218 Unternehmen wurden bislang bei 143 sämtliche Anteile des Staates verkauft. Zwischen 1986 und Juli 2000 brachte die Privatisierung dem Staat Einnahmen in Höhe von 6,8 Milliarden Dollar, bis Januar 2001 erhöhten sie sich auf 7,3 Milliarden Dollar . Das Portefeuille der Unternehmen, deren staatliche Anteile verkauft werden sollen, umfasst insgesamt noch 54 Betriebe . Anfang Dezember 2000 verkündete Ecevit, dass 51 Prozent der Anteile der staatlichen Fluggesellschaft Turkish Airlines und 33,5 Prozent der Anteile der Türk Telekom verkauft werden sollen .

Die letztgenannten Beispiele für die Privatisierung sind vor dem Hintergrund des Bankenskandals und der durch ihn hervorgerufenen Liquiditätskrise zu sehen. Die Überschuldung bei zahlreichen Privatbanken sowie Korruptionsfälle hatten zur staatlichen Intervention in der Weise geführt, dass diese Institute unter Zwangsverwaltung gestellt wurden. In den Bankenskandal waren auch Verwandte von politischen Entscheidungsträgern verwickelt, wie beispielsweise der Neffe des vorherigen Staatspräsidenten Demirel. Die Regierung sah sich gezwungen zu intervenieren, wofür ein großer Teil der Devisenreserven - 13 Milliarden DM - geopfert werden musste. Zur Überwindung der Liquiditätskrise wurde mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) im Dezember 2000 eine weitere Finanzhilfe in Form eines Kredites in Höhe von zehn Milliarden US-Dollar (22,2 Milliarden DM) ausgehandelt. Es sind nicht allein fahrlässige Methoden und Machenschaften im privaten Bankensektor, die zu einem fiskalischen Problem des Staates werden können. Die Liquiditätskrise entstand durch die Kapitalflucht nationaler Anleger, die im Ausland Konten unterhalten, um ihr Kapital notfalls in Sicherheit zu bringen. Durch den Stabilitätspakt des IWF sollte vor allem eine Flucht ausländischer Anleger verhindert werden. Experten weisen darauf hin, dass nicht nur eine grundlegende Bankenreform vollzogen werden muss, um Krisen dieser Art verhindern zu können, sondern eine grundsätzliche Reform erfolgen muss, zu der die alte Machtelite nicht in der Lage scheint .

Bestätigt wurde diese negative Einschätzung durch eine weitere Finanzkrise Mitte Februar 2001, die noch drastischere Konsequenzen nach sich zog. Die türkische Lira musste um 40 Prozent abgewertet werden, um den Liquiditätsschwierigkeiten begegnen können. Erneut reisten Vertreter des IWF in die Türkei, um mit Vertretern der Regierung weitere Finanzhilfen auszuhandeln. Die aktuelle Wirtschaftkrise ist auch vor dem Hintergrund der politischen Krise in der Staatsführung zu sehen, bei der es erneut zu einer Polarisierung zwischen dem Staatspräsidenten Sezer und der Regierung kam. Sie führte bei der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates am 19. Februar zu einem Eklat, als es zwischen dem Staatspräsidenten, der ein entschiedenes Vorgehen gegen Misswirtschaft und Korruption forderte, und dem Ministerpräsidenten Ecevit zu einer verbalen Auseinandersetzung kam, die zum vorzeitigen Abbruch der Sitzung führte. Der Konflikt zeigt auch deutlich den Zusammenhang zwischen politischer und wirtschaftlicher Stabilität, denn die wirtschaftliche Krise war eine Reaktion der Kapitalmärkte auf die politische Krise. In den Griff bekam man sie durch die Heraufsetzung der Zinsen auf 144 Prozent. Die Regierung zeigte jedoch keine Bereitschaft, politische Verantwortung für die Wirtschaftskrise zu übernehmen. Verantwortung übernehmen mussten lediglich zwei Vertreter der Finanzbürokratie, hierunter der Leiter der Zentralbank.

Für große Verluste und Schäden sorgen die Miss- und Vetternwirtschaft, die die Staatskasse erheblich belastet, und auch die nach wie vor auftretenden Versuche, mit kriminellen Methoden den Fiskus anzuzapfen. Letzteres erfolgt beispielsweise in der Form, dass Unternehmer eine Steuerrückzahlung - teilweise in Millionenhöhe - für in Wirklichkeit nicht realisierte Exporte erhalten. Diese Förderung des Exports war in den achtziger Jahren von Turgut Özal eingeführt worden. Bereits in den darauf folgenden Jahren wurden Fälle bekannt und geahndet, bei denen aufgrund von fingierten Rechnungen für Exporte Steuerrückzahlungen geleistet worden waren. Die Beseitigung der Misswirtschaft gehört zu den zentralen Reformbereichen, weil nur hierdurch eine nachhaltige Gesundung der Staatsfinanzen möglich ist. In einem kürzlich in Davos veröffentlichten Bericht der "Price Waterhouse Coopers" wird das Ausmaß dieses Problems besonders deutlich. Dem Bericht zufolge nimmt die Türkei im Bereich der Misswirtschaft den Platz vier der Weltrangliste ein. Übertroffen wird sie hierbei nur von China, Russland und Indonesien .

Ein ebenfalls zu lösendes, zumindest zu dämpfendes strukturelles Problem ist das Nordwest-Südost-Gefälle in der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes mit seinen sozialen Implikationen. Eine der sozialen Folgen ist die Landflucht bzw. die Binnenmigration innerhalb der Türkei. Die geringen Erwerbs- und Verdienstmöglichkeiten in schwach entwickelten Gebieten haben in den vergangenen Jahrzehnten zu einer kontinuierlichen Abwanderung in die wirtschaftlich entwickelteren Regionen des Landes geführt. Dieses Gefälle wird besonders deutlich, wenn man es in Zahlen veranschaulicht. Während das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in der wirtschaftlich florierenden Marmara-Region bei 14 000 US-Dollar liegt und dadurch bereits heute dem EU-Standard standhält, liegt es im Ostteil des Landes bei rund 800, im Südosten sogar bei nur 600 US-Dollar im Jahr. Die Förderung des wirtschaftlichen Aufbaus schwach entwickelter Regionen ist ein dringendes Gebot für die Wirtschaftspolitik des Landes - dies nicht allein, um die Abwanderung in die Ballungsräume zu bremsen. Ein ebenfalls großes Gefälle besteht bei der Verteilung des Volkseinkommens auf die Bürger. Während auf die oberen 20 Prozent der Bevölkerung 57,4 Prozent des Volkseinkommens entfallen, müssen sich die unteren 20 Prozent mit nur 3,4 Prozent begnügen. Die ungerechte Einkommensverteilung führt nicht nur dazu, dass ein großer Teil der Bevölkerung um seine Existenzsicherung kämpfen muss, sie birgt auch sozialen Sprengstoff.

Ein weiteres Problem, das das soziale Gefälle erklärt, ist die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit, die inoffiziell bei über 20 Prozent der Erwerbsfähigen liegt. Nicht erfasst ist in dieser Zahl die verdeckte Arbeitslosigkeit, zu der allenfalls Schätzungen gemacht werden können. Eine exakte statistische Erfassung aller Arbeitslosen ist deshalb nicht möglich, weil es immer noch keine gesetzliche Arbeitslosenversicherung gibt. Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist nicht nur ein soziales Gebot staatlicher Wirtschaftspolitik, sondern auch eine entscheidende Maßnahme zur Erhöhung staatlicher Einnahmen, mit denen erforderliche Reformen wie der Aufbau eines sozialen Sicherungssystems ermöglicht werden. Hier sei als Beispiel eine bislang noch illusorisch erscheinende Arbeitslosenversicherung genannt.

Neben allen genannten Missständen und Krisen darf nicht vergessen werden, dass die Türkei in bestimmten Sektoren mittlerweile weltweit wettbewerbsfähig ist. Diese Entwicklung ist als positiver Indikator für eine langfristig wachstumsfähige Wirtschaft zu werten. Die türkische Industrie ist - mit einigen Ausnahmen - in nahezu allen Branchen vertreten und hat sich in einigen sogar zu einem erfolgreichen Exporteur entwickeln können (vgl. Tabelle 1). Die wohl bekanntesten Beispiele hierfür sind die Textilindustrie und die Bauwirtschaft. Seit Jahren exportiert die Türkei mit wachsendem Erfolg - auch in die EU - Textilien; zahlreiche Bauunternehmen sind im Ausland erfolgreich aktiv, insbesondere in Osteuropa, auch wenn der Markt hierfür in den vergangenen Jahren wieder abgeflaut ist. Weniger bekannt ist, dass die Türkei bereits seit Jahren "weiße Güter" wie Kühlschränke in den arabischen Raum exportiert.

Ein Sektor, der seit Jahren die wirtschaftliche Wachstumsrate prägt, ist der Tourismus. Hier hat die Türkei zwar 1999 aufgrund der Verhaftung Öcalans erhebliche Einbußen hinnehmen müssen, denn aus Angst vor Übergriffen durch PKK-Anhänger entschieden sich viele europäische Touristen für andere Zielländer oder stornierten bereits gebuchte Reisen. Eine Art Ausgleich für die Verluste brachte jedoch das folgende Jahr mit neuen Rekordzahlen. Zum ersten Mal reisten im Jahre 2000 mehr als zehn Millionen Touristen - insgesamt 10 412 000 - in die Türkei. Dies bedeutete eine Steigerungsrate von 39,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Unter den Besuchern befanden sich mit 2 276 000 deutschen Urlaubern 63,9 Prozent mehr als 1999. Auch für das Jahr 2001 ist eine Steigerung zu erwarten. Berechnungen des Zentrums für Türkeistudien zufolge dürften die Einnahmen im Jahr 2001 um weitere 27 Prozent steigen. Wachsende Einnahmen durch den Tourismus könnten einen wichtigen Beitrag dazu leisten, das Außenhandelsdefizit auszugleichen. Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass sich die türkische Wirtschaft trotz der Fortschritte auf einer Talfahrt befindet. Jedenfalls haben sich die Hoffnungen auf Export-Steigerungen durch die Zollunion nicht erfüllt. Das verheerende Erdbeben in der Marmara-Region am 27. August 1999 brachte einen zusätzlichen wirtschaftlichen Schaden in Höhe von 16 Milliarden Dollar mit sich .

Wirtschaftsauflagen des IWF

Bei der wirtschaftlichen Gesundung und der Sanierung der Staatsfinanzen spielt der Internationale Währungsfonds eine wichtige Rolle. Die Vergabe von Krediten des IWF an die Türkei wird mit Reformen verbunden. Das betraf etwa die Erhöhung des Rentenalters - eine Reform, die bereits vollzogen wurde. Das Gleiche gilt für die Privatisierung der staatlichen Betriebe. Der IWF gewährte der Türkei kurz vor dem EU-Gipfeltreffen in Helsinki am 10./11. Dezember 2000 einen Kredit in Höhe von zehn Milliarden US-Dollar, um dem Land aus der aktuellen Finanzkrise zu verhelfen. Die erste Tranche über 2,8 Milliarden US-Dollar wurde bereits am 21. Dezember freigegeben. Premierminister Ecevit kündigte ein umfangreiches Reformpaket an, das die Reform des Bankenwesens, Privatisierungsvorhaben und Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung umfasste, um die IWF-Auflagen zu erfüllen. Durch das Reformpaket soll wieder Geld in die Staatskassen fließen und das erschütterte Vertrauen in den Kapitalmarkt wiederhergestellt werden.

Auswirkungen der Zollunion

Seit Beginn der Zollunion, die am 1. Januar 1996 in Kraft trat, ist ein kontinuierliches Wachstum des Handelsvolumens zwischen der EU und der Türkei festzustellen. So stieg der Anteil der türkischen Exporte in die EU bei gewerblichen Erzeugnissen von 66 Prozent im Jahre 1990 auf 70 Prozent im Jahre 1999. Hinsichtlich der türkischen Exporte lässt sich infolge der Zollunion auch ein Wandel in der Struktur feststellen. Dies gilt insbesondere für den Textil- und Automobilsektor der türkischen Industrie.

Zu beachten ist, dass die Zollunion den EU-Mitgliedsstaaten mehr genützt hat als der Türkei. Seit Beginn der Zollunion ist ein durchschnittlicher Außenhandelsüberschuss zugunsten der EU-Mitgliedsstaaten in Höhe von 12 Milliarden Euro pro Jahr ermittelt worden, 60 Milliarden Euro insgesamt zwischen 1996 und 2000. Während bei den anderen EU-Beitrittskandidaten die Verluste im Außenhandel mit der EU zu einem großen Teil durch finanzielle und technische Unterstützungsmaßnahmen ausgeglichen werden, blieben der Türkei ähnliche Maßnahmen fast vollkommen vorenthalten. Die Industriekammer Istanbul (Istanbul Sanayi Odasi) hat für die EU einen Bericht vorbereitet, in dem diese Verluste durch die Zollunion aufgeführt werden .

Preisentwicklung

Das von der türkischen Regierung Ende 1999 eingeleitete Programm zur Sanierung des Staatshaushalts und zur Reform der Wirtschaft zeitigte Erfolge. So sanken die Zinssätze von ca. 130 Prozent Ende 1999 auf 35 Prozent bis Mitte 2000. Die Inflationsrate sollte nach den Vorgaben der Regierung bis Ende des Jahres auf 25 Prozent gesenkt werden. Auch wenn dieses Ziel verfehlt wurde, so ist es doch gelungen, den Monatswert der Inflationsrate im Dezember 2000 im Vergleich zum Vorjahreswert auf 39 Prozent abzusenken. Im Jahresdurchschnitt lag jedoch die Wachstumsrate des Verbraucherpreisindexes bei 52 Prozent. Im Vergleich zum Vorjahr (65,2 Prozent) liegt er somit deutlich niedriger (vgl. Tabelle 2). Mit der Privatisierung staatlicher Betriebe sowie der Einleitung wichtiger Schritte für Reformen im Agrarsektor wurden weitere Maßnahmen bei der Stabilisierung der makroökonomischen Lage vollzogen. Ein wichtiger Schritt zur Sanierung des Staatshaushaltes war die Reform des Sozialversicherungssystems im September 1999, durch die das Rentenalter bei Frauen auf 58 und bei Männern auf 60 Jahre angehoben wurde. Mit diesen Reformen wurden Auflagen des Internationalen Währungsfonds erfüllt. Ohne diese Reform wäre das Defizit des Sozialversicherungssystems im Jahre 2000 auf drei Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) gestiegen. Zur Deckung der Haushaltsdefizite bediente sich der Staat bis zur Einführung dieser Maßnahmen einer intensiven Verschuldungspolitik durch hochverzinsliche Anleihen. Zwischen 1991 und 1998 vergrößerte sich die Schere zwischen den Budgeteinnahmen und den Zinsausgaben um 24,2 Prozent auf 55 Prozent. Im Jahre 1999 wurden 64 Prozent der Budgeteinnahmen für Zinsrückzahlungen verwendet. Um das Haushaltsdefizit auszugleichen, bedient sich der Staat des Instruments der Innen- und auch Außenverschuldung. Die Außenverschuldung der Türkei beträgt mittlerweile 105 Milliarden Dollar, wobei es sich bei 76 Milliarden Dollar um mittel- bis langfristige, bei 29 Milliarden Dollar um kurzfristige Auslandskredite handelt.

Insgesamt kann man die türkische Wirtschaft als dynamisch bezeichnen. Auch wenn kürzere Krisensituationen auftreten, ist in der Längsschnittanalyse ein kontinuierliches Wachstum zu verzeichnen. Auf der anderen Seite ist die türkische Wirtschaft dadurch gekennzeichnet, dass das Außenhandelsdefizit immer größer wird. Gegenwärtig kann die Türkei mit den Exporteinnahmen höchstens die Hälfte der Importausgaben decken (vgl. Tabelle 1). Früher war die Türkei in der Lage, das entstandene Defizit durch Bauaufträge in Drittstaaten, Tourismuseinnahmen oder aber durch die Überweisungen der türkischen Arbeitskräfte aus dem Ausland zu decken. Besonders in den neunziger Jahren sind jedoch die Bauaufträge für die türkischen Firmen im Ausland rapide zurückgegangen. Hinzu kommt, dass die Überweisungen und Investitionen der Auslandstürken rückläufig sind. Eine Erklärung hierfür ist, dass sich viele Türken in den Aufenthaltsstaaten selbständig gemacht haben und folglich ihre Investitionen dort tätigen. Die Verstetigung des Aufenthaltes im Zuwanderungsland führt ferner dazu, dass sich das Anlegeverhalten, beispielsweise im Immobilienbereich, ändert .

Beziehungen zur EU und einzelnen Mitgliedstaaten

Der Helsinki-Beschluss bildete einen Wendepunkt in den Beziehungen zur EU und auch zu den einzelnen Mitgliedsstaaten der Union. Seit dem Luxemburger Gipfel war der politische Dialog mit der Union abgebrochen. Durch die Benennung der Türkei als Kandidatin für die Vollmitgliedschaft und nun jüngst die Unterzeichnung des Vertrages über die Beitrittspartnerschaft haben sich die Beziehungen erheblich intensiviert. Die offizielle Gleichstellung mit anderen Kandidaten hat zudem für ein Klima gesorgt, das einen ehrlichen Dialog ermöglicht, bei dem auch Kritikpunkte offen angesprochen werden können.

Auf dem Weg in die Vollmitgliedschaft gibt es jedoch auch in den Beziehungen zu einzelnen Mitgliedsstaaten Probleme. Unter diesen ist insbesondere der Nachbar Griechenland zu nennen, mit dem es im bilateralen Verhältnis und auch wegen der Zypern-Frage nach wie vor zu Reibungen kommen kann, die auch die Dimension der türkischen EU-Mitgliedschaft betreffen. Zunächst ist jedoch festzuhalten, dass es zu einem grundsätzlichen Wandel gekommen ist, als Griechenland die Benennung der Türkei als Beitrittskandidat für die EU auf dem Gipfel von Helsinki nicht mehr zu verhindern suchte. Danach kam es im bilateralen Verhältnis sogar zu einer Entspannung und einem Dialog, der auch Formen der Kooperation einschloss. Bereits im Vorfeld des Gipfels von Helsinki trat in der griechischen Politik gegenüber der Türkei ein Wandel ein. Hintergrund war die so genannte Öcalan-Affäre, die Verstrickung griechischer Politiker - hierunter auch Außenminister Pangalos - bei der Flucht des PKK-Führers nach Kenia. Nachdem dies in der Öffentlichkeit bekannt wurde, kam es zu einer Regierungskrise in Griechenland, die zur Demission einiger Minister führte. Der Nachfolger im Amt des Außenministers, Papandreou, leitete einen Wandel ein. Bereits im Sommer 1999 begannen erste Verhandlungen über Kooperation, auch hinsichtlich der Bekämpfung terroristischer Aktivitäten. Nach erfolgreichem Verlauf dieser Vorverhandlungen besuchte Papandreou im Januar 2000 die Türkei, um die vier bilateralen Kooperationsverträge zu signieren. Die Kooperation umfasst die gemeinsame Bekämpfung von Kriminalität - insbesondere des Terrorismus, des Rauschgifthandels und des Menschenschmuggels - sowie die Förderung des Tourismus, ferner die Förderung und den Schutz von Investitionen. Auch wenn der Entspannungs- und Annäherungskurs zwischenzeitlich Dämpfer erhielt, dürfte er sich in der Zukunft fortsetzen.

Die Bemühungen um eine Vertiefung der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU mit konkret realisierbaren Reformen und zu lösenden Problemen werden konterkariert von Bestrebungen, die Verschwörungstheorien erneute Nahrung geben, die EU arbeite gegen die Interessen der Türkei. Das aktuelle Beispiel hierfür sind die Bestrebungen der armenischen Lobby, die Vertreibung und einzelnen Massaker an den Armeniern im Ersten Weltkrieg von nationalen Parlamenten - insbesondere in Europa und auch im Europäischen Parlament - als Völkermord anerkennen zu lassen. Es ist sicherlich richtig, dass dies ein wunder Punkt in der türkischen Geschichte ist und hier noch einiges nicht geklärt ist, und es wäre sehr zu begrüßen, wenn dieses Thema in der Türkei enttabuisiert würde. Dies sollte aber vorrangig die Aufgabe von Historikern sein, die sich fachkompetent mit dieser Thematik befassen. Problematisch ist es jedoch, lang zurückliegende vermeintliche oder tatsächliche Gewaltverbrechen durch Parlamente anderer Staaten verurteilen lassen zu wollen, wie dies zuletzt am 18. Januar 2001 durch die französische Nationalversammlung erfolgt ist - zumal, wenn die betreffenden Staaten Gewaltverbrechen in ihrer eigenen Geschichte bisher nicht aufgearbeitet haben. Initiativen dieser Art ziehen keine politischen Konsequenzen nach sich, sorgen jedoch für politische Missstimmung in den bilateralen Beziehungen.

Einstellung der Bundesregierung gegenüber der türkischen EU- Mitgliedschaft

"Das unbestrittene Interesse an einer Einbindung der Türkei in die europäischen Strukturen gebietet es, der Türkei einen starken Anreiz zu bieten, sich dauerhaft und unwiderruflich auf Europa auszurichten. Dies kann von der Türkei nur erwartet werden, wenn wir ihr die gleiche faire Chance wie den östlichen Nachbarn bieten, sich für eine EU-Mitgliedschaft zu qualifizieren." So formulierte Ludger Volmer, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, die Haltung der neuen Bundesregierung im April 2000 während der Potsdamer Frühjahrsgespräche 2000 hinsichtlich der EU-Mitgliedschaft der Türkei. In seiner Rede hob der Staatsminister hervor, dass die EU als eine politische Wertegemeinschaft und nicht als Religionsgemeinschaft - die sie ohnehin nie gewesen war - zu sehen sei. Bei der Benennung als Kandidat für die Vollmitgliedschaft auf dem Helsinki-Gipfel hatte die neue Türkei-Politik der Bundesregierung eine wichtige, wenn nicht ausschlaggebende Rolle gespielt. Während der Amtszeit des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl verstärkte sich in der Türkei die Wahrnehmung, dass es neben Griechenland insbesondere die damalige Bundesregierung war, welche die Türkei wegen zu großer kultureller bzw. religiöser Differenzen der Europäischen Union fern zu halten versuchte. Gleich nach dem Regierungswechsel in der Bundesrepublik Deutschland 1998 leitete die neue Schröder-Fischer-Regierung der Türkei gegenüber eine andere Politik ein. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 hatte sich die Bundesregierung besonders dafür eingesetzt, dass die Vorbehalte Griechenlands gegenüber der Türkei abgebaut werden.

Der Wandel der deutschen Politik gegenüber der Türkei, der sich auf die Politik anderer Länder ebenfalls positiv ausgewirkt hat, ist auch vor dem Hintergrund der Anwesenheit türkischer Migranten zu sehen. In den Ländern der Europäischen Union leben derzeit 3,4 Millionen türkischstämmige Migranten, davon 2,4 Millionen in Deutschland. Unter ihnen steigt die Neigung, die Staatsbürgerschaft des Aufenthaltslandes anzunehmen . In Deutschland müsste nach Schätzungen des Zentrums für Türkeistudien bereits Ende 2000 die Zahl der eingebürgerten Deutschen türkischer Herkunft rund 500 000 erreicht haben. Allein 1999 nahmen 103 900 Türken die deutsche Staatsbürgerschaft an. Für das Jahr 2000, zu dem bislang keine offiziellen Zahlen vorliegen, ist mit einem weiteren Anstieg zu rechnen. Zählt man die Einbürgerungen in anderen EU-Staaten wie Belgien, die Niederlande, Frankreich und Österreich - EU-Staaten, in denen ebenfalls in größerer Zahl türkische Migranten leben - hinzu, kommt man auf eine Größenordnung von über 700 000 türkischen Migranten, die bereits jetzt die Staatsangehörigkeit eines jeweiligen EU-Staates angenommen haben und somit auch automatisch EU-Bürger geworden sind.

Ein weiterer Punkt, der die Diskussion über eine türkische Mitgliedschaft in der EU förderte, waren die Entwicklungen auf dem Balkan. Bei den Krisen in Bosnien, aber auch im Kosovo, stellte man fest, dass die Türkei als Regionalmacht in der Region eine wichtige Rolle spielt. Als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches leben in großer Zahl balkanstämmige Bevölkerungsgruppen in der Türkei. Genannt seien hier exemplarisch Bosnier und Albaner. Umgekehrt leben in den verschiedenen Balkanstaaten Türken bzw. turkophone Bevölkerungsgruppen, darüber hinaus weitere, die sich der Türkei aufgrund des gemeinsamen historischen Erbes verbunden fühlen. Das Gleiche gilt für die Länder des Kaukasus. Aus diesem Grunde legt die EU auch hinsichtlich ihrer Außen- und Sicherheitspolitik Wert auf die Türkei. Sicherheitspolitisch ist die Türkei aufgrund der NATO-Mitgliedschaft von Bedeutung. Beim Aufbau einer eigenen Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann die EU hierauf zurückgreifen. Diese geostrategische Bedeutung der Türkei hob Außenminister Fischer bei seiner Rede vor dem Bundestag am 3. Dezember 1999 hervor: "Auch im Kaukasus und in Zentralasien wird die Stabilität der Türkei eine wichtige Rolle spielen. Sie hängt aber heute nicht von den militärischen Fähigkeiten der Türkei, sondern von der inneren Stabilität des türkischen Staates und der Demokratie ab."

Die Türkei in ihrer Region - Probleme und Chancen

Aufgrund ihrer geographischen Lage verfügt die Türkei über Potenziale, die auch im Hinblick auf die EU von Bedeutung sind. Die historisch bedingte Rolle der Türkei auf dem Balkan wurde bereits in ihrer sicherheitspolitischen Dimension genannt. Auch hinsichtlich des Nahost-Friedensprozesses, der erneut ins Wanken geraten ist, kommt der Türkei eine wichtige strategische Rolle zu. So bildet die Türkei ein Gegengewicht zum Iran, einem Nachbarn, zu dem die Beziehungen seit Jahren belastet sind. Grund hierfür ist die Unterstützung der PKK sowie die Ausbildung von Militanten der radikal-islamischen Hizbullah. Seit Syrien den PKK-Chef Öcalan auf Druck der Türkei außer Landes verwiesen hat, haben sich die Beziehungen zu diesem Staat teilweise normalisiert. So hat der neue Staatspräsident Sezer dem Land bereits einen offiziellen Besuch abgestattet. Auch die Beziehungen zum Irak kehren langsam zur Normalität zurück. Nachdem die Türkei unter Hinnahme immenser wirtschaftlicher Verluste über Jahre den UN-Boykott einhielt, wurde jüngst die türkische Botschaft in Bagdad wieder eröffnet und der Grenzhandel wieder aufgenommen.

Bezogen auf den Kaukasus und Zentralasien nimmt die Türkei eine Art Brückenfunktion ein. Dies gilt etwa für die wirtschaftliche Kooperation mit diesen Regionen. Die Türkei hat zu einigen ihrer Nachbarn sehr gute Beziehungen aufbauen können, bei anderen sind sie problembehaftet. Gute Beziehungen konnten zu Georgien hergestellt werden. Zwischen beiden Staaten besteht ein reger wirtschaftlicher Verkehr. In den Beziehungen zu Aserbaidschan, auf die hoffnungsvoll geblickt wurde, ist in letzter Zeit eine Ernüchterung eingetreten. Grund hierfür ist auch ein gestiegenes Misstrauen gegenüber dem Staatspräsidenten Aliev. Zum Nachbarn Armenien konnten bislang keine ordentlichen Beziehungen aufgebaut werden. Grund hierfür ist die Besetzung aserbaidschanischen Territoriums durch Armenien. Die Türkei macht zur Voraussetzung für den Aufbau diplomatischer Beziehungen den Rückzug aus den besetzten Gebieten und eine Lösung der Karabagh-Frage. Obwohl es keine regulären Beziehungen zwischen beiden Staaten gibt und auch kein Grenzübergang geöffnet wurde, befinden sich in der Türkei 30 000 Armenier, die sich als Arbeitsmigranten im Land aufhalten. Handel zwischen beiden Ländern findet in kleinerem Umfang statt, jedoch über andere Staaten.

Die Beziehungen zum Nachbarn im Westen haben sich seit 1999 grundlegend verändert. Auch wenn die Lösung der Kernprobleme bislang nicht angegangen werden konnte, hat sich die griechische Regierung in ihrer Politik gegenüber der Türkei umorientiert. Am deutlichsten wird dies bei der Zustimmung zur Benennung der Türkei als Beitrittskandidat für die Vollmitgliedschaft in der EU. Die Lösung der Probleme - hierunter auch das in eine Sackgasse geratene Zypernproblem - wird jedoch vor diesem Hintergrund immer dringlicher. Auch das Verhältnis zu Bulgarien hat sich nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes deutlich verbessert. Die Frage der Behandlung der türkischen Minderheit in Bulgarien stellt in den bilateralen Beziehungen kein Problem mehr dar. Es sind sogar gemeinsame Entwicklungsprojekte initiiert worden, wie ein Staudammprojekt in Südbulgarien zur Energiegewinnung.

Schlussfolgerungen

Die Türkei befindet sich seit dem Helsinki-Beschluss in einer Phase des Umbruchs und der Neuorientierung. Auf der einen Seite ist die türkische Tagespolitik geprägt durch Bestechungen, Bankenskandale und wirtschaftliche Engpässe, auf der anderen Seite wird der Reform- und Erneuerungsprozess fortgesetzt. Dies gilt im Bereich des politischen Systems wie auch im Bereich der Justiz, u. a. auch bei der Einhaltung der Menschenrechte. Beeinträchtigt werden Reformbemühungen von Terrorakten extremistischer Organisationen. Der Innenminister der Türkei, Tantan, setzt zielstrebig seinen Kampf gegen extremistische Organisationen wie die Hizbullah und gegen die organisierte Kriminalität fort.

Nach den Krisenerscheinungen der vergangenen zwei Jahre werden für die wirtschaftliche Entwicklung positive Prognosen gemacht. In der Tourismusbranche werden in diesem Jahr höhere Einnahmen erwartet als im vergangenen Jahr. Im Außenhandel geht man ebenfalls von einer positiven Entwicklung aus. So erhoffen verschiedene Branchen der Industrie, hierunter auch der türkische Automobilbau, dass innerhalb der EU neue Absatzmärkte erschlossen werden können. Die Autoproduktion konnte die Türkei innerhalb der letzten Jahre von jährlich 20 000 auf 600 000 erhöhen. Nur die Erwartungen im Textilbereich, nämlich dass die Türkei nach Eintritt der Zollunion einen Exportboom erleben werde, sind mittlerweile aufgegeben worden. Auch das erwartete Vertrauen in die türkische Wirtschaft durch Ausländer ist in diesem Fall nicht in Erfüllung gegangen. Ein Grund hierfür ist die hohe Inflationsrate, die man immer noch nicht in den Griff bekommen hat.

Dennoch ist man hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung insgesamt positiv eingestellt. So wurde auf dem Wirtschaftsgipfel in Davos die türkische Wirtschaft als eine der zukunftsträchtigsten bezeichnet. Fünf Punkte wurden hierbei als ausschlaggebend benannt: Für eine positive Entwicklung spreche die demographische Struktur des Landes. Die junge Bevölkerung habe zudem im Bereich der Bildung und Ausbildung große Fortschritte zu verzeichnen. Als zweiter Punkt wird der Arbeitsfaktor genannt. Die Lohnkosten in der Türkei sind im Vergleich zu denen der anderen zwölf EU-Beitrittskandidaten noch immer niedriger. Der dritte Punkt bezieht sich auf die Zollunion, durch den sich die Exportmöglichkeiten der Türkei verbessert haben. Mit 65 Millionen Einwohnern bildet die Türkei - viertens - unter den 13 Kandidatenstaaten den größten Absatzmarkt. Als fünfter Punkt wird die Brückenfunktion der Türkei bei der Erschließung neuer Märkte in Asien, im Kaukasus und im Nahen Osten genannt. Analysen des Internationalen Währungsfonds zufolge erwartet man für die Türkei in den nächsten zehn Jahren eine durchschnittliche Wachstumsrate von fünf Prozent. Das bedeutet im Vergleich zum EU-Durchschnitt eine doppelt so hohe wirtschaftliche Wachstumsrate.

Durch die Beitrittspartnerschaft, die auf dem Gipfel in Nizza unterzeichnet wurde und am 8. März dieses Jahres in Kraft getreten ist, wird der Heranführungsprozess der Türkei an die EU neuen Schwung bekommen. Die Rahmenbedingungen hierfür durch die Einrichtung des EU-Generalsekretariats und die Vorbereitung des nationalen Programms zur Heranführung sind gute Voraussetzungen, den Reformprozess nunmehr im politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Bereich forciert voranzutreiben. Die innere Dynamik des Landes spricht dafür, denn auch die Zivilgesellschaft - hier insbesondere die Verbände - unterstützt den Annäherungsprozess und drängt deshalb verstärkt auf Reformen. Den Verbänden kommt eine wichtige Rolle dabei zu, Druck auf die politischen Entscheidungsträger auszuüben, damit der Reformprozess vorangetrieben wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Cigvdem Akkaya/Yasemin Özbek/Faruk Sen, Länderbericht Türkei, Darmstadt 1998, S. 91.

  2. Vgl. ebd., S. 92.

  3. Vgl. Neuer Abschnitt im Erweiterungsprozess der EU, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 12. 1999.

  4. Vgl. Avrupali iyimser, biz karamsar (Europäer zuversichtlich, wir pessimistisch), in: Hürriyet vom 30. 10. 2000.

  5. Vgl. AB yolunda kritik imza (Kritische Unterschrift auf dem Weg in die EU), in: Türkiye vom 17. 8. 2000.

  6. Vgl. Süremiz kisa, isimiz çok (Wir haben wenig Zeit und viel zu tun), in: Dabah vom 9. 11. 2000.

  7. Vgl. Ankaras vorsichtige Reaktion, in: Der Tagesspiegel vom 6. 12. 2000.

  8. Vgl. Türkiye istedigvini aldi (Die Türkei hat bekommen, was sie wollte), in: Hürriyet vom 5. 12. 2000.

  9. Vgl. hierzu Zentrum für Türkeistudien (Hrsg.), Das ethnische und religiöse Mosaik der Türkei und seine Reflexionen auf Deutschland, Münster 1998.

  10. Vgl. Davos'ta mini zirve (Mini-Gipfel in Davos), in: Sabah vom 29. 1. 2001.

  11. Vgl. Rainer Hermann, Die Türkei will nicht um jeden Preis in die EU, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 1. 2001.

  12. Süleyman Demirel spielte seit 1964 eine wichtige Rolle in der Politik. Im Laufe seiner politischen Karriere übte er mehrere Male das Amt des Ministerpräsidenten aus. Nach dem von den Militärs verhängten Politikverbot gelang ihm Anfang der neunziger Jahre ein Comeback, und er leitete die Koalitionsregierung der Partei des Rechten Weges mit der der sozialdemokratischen Volkspartei. Nach dem Tod Özals (1993) wurde er zum Staatspräsidenten gewählt.

  13. Vgl. Cankaya için 330 oy (330 Stimmen für Cankaya), in: Milliyet vom 6. 5. 2000.

  14. Vgl. Böylesi Cumhuriyet tarihinde yasanmadi (So etwas hat es in der Geschichte der Republik noch nie gegeben), in: Hürriyet vom 11. 8. 2000. Die "Unterschriftenkrise" wurde in den türkischen Medien ausführlichst thematisiert.

  15. Vgl. Hükümete sogvuk dus (Kalte Dusche für die Regierung), in: Sabah vom 2. 10. 2000.

  16. Vgl. Söz Meclis' in (Das Parlament hat nun das Wort), in: Türkiye vom 18. 12. 2000.

  17. Vgl. die Angaben des hierfür zuständigen Direktoriums für Privatisierung, abrufbar unter der Adresse http://oib.gov.tr/1985-1998-2.htm.

  18. Vgl. die Liste des Direktoriums unter http://www.oib.gov.tr/portfoy.htm.

  19. Vgl. Özellestirme miladi (Zeitenwende bei der Privatisierung), in: Star vom 14. 12. 2000.

  20. Als Beispiel für eine erfolgreiche Erneuerung wird Mexiko genannt. Vgl. Stephan-Götz Richter, Ankara kann von der Tequila-Krise viel lernen, in: Financial Times Deutschland vom 21. 12. 2000.

  21. Vgl. Türkiye yolsuzluk liginde dünya 4'üncüsü oldu (Die Türkei ist in der Liga der Misswirtschaft auf Platz 4 der Weltrangliste), in: Hürriyet vom 30. 1. 2001.

  22. Vgl. Faruk Sen, Die Auswirkungen des Erdbebens in der Westtürkei auf die türkische Wirtschaft, in: Wirtschaftsforum Nah- und Mittelost, (1999) 6, S. 5 u. 24.

  23. Vgl. 5 yilda 60 milyar euro kaybettik (In 5 Jahren haben wir 60 Milliarden Euro verloren), in: Finansal Forum vom 28. 1. 2001.

  24. Mittlerweile haben bereits 17 Prozent der türkischen Migranten in Deutschland Immobilien erworben. Vgl. Martina Sauer, Die Lebens- und Wohnsituation türkischstämmiger Migranten in Deutschland: Tendenzen der Etablierung und Eigentumsbildung, in: vhw Forum Wohneigentum, (2000) 9, S. 355-357 ff.

  25. Ludger Volmer, Vor einer neuen Türkeipolitik? Die deutsche Außenpolitik vor einer möglichen EU-Mitgliedschaft der Türkei, in: Zeitschrift für Türkeistudien, (2000) 1, S. 95-102, hier S. 95.

  26. Die Neigung türkischer Migranten, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, wird durch empirische Daten untermauert. So äußerten bei einer Befragung in Nordrhein-Westfalen 30 Prozent der befragten Personen, dass sie beabsichtigen, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen. Weitere 14 Prozent überlegen sich, einen Antrag zu stellen, während 8 Prozent dies bereits getan haben. Vgl. Zentrum für Türkeistudien, Die Lebenssituation und Partizipation türkischer Migranten in Nordrhein-Westfalen. Ergebnisse der zweiten Mehrthemenbefragung, Juni 2000, Essen, August 2000 (wird demnächst als Buch veröffentlicht).

Prof. Dr. rer. pol., geb. 1948; seit 1985 Direktor des Zentrums für Türkeistudien, Institut an der Universität GH Essen.

Anschrift: Zentrum für Türkeistudien, Altendorfer Str. 3, 45127 Essen.
E-Mail: sen.zft@uni-essen.de

Veröffentlichungen u. a.: Draußen vor der Tür? Die Türkei, Deutschland und Europa, in: Internationale Politik, (1998) 1; (Hrsg. zus. mit Andreas Goldberg) Deutsche Türken - Türkische Deutsche. Die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft, Münster 1999.